Harald Hartungs Gedicht „Ich weiß noch: Mai 45. Das Polizeiauto“

HARALD HARTUNG

Ich weiß noch: Mai 45. Das Polizeiauto

Wie Steine gegen eine Blechwand schlagen
das weiß ich noch
Im Auto das so dröhnte
saßen drei abgekämpfte Landser Mutter ich
und in Zivil (er trug noch gestern Uniform)
mein Vater (blaß und schweißig sein Gesicht
die Augen Angst) und sah mich an als könnte
ich helfen und sein Blick war wie…
Kein wie
Ich wußte nichts von Jesus, ich war zwölf

1990er Jahre

aus: Harald Hartung: Aktennotiz meines Engels. Gedichte 1957–2004. Wallstein Verlag 2004

 

Konnotation

Ein Augenblick der Todesangst. Der Krieg steht kurz vor seinem Ende, die unterlegenen Kombattanten suchen ihr Heil in der Flucht. Das Kind, das hier spricht, entdeckt den flehentlichen Blick des Vaters, der nach einem verborgenen Gott ruft. Der Lyriker und Literaturkritiker Harald Hartung (geb. 1932) evoziert hier eine Urszene seiner frühen Jugend, einen Moment der Entscheidung zwischen Leben und Tod.
Solche scharf umrissenen traumatischen Momentaufnahmen einer Kriegskindheit gehören zu den intensivsten lyrischen Existenz-Vergegenwärtigungen, die sich im Werk des poetischen Lakonikers Hartung finden lassen. Zuerst ist da nur ein bedrohliches Geräusch – das Poltern der vermutlich wütend gegen „das Polizeiauto“ geworfenen Steine, gegen das Autoritätssymbol der bis vor kurzem unbesiegbar scheinenden Staatsmacht. Und dann sind da nur noch die angsterfüllten Augen der Fliehenden, denen kein Erlöser zu Hilfe kommt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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