Rainer Kirschs Gedicht „Homo habilis novus“

RAINER KIRSCH

Homo habilis novus

Das Herz in Sicherheit, wo? in den Hosen.
Der Kopf für alle Fälle unterm Arm.
Das Hirn auf Grundeis, doch die Nase warm
Von Wechselwinden aus dem Grenzenlosen
Der höhernstocks getätigten Verdauung;
Und statt der Welt zur Hand die Weltanschauung.

1988

aus: Rainer Kirsch: Werke. Eulenspiegel Verlag, Berlin 2004

 

Konnotation

Ich huste, wenn ich huste, meistens jambisch“, schreibt Rainer Kirsch (geb. 1934) in einem seiner Petrarca-Sonette – und diese ironische Demonstration von Formbewusstsein ist charakteristisch für diesen traditionsverliebten Autor, der in der „sächsischen Dichterschule“ sein Handwerk gelernt hat. Dem skeptischen Marxisten gönnte die DDR keine Karriere; wegen einer angeblich „spätbürgerlich-revisionistischen“ Komödie wurde er 1973 aus der SED ausgeschlossen. Kein Wunder, dass Kirsch den Typus eines „neuen Menschen“, wie ihn der real existierende Sozialismus versprochen hatte, nirgendwo entdecken konnte. Nur eine Abart des „neuen Menschen“, den „homo habitis novus“.
Eine evolutionsgeschichtlich ausgestorbene Spezies der Gattung Mensch ist hier noch („habilis“), allen denkbaren Situationen angepasste Taktiker. Dem hier das Herz in die Hose gerutscht und das Hirn „auf Grundeis“ gegangen ist, erweist sich als klassischer Opportunist. Denn er hat je nach Bedarf die passende „Weltanschauung“ parat.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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