Günter Eichs Gedicht „Wo ich wohne“

GÜNTER EICH

Wo ich wohne

Als ich das Fenster öffnete,
schwammen Fische ins Zimmer,
Heringe. Es schien
eben ein Schwarm vorüberzuziehen.
Auch zwischen den Birnbäumen spielten sie.
Die meisten aber
hielten sich noch im Wald,
über den Schonungen und den Kiesgruben.
Sie sind lästig. Lästiger aber sind noch die Matrosen
(auch höhere Ränge, Steuerleute, Kapitäne),
die vielfach ans offene Fenster kommen
und um Feuer bitten für ihren schlechten Tabak.

Ich will ausziehen.

1955

aus: Günter Eich: Sämtliche Gedichte. Auf der Grundlage der Ausgabe von A. Vieregg hrsg. v. J. Drews. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2007

 

Konnotation

In einer seiner raren Selbstauskünfte hat Günter Eich (1907–1972) dieses Gedicht eine „skurrile Vision“ genannt. Dass seinem lyrischen Ich beim Öffnen des Fensters unversehens Fische entgegen schwimmen, geht – so die Selbstauskunft, der man nicht vollends trauen kann – auf ein vorgeblich reales Erlebnis zurück. An seinem Wohnort, so Eich, habe er bei Fönwetter gelegentlich eine Art „gläserne Klarheit“ verspürt, ein Gefühl, man sei „unter Wasser“, wie in einem Kristall.
Mit heiterer Lakonie wird diese irdisch-nautische Begegnung mit den Fischen durchgespielt. Man darf auch nicht davon absehen, dass wenige Jahre nach der Niederschrift des Gedichts – es entstand 1955 – Eichs Ehefrau Ilse Aichinger (geb.1921) eine Erzählung ebenfalls mit dem Titel „Wo ich wohne“ versehen hat. Bei Aichinger findet der Erzähler seine Wohnung nicht mehr am üblichen Platz. Da niemandem aber etwas aufgefallen ist, muss der Erzähler annehmen, dass es die „Verwandlung“ seines Wohnorts gar nicht gibt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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