Norbert Hummelts Gedicht „der mensch“

NORBERT HUMMELT

der mensch

der mensch ist ein soziales wesen, brachte mein
vater einmal hervor, wahrscheinlich ist es nicht
von ihm gewesen, ich habe es nur so bis heute
im ohr. u. mir fällt ein, wie er als knabe einmal
mit einem freund, als er ihn noch besaß, bis fast
zum mühlenbusch wohl mit den rädern fuhr. Doch
dieser drehte plötzlich halben weges um u. war
verabredet mit einem mädchen, da wurde es unter
den freunden stumm. ich glaube nicht, daß er mir
das erzählte, vielleicht im mühlenbusch, als wir
im auto fuhren, trug es mir meine späte mutter zu.

2005/2006

aus: Norbert Hummelt: Totentanz. Luchterhand Verlag. München 2007

 

Konnotation

Der Mensch in seiner Verlassenheit und seiner religiösen Welthoffnung – das große Thema der Barockdichtung hat der Dichter Norbert Hummelt (geb. 1962) in seine eigene romantische Poetik der Vergänglichkeit übersetzt. Hummelt evoziert in seinen sanft fließenden Langzeilen „viele zarte wunder“, die sich in der Begegnung mit geliebten Menschen und den Realien der Kindheit einstellen. Bei der Rückkehr in die rheinländische Herkunftslandschaft tauchen die Gestalten des früh verstorbenen Vaters und der toten Mutter auf.
Mit subtil gesetzten Binnenreimen und rhythmisch fein austarierten Versen erzählt Rummelt eine Urszene des Vaters. Der Mensch als „soziales Wesen“ – das ist in entscheidenden Lebensaugenblicken die schlimmste Illusion. Das romantische Setting des Gedichts – der „mühlenbusch“ ruft das „mühlenrad“ aus Eichendorffs Gedicht „Das zerbrochene Ringlein“ auf (vgl. Lyrikkalender, 12.6.2008), korrespondiert wie im Referenztext Eichendorffs mit der Erfahrung eines Liebesverlusts.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00