Albert Ehrensteins Gedicht „Verzweiflung“

ALBERT EHRENSTEIN

Verzweiflung

Wochen, Wochen sprach ich kein Wort;
Ich lebe einsam, verdorrt.
Am Himmel zwitschert kein Stern.
Ich stürbe so gern.

Meine Augen betrübt die Enge,
Ich verkrieche mich in einen Winkel,
Klein möchte ich sein wie eine Spinne,
Aber niemand zerdrückt mich.

Keinem habe ich Schlimmes getan,
Allen Guten half ich ein wenig.
Glück, dich soll ich nicht haben.
Man will mich nicht lebend begraben.

1917

aus: Albert Ehrenstein: Werke. Hrsg. von Hanni Mittelmann Bd 4/1, Gedichte I. Wallstein Verlag, Göttingen 1997

 

Konnotation

Mitten im Ersten Weltkrieg schreibt der Avantgardist Albert Ehrenstein (1886–1950), der später als jüdischer Freigeist vor dem Rassewahn der Nazis in die Schweiz flüchtete, sein Evangelium der „Verzweiflung“. Es ist eine Absage an den zwanghaften Optimismus und die pathetische Menschheits-Euphorie seiner Freunde aus der expressionistischen Bewegung. Das Ich, das hier seine „Verzweiflung“ artikuliert, hat nicht nur jede Hoffnung verloren, sondern auch alle Brücken zur Welt abgebrochen. Was bleibt, ist der Todeswunsch.
Der 1917 erstmals veröffentlichte Text gehört zu den schwärzesten Gedichten der Lyrikgeschichte. Die innere Aushöhlung des Subjekts, der Rückzug ins Schweigen, die Sehnsucht nach Auslöschung – all diese ins Finstere weisenden Dispositionen des lyrischen Ich lassen auf biografische Verstörungen des Autors schließen. Tatsächlich konnte der von seinem Förderer Karl Kraus 1918 verstoßene und unglücklich in die Schauspielerin Elisabeth Bergner verliebte Ehrenstein nirgendwo richtig Fuß fassen. Nach langjährigem Exil starb er völlig verarmt 1950 in New York.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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