Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Schnee“

ROLF DIETER BRINKMANN

Schnee

Schnee: wer
dieses Wort zu Ende
denken könnte
bis dahin
wo es sich auflöst
und wieder zu Wasser wird

das die Wege aufweicht
und den Himmel in
einer schwarzen

blanken Pfütze
spiegelt, als wär er
aus nichtrostendem Stahl

und bliebe
unverändert blau.

nach 1970

aus: Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2, Rowohlt Verlag, Reinbek 1975

 

Konnotation

Nach seinem jähen Unfalltod im Alter von 35 Jahren stilisierte man den Dichter Rolf Dieter Brinkmann (1940–1975) zum letzten Desperado und poète maudit der deutschen Literatur. Sein letzter Gedichtband Westwärts 1 & 2, der wenige Tage nach seinem Londoner Unfalltod erschien, wurde zur Bibel einer antibürgerlichen Literatur-Community.
Momentaufnahmen aus Städten und Landschaften, Reflexionen über das Schreiben, alogisch-assoziative Fügungen und literarische Zitate werden in den Gedichten zu einer neuen offenen Form verknüpft. Keineswegs handelt es sich bei den Westwärts-Gedichten durchweg um „Collagen des alltäglichen langsamen Irrsinns“, wie Brinkmann selbst sie charakterisierte, sondern auch um zarte, kristalline Augenblicke einer Natur-Offenbarung oder einer sprachlichen Erleuchtung. Das Gedicht „Schnee“ spricht von der Verflüssigung und Verwandlung eines Worts und seiner Ankunft einem anderen Bereich der Sehnsucht: im „Blau“ des Himmels.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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