Christa Reinigs Gedicht „am geländer“

CHRISTA REINIG

am geländer

gesetzt den fall ich tät es eben
und plötzlich da mein leben fällt
begegnet mir ein zweites leben
und wirft mich wieder in die welt

vielleicht ist gar kein toter tot
und bleibt ein arbeiter und esser
und schindet sich ums totenbrot
und meint wer atmet hat es besser

vielleicht will totsein tapferkeit
und heute kann mich nichts bewegen
die hände frei von allem streit
um einen bauch von brei zu legen

1960

aus: Christa Reinig: Sämtliche Gedichte. Eremiten-Presse, Düsseldorf 1984

 

Konnotation

Mit ihrem kompromisslosen Eigensinn hat sich die 1926 geborene Christa Reinig allen literarischen Dogmen in Ost und West verweigert. In ihren Gedichten verwickelt sie ihre Figuren meist in Grenzsituationen, in denen der Schrecken ganz nah an das lyrische Ich herantritt. Im Fall ihres 1960 erstmals veröffentlichten Gedichts scheint das Ich zum Suizid fest entschlossen und bereitet sich „am Geländer“ (einer Brücke?) auf den großen Sprung vor. Dann aber gerät die scheinbar unwiderrufliche Entscheidung ins Wanken.
„Mein Leben“, so Christa Reinig in einem Interview, „ist gepflastert mit Ideologien, durch die ich hindurch muss wie durch Masern“. Nach ihrer Übersiedlung in den Westen 1964 waren es kurzzeitig der Buddhismus und die Idee der Wiedergeburt, die ihr Denken prägten. Das Gedicht spielt jedenfalls mit dem Gedanken eines „zweiten Lebens“ und mit der Mühe, die eine Existenz als Toter bereiten kann.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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