Alexander Xaver Gwerders Gedicht „Zwielicht“

ALEXANDER XAVER GWERDER

Zwielicht

Hörtest du mich nicht dort,
wo ich jüngst dich rief?
Es war ein seltsamer Ort –
Ich glaube, ich schlief.

Bist du denn schon tot?
Und hast nicht mir gesagt,
von wem du bedroht
und was in dir gefragt?

Nein du! Du musst leben,
viele Tage noch – hör:
Wem sollte ich denn geben,
wenn ich dich verlör?

Ich weiss zwar, wir träfen
uns dann anderswo –
Ach, deine weissen Schläfen
erschreckten mich so.

Hörst du mich denn dort nicht,
wo ich jüngst dich rief…
War es denn nicht dein Gesicht,
das ich küsste, als ich schlief?

1951/52

aus: Alexander Xaver Gwerder: Gesammelte Werke und ausgewählte Briefe. Bd. I: Nach Mitternacht. Lyrik. Limmat Verlag, Zürich 1998

 

Konnotation

Der Schweizer Dichter Alexander Xaver Gwerder (1923–1952) gehörte zur Gilde der Unglücklichen, denen auf Erden nicht zu helfen war. Seine Gedichte, geschult an den Melancholien Gottfried Benns (1886–1956), hatten früh etwas Todverfallenes. Vor den beruflichen und familiären Zwängen aus Zürich ins südfranzösische Arles geflohen, öffneten Gwerder und seine Geliebte Salomé Dürrenberger sich am 13. September 1952 gegenseitig die Pulsadern. Während die junge Salomé gerettet wird, stirbt Gwerder am 14. September im Armenkrankenhaus Hotel Dieu.
Im Gedicht „Zwielicht“, entstanden nach 1951, ist die Zukunft noch nicht endgültig verdüstert. Das „Zwielicht“ bezeichnet ja wörtlich einen Übergang bzw. eine unklare Zone zwischen Licht und Schatten. Das Gedicht ist nun ein letzter hilfloser Versuch, am Diesseits festzuhalten und sich in der Liebe und im Leben zu verankern. In Traumbildern ruft das lyrische Subjekt die Gestalt der Geliebten auf, die schon den Weg ins Totenreich anzutreten scheint. Aber noch artikuliert sich ein Lebenswille: „Du musst leben, / viele Tage noch…“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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