Karl Riha: Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Oh, friedlicher Mittag“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Oh, friedlicher Mittag“ aus Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. –

 

 

 

 

ROLF DIETER BRINKMANN

Oh, friedlicher Mittag

mitten in der Stadt, mit den verschiedenen
Mittagsessengerüchen im Treppenhaus. Die Fahrräder
stehen im Hausflur, abgeschlossen, neben
dem Kinderwagen, kein Laut ist zu hören.

Die Prospekte sind aus den Briefkästen
genommen und weggeworfen worden. Die Briefkästen
sind leer. Sogar das Fernsehen hat die türkische
Familie abgestellt, deren Küchenfenster

zum Lichtschacht hin aufgeht. Ich höre
Porzellan, Teller und Bestecke, dahinter
liegen Gärten, klar und kühl, in einem blassen Frühlingslicht.
Es sind überall die seltsamen

Erzählungen von einem gewöhnlichen Leben ohne
Schrecken am Mittwoch, genau wie heute. Der Tag
ist, regenhell, verwehte Laute: oh friedlicher
Mittwoch mit Zwiebeln, auf dem Tisch,

mit Tomaten und Salat.
Die Vorhaben und Schindereien sind
zerfallen, und man denkt, wie friedlich
der Mittwoch ist

Wolken über dem Dach, blau, und
Stille in den Zimmern, friedlich und still und
genauso offen wie Porree, wie Petersilie grün ist
und die Erbsen heiß sind.

 

Der Titel des Gedichts –

„Oh, friedlicher Mittag“ – geht unmittelbar in die erste Strophe über, so daß zu lesen wäre:

Oh, friedlicher Mittag
mitten in der Stadt
(…)

Es ist eine altmodische Eröffnung; man denkt zum Beispiel an Friedrich Klopstock (1724–1803), dem in dieser Anrede- oder Anrufform fast die ganze sinnliche und übersinnliche Natur lyrisch zugänglich wurde; man denkt an die Oden- und Hymnendichtung, zu deren formalen Charakteristika dieser ,Oh‘-Ton gehört. Und die vierte Strophe nimmt, indem sie zur Stunde, in der das Gedicht spielt, auch noch den Wochentag hinzuträgt, diesen Gestus auf:

oh friedlicher
Mittwoch mit Zwiebeln

Daneben dominieren relativ einfache ,ist‘- und ,sind‘-Feststellungen wie: „Die Fahrräder stehen im Hausflur“, „Die Prospekte sind aus dem Briefkasten genommen“, „Die Briefkästen sind leer“ etc. Dazwischen findet sich ein einziger Satz, der ein ,lyrisches Ich‘ sprechen läßt:

Ich höre Porzellan, Teller und Bestecke (…)

Aber nicht nur die Form, sondern auch die Thematik ist dem ersten Anschein nach reichlich traditionell: verblüffend für einen Autor wie Rolf Dieter Brinkmann (1940–1975), der sich zunächst gerade als literarischer Rebell im Kontext der amerikanischen Pop- und Underground-Poesie, als ein Lyriker der aggressiven Selbstbehauptung und des aufgeladenen Details einen Namen gemacht hat. Ein friedlicher Mittag als Gedichtthema – das weist, auch wenn es nicht in einer bukolisch-ländlichen, sondern in einer städtisch-großstädtischen Landschaft angesiedelt ist, in die Antike, etwa auf Vergil, zurück: die Mittagsstunde gehört ja dort dem Mythos nach dem bocksfüßigen Pan, der sich zu dieser Zeit schlafen legt und von den Hirten nicht gestört wird.
Die ,Ereignislosigkeit‘ des Gedichts ist auf diesen Augenblick Pans abgestimmt, hat jedoch bei Brinkmann auch ihre eigene Ableitung. Er debütierte mit einem Prosa-Beitrag zu der 1962 von Dieter Wellershoff (geb. 1925) herausgegebenen Anthologie Ein Tag in der Stadt und schilderte in ihm die Reise eines Mannes in seine Heimatstadt: ohne die Kontakte absolviert zu haben, die er sich vorgenommen hatte, reist er am Abend wieder ab. Es gibt bei Brinkmann sogar ins Poetologische gewendet – den Typus des absolut ,ereignislosen‘ Gedichts; der Text ist programmatisch „Ein Gedicht“ überschrieben:

Hier steht ein Gedicht ohne einen Helden.
In diesem Gedicht gibts keine Bäume. Kein Zimmer
zum Hineingehen und Schlafen ist hier in dem
Gedicht. Keine Farbe kannst du in diesem

Gedicht hier sehen. Keine Gefühle sind
in dem Gedicht. Nichts ist in diesem Gedicht
hier zum Anfassen. Es gibt keine Gerüche hier in
diesem Gedicht. Keiner braucht über einen Zaun

oder über eine Mauer in diesem Gedicht zu klettern.
Es gibt in diesem Gedicht hier nichts zu fühlen.
Das Gedicht hier kannst du nicht überziehen.
Es ist nicht aus Gummi. Kein weißer Schatten

ist in dem Gedicht hier. (…)1

Im unmittelbaren Vergleich mit „Oh, friedlicher Mittag“ ist freilich festzuhalten, daß es sich hier um eine totale Negation aller Inhalte handelt – das Gedicht zieht sich in der zitierten Manier über drei Druckseiten hin –; dort aber mehr um eine seltsame Ruhe, die sehr wohl mit Beobachtungen und Eindrücken ausgestattet ist.
In aller Regel ist die Mitte der Stadt – ihr Zentrum oder, der älteren Metaphorik nach, ihr Herz – immer auch ihr Verkehrsknotenpunkt, ihre massierte Turbulenz. Brinkmann weicht davon in bezeichnender Weise ab: er setzt all dies außer Kraft und lokalisiert die Stadtmitte im Abseits eines Mietshauses mit seinem spezifischen Interieur. Es ist ja Mittagszeit – und das dann nicht nur in mythologisch-symbolischer Hinsicht, sondern konkret und sinnlich erfahrbar: die Ausdünstungen verschiedener Küchen mischen sich im Treppenhaus, die Fahrräder – „abgeschlossen“ –, die Kinderwagen, mit denen man sonst unterwegs ist, sind im Treppenhaus abgestellt, die Briefkästen sind geleert… – Stille! Und über gleich mehrfach wiederholte Hinweise – „kein Laut ist zu hören“, „Sogar das Fernsehen hat die türkische / Familie abgestellt“, „verwehte Laute“ und „Stille in den Zimmern“ – kommt es zur Gleichsetzung von „friedlich und still“ in der letzten, abschließenden Strophe. Bei so vielen Richtstrahlen auf diesen Punkt übersieht man aber leicht, daß im dritten Textabsatz – wie man statt ,Strophe‘ wohl richtiger sagt – von Höreindrücken die Rede ist, die sich zum einen auf Geräusche beziehen, die beim Essen entstehen, wenn Porzellan an Porzellan stößt oder Gabel und Messer auf dem Teller kratzen, und sich zum anderen an Gespräche hängen, die offenbar beim Essen geführt werden und sich um alltägliche Sachverhalte – das ,gewöhnliche Leben‘ – drehen. Der Eindruck der Idylle verstärkt sich, wenn im Zusammenhang dieser harmonischen Eß-Szene auf eine anmutige Landschaft verwiesen wird, die sich – trotz Treppenhaus und Lichtschacht, die den Schauplatz festlegen – hinter all dem öffnet:

dahinter
liegen Gärten, klar und kühl, in einem blassen
Frühlingslicht

Doch eben dieser Eindruck der Idylle – wie immer gestützt durch „Frühlingslicht“ und „Wolken über dem Dach, blau“ – trügt auch, denn offensichtlich handelt es sich ja nur um eine momentane Entlastung von den Prospekten im Briefkasten – Nachrichten von der Konsumfront –, von den Fernsehgeräuschen – der Reizflut der neuen technischen Medien –, vom Zwang der „Vorhaben und Schindereien“ – den inneren, verinnerlichten Imperativen. Welcher Druck in Wirklichkeit von all diesen Faktoren ausgeht, zeigt hingegen das „Lied am Samstagabend in Köln“, das wie folgt einsetzt:

Da sind gespenstische Wörter: Sehr geehrte Herren,
Polizisten, Hausbesitzer, Vermieter,
Gangster, Scheißkerle, hastig zusammen
gesteckt, aus Angst, und sie leben.
In den Briefen, Formularen, erklären sie die Notwendigkeiten,
Anstand, Klingelknöpfe, Hauseingänge, Stränge.
Muß ich sie mein Leben lang
bezahlen, damit ich wohnen darf.
2

Wenn also ein Aussetzen dieser Bedrohlichkeiten, dann für einen eingegrenzten Moment: für eben diesen „friedlichen Mittag“! Der panische Schrecken – auch er eine Ableitung aus dem antiken Augenblick Pans –, der das Kölner Samstagabend-Lied beherrscht, rutscht nur aus dem Vordergrund in den Hintergrund des Textes und entfaltet dort seine verdeckte Wirkung. ,Seltsam‘ – und nicht ,selbstverständlich‘ – erscheinen die belauschten Erzählungen vom „gewöhnlichen Leben ohne / Schrecken“, und „man denkt“ – also „nimmt überrascht wahr“, „glaubt“, „gibt der Vorstellung Raum“ – „wie friedlich / der Mittwoch ist“.
Der getroffene Befund läßt den Text, läßt die Betrachtung und Einschätzung des Textes changieren! Man ist unsicher, ob man es – geradeheraus – mit einer Utopie der ,großen Stadt‘ oder nicht doch mit einer Satire zu tun hat, die sich solcher utopischen Elemente nur bedient, um zu ihrem Zweck zu kommen? Einerseits also: der ,friedliche Augenblick‘, in dem die Stadt erlebt wird, ruft Vorstellungen davon wach, wie es immer in dieser Stadt sein könnte, sein sollte. Die utopische Evokation gilt der befriedeten Stadt, aus der Hektik und Turbulenz vertrieben sind, und in der nun die alltäglichen Bedürfnisse zu ihrem Recht kommen. Gerade deshalb auch steht das Leben, das hier möglich wird, in engem Naturzusammenhang, haben die Lebens-Mittel – wie Zwiebeln, Porree, Petersilie und Erbsen – eine solche sinnliche Präsenz; eine Präsenz mit Pop-Einschlag, wenn man an jene Bilderserie mit ausgeschnittenen Gemüsen denkt, die Jim Dine (geb. 1935) in den siebziger Jahren geschaffen hat. Andererseits: die schöne – idyllische – Utopie dient nur als Mittel der satirischen Verfremdung! Gerade weil die realen Verhältnisse in keinster Weise so sind, wie sie hier vorgestellt werden, eben unfriedlich, laut, chaotisch, wird der Leser auf die Negativ-Konturen zurückgestoßen und ist gezwungen, das Ganze – gegen seine Stilisierung ins Positive – lediglich als ironische Rede zu nehmen.
Beide Deutungen lassen sich durch Vergleiche, den Blick auf sich anbietende Parallel- und Kontraststücke innerhalb der deutschen Großstadtlyrik stützen. Ein ganz ähnliches Schillern zwischen harmonisch gestimmter Großstadt-Utopie, beziehungsweise mit ihrer Hilfe realisierter Großstadt-Satire, zeigt Brechts Gedicht „Die Städte sind für dich gebaut“, auf das bereits in jenem Abschnitt über Brecht, der auf „Untergang der Städte Sodom und Gomorrha“ abgestellt war, hingewiesen ist. Es ist im Zusammenhang des Lesebuchs für Städtebewohner entstanden, wendet aber dessen Thema – die „Feindseligkeit der großen Stadt, ihre bösartige und steinerne Konsistenz, ihre babylonische Sprachverwirrung“,3Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Werkausgabe, Frankfurt/Main 1967, Bd. 18, S. 14 wie sich mit einer Notiz des Autors schon aus dem Jahr 1921 formulieren läßt – ins Positive, in die Utopie oder eben, entlarvend, in die Schein-Utopie. Die ersten drei Zeilen, die einen eigenen Textabschnitt bilden, kommen aus der Publikums-Anrede heraus zu folgender Exposition:

Die Städte sind für dich gebaut. Sie erwarten dich freudig.
Die Türen der Häuser sind weit geöffnet. Das Essen
Steht schon auf dem Tisch
.4

Fast hat es den Anschein, als knüpfe der jüngere Autor, der sich in seinem Werk auf literarische Anspielungen ja durchaus versteht, seinerseits mit „im Treppenhaus“ und dem Hinweis auf die Mittagszeit und das bereitete Essen – „Ich höre / Porzellan, Teller und Bestecke“, „oh friedlicher / Mittwoch mit Zwiebeln, auf dem Tisch, / mit Tomaten und Salat“ – hier geradezu direkt an. Anders aber als Brecht, der mit dem Mittel der Übertreibung das Unwahrscheinlich seiner Darstellung kennzeichnet und sie als ,schöne Erfindung‘ markiert, verallgemeinert Brinkmann die Situation nicht –

Kurz: ihr kommt
In die besten Hände. Alles ist seit langem vorbereitet. Ihr
Braucht nur zu kommen.

–, sondern bleibt eng im Horizont der Ich-Wahrnehmung und der Feststellungen, die sich in ihr machen lassen, vielleicht auch der Ich-Halluzination, wenn man dafür – als eine Art Ausbruch aus der Mitte der Stadt, aus dem Innern eines Mietshauses mit Treppenhaus und Lichtschacht, wo der Text angesiedelt ist – den plötzlichen Durchblick auf Landschaft, die Aussicht auf „Gärten, klar und kühl“, und die stille und offene Gegenwart des Pflanzlichen als Indiz nimmt.
Genauso deutliche Übereinstimmungen und Unterschiede ergeben sich gerade auch im Gegenüber mit solchen Gedichten, die eindeutig als Großstadt-Utopie gekennzeichnet sind. Beispiele dafür finden sich speziell auch in der jüngsten und allerjüngsten Literatur, die das Großstadtthema vorrangig von aktuellen Problemen wie dem Ineinander von Chaos und Verödung der Großstadtzentren, dem Zugleich von Verrottung, Häuserabriß und Neubauboom, von Grundstücksspekulation und Hausbesetzung herangehen. Bezogen auf die bedrohliche Lebensqualität, welche die Großstadt – in diesem Fall Berlin-Kreuzberg – ihrem Kind bietet, schreibt beispielsweise Marie-Luise Könneker (geb. 1945) in ihrem 1981 erschienenen Gedichtband Taufsteine:

Nun hast du also
DDT eingesogen
und Abgas geatmet
und Gifte gespeichert
in allen Organen
ich habe dich
durch den Supermarkt gefahren
nun kannst du schon
Rolltreppen gehen
dich auf dem Parkplatz verstecken
mit Bierdosen schmeißen.
Die Welt wollte ich
sollte dein Garten sein.
Ich brülle
bleib weg von der Fahrbahn

du denkst
ich bin schuld
und hast recht.5

Gegen eine Umwelt, aus der sich – beklemmend – nur noch Schaden und Gefahr fürs Leben ziehen läßt, hält die Autorin ihre Vorstellung einer ,Welt‘, die sich anders denken läßt, als vergeblichen Wunsch, als ,verlorene Utopie‘ fest. Von ähnlichen Voraussetzungen gehen dann auch solche Texte aus, die sich ausführlicher an die Beschreibung eben dieser allseits bedrängten Wunschvorstellung machen. Neben dem ,Garten Eden‘, den Marie-Luise Könneker im Sinn hat, kann man dann auch auf das ,himmlische jerusalem‘ zurückgreifen, ein ebenfalls aus der Bibel genommenes Bild; so etwa Peter Härtling (geb. 1933) in seinem Gedicht „An meine Stadt“:

Immer wieder,
als Kind schon,
träumte ich, träume ich,
von einer Stadt:
hoch auf dem Tafelberg
und unter einem
strudelnden Licht
6

Aber nur diese ,Licht‘-Verhältnisse stiften eine gewisse Verwandtschaft zwischen Härtlings und Brinkmanns Text; die ausdrückliche Ableitung der ,Friedens-Stadt‘ aus der Traumsphäre trennt sie sofort wieder. Stärker mit der Intention Brinkmanns scheint deshalb das folgende Gedicht des Berliner Autors Frank Asmus (geb. 1949) übereinzustimmen, weil es die „Berliner Zukunftsvision“ eng an konkrete und alltägliche Situationen bindet:

gepflegte altbauten
mit vergärten
in denen blumen blühen
det jras wächst
vielleicht mit ner hecke rum
eene kastanie
hie und da.
dufte kommunikation
freundliches verständnis
ooch für die westdeutschen
und türken und griechen
und und und
ne niedrige miete
keen hausvawalter
sondern ne
mieterversammlung
als „hauswirt“.
viele kindaspielplätze
doch weniger parkplätze.
und und und.
eener hilft dem annern
die annern helfen dem eenen
so halten wa zusammen
so lassen wa uns
nich einmachen
nich kleenkriejen nich ducken.
wir ham unsre meinung
und die sagen wa ooch.
det macht richtig spaß
nu hier zu leben
wa!
7

Die Schädigungen, die Könneker anspricht, scheinen also behebbar; der Verfasser spricht ökologische Probleme, Miet- und Wohnverhältnisse an – das Zusammenleben mit Gastarbeitern, auch hier Türken –, und entwirft den ,Heilsplan‘ einer großen, alle Lebensverhältnisse durchdringenden und umformenden Solidarität. Aus Brinkmanns ,friedlichem Mittag‘ wäre denn beinahe schon ein ,ewiger Friede‘ geworden! Es fehlt jedoch die Herausforderung der Appellationen, mit denen Brecht den Leser aktiviert und zur Reflexion herausfordert, in der er lebt. So ist die Gefahr einer Sozial-Idylle nicht von der Hand zu weisen, und gerade auch ihr gegenüber behauptet sich Brinkmanns Poem in seiner Eigenart: im Zugriff auf die Stadt aus einer Augenblickserfahrung heraus, die gleichwohl nicht blind, sondern offen und sensibel ist für kollektives Schicksal und kollektive Hoffnung.

Karl Riha, in Karl Riha: Deutsche Großstadtlyrik, Artemis Verlag, 1983

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