Emmy Hennings’ Gedicht „Mädchenlied“

EMMY HENNINGS

Mädchenlied

Hohe blaue Heide
Spinne klare Seide.
War ein Kind von sechszehn Jahr
Und der Hans und ich ein Paar
Hohe blaue Heide.

Hohe blaue Heide
Spinne klare Seide.
Wartete noch sieben Jahr
Alles, alles war nicht wahr.
Hohe blaue Heide.

Hohe blaue Heide
Spinne klare Seide.
Spinn ich mir mein Totenhemd.
Hohe blaue Heide.

1916/1917

aus: Emmy Hennings: … Ich bin so vielfach… Texte, Bilder, Dokumente. Hrsg. v. Bernhard Echte. Stroemfeld Verlag. Basel/Frankfurt a.M. 1998

 

Konnotation

Ein todtrauriges Kinderlied im Volksliedton über das Erlöschen einer Liebe und den Verlustschmerz. Emmy Hennings (1885–1948), die allseits begehrte Muse und exzentrische Schlüsselfigur der literarischen Avantgarde in München und Berlin, hat ihr anrührendes Lied 1916/17, mitten in der Revolte des Dadaismus geschrieben. Während ihr eigensinniger Lebensgefährte Hugo Ball (1886–1927) gerade die „Lautpoesie“ und mit ihr „Verse ohne Worte“ erfand, hielt Emmy Hennings an der Musikalität der klassischen Reimformen fest.
Das Gedicht vertraut sich ganz der sanften Motorik des Kinderlieds an. Einem träumerischen Murmeln vergleichbar, entfaltet sich der Refrain, der eine Landschaft mit einer Pflanzengattung und einem Personennamen verschmilzt. Das Farbwort „blau“ – darauf hat Gottfried Benn (und nicht nur er) hingewiesen – ist traditionell eine Sehnsuchtsvokabel, die Räume und Zeiten öffnet. Hier verbindet sie sich mit einem Bewusstsein der Finalität.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00