Heinrich von Kleists Gedicht „Mädchenrätsel“

HEINRICH VON KLEIST

Mädchenrätsel

Träumt er zur Erde, wen
Sagt mir, wen meint er?
Schwillt ihm die Träne, was,
Götter, was weint er?
Bebt er, ihr Schwestern, was,
Redet, erschrickt ihn?
Jauchzt er, o Himmel, was
Ists, was beglückt ihn?

1808

 

Konnotation

Als „Kleines Gelegenheitsgedicht“ erschien der Text erstmals 1808, im September/Oktober-Heft der von Heinrich von Kleist (1777–1811) und Adam Müller (1779–1829) herausgegebenen Literaturzeitschrift Phöbus. Er setzt sich ab von den in der Regel von privaten Anlässen, polemischen Absichten oder zeitdiagnostischen Pointen inspirierten Gelegenheitsgedichten Kleists. Stattdessen haben wir es hier mit einem hochartifiziellen Rollengedicht zu tun, das aus der Perspektive eines Mädchens spricht.
Was dem Mädchen große Rätsel aufgibt, ist das Verhalten eines namenlosen „Er“: Keine der Fragen, die sich mit den inneren Motivationen und äußeren Handlungen des männlichen Anonymus verbinden, findet eine Antwort. Die abgründige Fremdheit zwischen den Geschlechtern lässt sich nicht überbrücken. Und weder die eigenen Geschlechtsgenossinnen noch die „Götter“ haben hier einen verlässlichen Ratschlag.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00