Gerhard Rühms Gedicht „ich beginne zu rasen“

GERHARD RÜHM

ich beginne zu rasen

ich beginne zu rasen
ich beisse dich roh
ich werde dich hassen
denn ich liebe dich so

ich werde dich packen
und halte dich fest
deine beine zerhacken
damit du nie mehr gehst

und bleibst du zu lange
dann stoss ich dich fort
klatsch dir eins auf die wange
und sage kein wort

ich werde dich hassen
denn ich liebe dich so
du musst mich verlassen
denn ich mach dich nicht froh

1961

aus: Gerhard Rühm: Geschlechterdings. Chansons. Romanzen. Gedichte. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1990

 

Konnotation

Dass sich Liebe und Gewalt in einer unheilvollen Symbiose verbinden können, demonstriert das kleine Chanson des so vielseitigen experimentellen Poeten Gerhard Rühm (geb. 1930). In schlichten Kreuzreimen illustriert Rühm das alte Spiel der Hass-Liebe, das sich so lange fortsetzt, bis die Trennung das emotionelle und auch sehr handgreifliche Gemetzel beendet.
Um seinem traditionell gereimten Chanson aus dem Jahr 1961 jede Gefälligkeit zu nehmen, hat es Rühm wie auch in den übrigen Texten aus dieser Periode mit reichlich makabrem Stoff aufgeladen. Denn ein Gedicht ohne eine markante Provokation oder ohne einen experimentellen Seitensprung kann der einstige Aktivist der Wiener Gruppe nicht akzeptieren. So können hier die Heineschen Volksliedstrophen nicht genutzt werden, ohne sie mit unversöhnlichen Pointen auszustatten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00