Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht „Fragment“

ANNETTE VON DROSTE-HÜLSHOFF

Fragment

Alles still ringsum –
Die Zweige ruhen, die Vögel sind stumm.
Wie ein Schiff, das im vollen Gewässer brennt,
Und das die Windsbraut jagt,
So durch den Azur die Sonne rennt
Und immer flammender tagt.

Natur schläft – ihr Odem steht,
Ihre grünen Locken hangen schwer,
Nur auf und nieder ihr Pulsschlag geht
Ungehemmt im heiligen Meer.
Jedes Räupchen sucht des Blattes Hülle,
Jeden Käfer nimmt sein Grübchen auf;
Nur das Meer liegt frei in seiner Fülle
Und blickt zum Firmament hinauf.

1841/42

 

Konnotation

In einen kleinen Gedicht-Zyklus über „die Elemente“, der 1841/42 entstanden ist, hat Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) auch eine Betrachtung über das Wasser aufgenommen. Aus diesem Gedicht hat dann später der große konservative Philologe und Übersetzer Rudolf Borchardt für seine epochale Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie (1926) ein „Fragment“ herauspräpariert.
Dieses von Borchardt für seine Zwecke isolierte „Fragment“ der Droste zeugt noch von inniger Naturfrömmigkeit, behauptet noch jenen göttlichen Status der Natur, der in der Dichtung der Droste über weite Strecken in Frage gestellt wird. Die Natur in Droste-Hülshoffs „Heidebildern“ (1844) erscheint aber gerade nicht harmonisch und in symbiotischer Verschlungenheit, sondern als chaotisch-unkontrollierbare Materie. Der „Schlaf“ der Natur ist im „Fragment“ aber noch ein erwartungsvoller, man erwartet die Offenbarung größerer Geheimnisse.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00