Alfred Brendels Gedicht „Schlimmer hätte es kaum kommen können…“

ALFRED BRENDEL

Schlimmer hätte es kaum kommen können
Erst verschwanden die Silberlöffel
Dann fiel das Familienbild von der Wand
Dann regnete es durchs Dach auf den Großvater
Dann vergaß Amalie sich mit dem Chauffeur
Dann fanden wir die Klavierlehrerin
stocksteif unterm Konzertflügel
Dann ruckelte das Auto und blieb stehen
Die Spielzeugeisenbahn entgleiste
Die Hühner machten den letzten Mucks
Alle Glühbirnen zerplatzten
Jemand fing an Posaune zu blasen
Das ging nun wirklich zu weit

nach 1990

aus: Alfred Brendel: Spiegelbild und schwarzer Spuk. Gedichte. Carl Hanser Verlag, München 2003

 

Konnotation

Als virtuoser Pianist ist Alfred Brendel (geb. 1931) ein Fanatiker der kompromisslosen Werktreue. Als Dichter präsentiert er sich dagegen als ein Liebhaber der Anarchie, des vorsätzlichen Formverstoßes und des frivolen Sarkasmus. Sein bevorzugtes Mittel ist die Parodie, der Gegengesang, der als Wortspiel, Kalauer, abgestürztes Lautgedicht oder kauzige Anekdote auftreten kann.
Brendels Gedichte sind bevölkert von Dämonen, Fabeltieren und diversen „Klavierteufeln“, deren Unheimlichkeit nur noch von ihrer Komik überboten wird. Das heiter-apokalyptische Szenario, das er hier als eine Folge „schlimmer“ Ereignisse darbietet, ist ein später Nachhall der ironischen „Weltende“-Dichtung eines Jakob van Hoddis (1887–1942). Die kleinen Unfälle und Ungeschicke, die in das Familienleben einbrechen, provozieren erst dann größere Unsicherheit, als Posaunen-Klänge ertönen – als fürchte der lyrische Chronist, dass wie bei den biblischen „Posaunen von Jericho“ gleich die Familien-Idylle einstürzen könnte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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