Wilhelm Lehmanns Gedicht „In Solothurn“

WILHELM LEHMANN

In Solothurn

Vor hundert Jahren suchte ich die schöne Magelone.
Sie liebte mich, ich war ihr gut genug.
Vor hundert Jahren, als mein Fuß mich schwebend trug.

Ich bin in Solothurn. Frag ich, ob sie hier wohne?
Die weiße Kathedrale fleht den Sommerhimmel an.
Auf hoher Treppe sitze ich, ein junggeglühter Mann.
Die alten Brunnenheiligen stehn schlank;
Die Wasser rauschen, Eichendorff zu Dank.

Hôtel de la Couronne. Mit goldnen Gittern schweifen die Balkone.
Ein Auto hielt. War sie’s, die in den Sitz sich schwang?
Adieu! Dein Reiseschal des Windes Fang.

Die Brunnen rauschen. Ihre Stimme spricht
Uns hundert Jahre wieder ins Gedicht:
Mich, Peter von Provence, dich, Magelone.

1950

aus: Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. 1: Sämtliche Gedichte. Klett-Cotta, Stuttgart 1982

 

Konnotation

Sein Berufsleben über war Wilhelm Lehmann (1882–1968) als Studienrat für neuere Sprachen tätig. Er veröffentlichte Romane und Erzählungen, wofür er 1923 den Kleist-Preis erhielt. Seine Bedeutung liegt jedoch eher in seinen Gedichten, an die er sich erst in reiferem Alter wagte. Mit seinem Freund Oskar Loerke zählte er zu den Häuptern einer „naturmagischen Dichtung“. Die Natur war für beide ein Ort überzeitlicher Gesetze, die sich präziser Beobachtung erschließen.
Die Anregung zu diesem Gedicht hat Lehmann in seinem „Bukolischen Tagebuch 1948“ festgehalten: „In der Märchenstadt Solothurn führt eine von zwei köstlichen Brunnen flankierte Freitreppe zu der barock- klassizistischen Ursenkathedrale. Die Brunnen spielen wie in den Versen Eichendorffs. Am Hôtel de la Couronne, mit vergoldeten Balkongittern, fährt der Reisewagen aus dem ,Taugenichts‘ vor, und ihm entsteigt die schöne Magelone.“ Im Gedicht von 1950 ist die Szenerie fast wörtlich übernommen; Eichendorff und das Volksbuch von der schönen Magelone als mythischer Hintergrund.

Michael Buselmeier (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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