Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Tod der Geliebten“

RAINER MARIA RILKE

Der Tod der Geliebten

Er wusste nur vom Tod, was alle wissen:
dass er uns nimmt und in das Stumme stößt.
Als aber sie, nicht von ihm fortgerissen, nein,
leis aus seinen Augen ausgelöst,

hinüberglitt zu unbekannten Schatten,
und als er fühlte, dass sie drüben nun
wie einen Mond ihr Mädchenlächeln hatten
und ihre Weise wohl zu tun:

da wurden ihm die Toten so bekannt,
als wäre er durch sie mit einem jeden
ganz nah verwandt; er ließ die andern reden

und glaubte nicht und nannte jenes Land
das gut gelegene, das immersüße –
Und tastete es ab für ihre Füße.

1907

 

Konnotation

In seinem im Spätsommer 1907 entstandenen Sonett hat Rainer Maria Rilke (1875–1926) den antiken Mythos von Orpheus und Eurydike neu erzählt. Schon einmal, 1904, hatte Rilke in einem Langgedicht diesen tragischen Liebesverlust in suggestiven Bildern aufgerufen. Dabei interessierte er sich weit mehr für die Kräfte, die Eurydike vom Leben wegzogen, als für jene, die sie wieder dorthin zurückbringen könnten. Und auch das Sonett hat etwas Todessüchtiges. Es verleiht der Unterwelt paradiesische Züge, nimmt ihr jeden Schrecken.
Die Vermutung, dass dieses Sonett – trotz fehlender topografischer Details und sprechender Namen – auf den Orpheus-Mythos referiert, wird durch den vierten Vers der ersten Strophe gestärkt, in dem es heißt, dass sich die Geliebte „leis aus seinen Augen auslöst“. Es war ja der Blick des mythischen Sängers, das verbotene Sich Umwenden nach Eurydike, das deren Gang in das Totenreich besiegelte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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