August Wilhelm Schlegels Gedicht „Wechsel der Dynastie in den Philosophenschulen“

AUGUST WILHELM SCHLEGEL

Wechsel der Dynastie in den Philosophenschulen

Erst stand im höchsten Rang das Ich,
Litt Du und Er kaum neben sich,
Und jedes Nicht-Ich schien ihm nichtig;
Das Ich macht’ alle Dinge richtig.
So schlug es manchen Purzelbaum
Im metaphysisch leeren Raum.
Nachdem es lang von sich gesprochen,
Wird ihm zuletzt der Hals gebrochen.
Der unbarmherzige Begriff
Erdroßelt’ es mit hartem Griff.
Der lehrt: was wirklich, sei vernünftig;
Das macht ihn bei Philistern zünftig. –
Wer sagt uns, welcher neue Kniff
Vom Thron wird stoßen den Begriff?

1832

 

Konnotation

Während August Wilhelm Schlegel (1767–1845) als Kritiker, Literaturhistoriker und Übersetzer vor allem Shakespeares, als Mitbegründer der Germanistik und der Indologie bis heute anerkannt wird, haben sich seine virtuos gereimten Sonette und Balladen der Nachwelt nicht eingeprägt. In Schlegels Sämtlichen Werken von 1846 nehmen die Gedichte immerhin zwei Bände ein. Unter der Rubrik „Epigramme und literarische Scherze“ findet sich auch das vorliegende, das zuerst 1832 in einem Musenalmanach erschien.
Schlegel liebte solche scherzhaft-polemischen Verse, eine kleine Geschichte der jüngsten Philosophie in humoristischen Reimpaaren: Von Fichtes absoluter Identitätsgleichung „Ich = Ich“ in der „Wissenschaftslehre“ zu Hegels „Rechtsphilosophie“, worin es heißt: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ So macht sich der alternde Schlegel über beide Systeme lustig, auch über Fichtes romantischen Höhenflug, den er in seiner Jugend teilte.

Michael Buselmeier (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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