Yoshiko Kamitani: Licht und Schatten

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Yoshiko Kamitani: Licht und Schatten

Kamitani/Asada-Licht und Schatten

Eingemeißelte
Zeichen auf dem Gedenkstein
sie mühsam lesend
werde ich überwältigt
von der Stummheit der Steine

 

 

 

Tanka als das „japanische Gedicht“ schlechthin

Tanka heißt wörtlich „Kurzgedicht“. Es handelt sich um eine Gedichtform bestehend aus 31 Silben in fünf Zeilen. Die Silben sind nach dem Schema 5-7-5-7-7 auf die fünf Zeilen verteilt. Die ersten drei Zeilen heißen kami no ku, d.h. „obere Strophe“. Die beiden letzten Zeilen heißen shimo no ku, „untere Strophe“. Zwischen den beiden Strophen herrscht eine Spannung des Gegensatzes. Tanka ist diejenige Gedichtform Japans, die vom 8. bis zum 20. Jahrhundert – manchmal auch unter anderen Namen – am meisten Verbreitung fand. Tanka werden heute genauso gern verfaßt wie in früheren Zeiten, und zwar von Hobbydichtern ebenso wie von Berufsdichtern. Im ganzen Land gibt es Tanka-Vereinigungen, die sich regelmäßig zum wechselseitigen Vorstellen und Besprechen der Gedichte und zum gemeinsamen Dichten treffen, die sich manchmal aber auch heftig um formale und inhaltliche Maßstäbe streiten. Viele Tanka-Zeitschriften sind im Umlauf, in denen immer neue Kurzgedichte ihre erste landesweite Verbreitung und Bewertung finden. Tanka-Gedichtsammlungen erreichen unter günstigen Umständen Millionenauflagen, besonders wenn ihre Motive und Formen den allgemein verbreiteten traditionellen Vorstellungen vom Tanka entsprechen und zusätzlich aktuelle Stimmungen anklingen lassen.
Die vollständige Geschichte der Tanka kann hier nicht beschrieben werden, zumal sie von japanischen Literaturwissenschaftlern verschieden dargestellt wird. Doch die meisten Autoren sind sich über folgende Tatsachen einig:
Seit der ältesten japanischen Gedicht-Anthologie Manyôshû („Sammlung von zehntausend Blättern“, im 8. Jh. zusammengestellt) wird der Terminus Tanka (Mijika-uta) benutzt, um die 31-Silben-Gedichte von den Lang-Gedichten (Chôka oder Naga-uta) zu unterscheiden. In seiner klassischen Form (8./9. Jh.) bildete ein Chôka eine grundsätzlich unbegrenzt lange Aneinanderreihung von Paaren von 5-Silben- und 7-Silben-Zeilen mit einer Abschlußzeile bestehend aus 7 Silben. Oft entwickelte sich ein Chôka bis zu einhundert Strophen. Tanka konnte also ein Teil eines Chôka sein, sich aber auch selbständig machen. Im Laufe der Jahrhunderte erlahmte das Interesse für Chôka, aber das Interesse für Tanka wuchs stetig. Schließlich wurde das Tanka repräsentativ für „japanisches Gedicht“ (Waka) schlechthin im Unterschied zu Kanshi („Gedicht im chinesischen Stil“). Tanka konnte deshalb in der Zeit der Blüte der „Nationalen Schule“ der japanischen Philologie (Kokugaku, 17./18. Jh.), die nicht nur in der Sprachgeschichte, Literaturgeschichte usw., sondern auch in der Politik die Rückkehr zu den rein japanischen Wurzeln forderte, noch an Bedeutung gewinnen – als Symbol der japanischen Abgrenzung gegen die fremde chinesische Kultur.
Vom 13. Jahrhundert an hatte das Tanka gegen die Konkurrenz der ernsten Renga („Ketten-Gedichte“) und der heiteren Haikai „Possen“, sie entwickelten sich im 17./18. Jh. zu dem 17-silbigen Haiku und zu Haiku-Verbindungen: Renku) zu kämpfen, denen es aber an Popularität bis heute überlegen blieb. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt sich das Tanka als diejenige dichterische Form, die für die Realisierung der reformerischen „modernen“ poetischen Ideale am besten geeignet scheint: Impulsbezogenheit des Dichtens, Nähe der thematischen Motive und der sprachlichen Formen zum „wirklichen Leben“ und zur „wirklichen Sprache“ der Dichter bzw. der sie umgebenden Gesellschaft mit Einschluß des Politischen, persönliche Betroffenheit, Echtheit des Gefühls, Entdeckung eines originellen, individuellen Blicks für Widersprüche der Erfahrungswelt, Eröffnung einer neuen erlösenden Perspektive, Experimentierfreudigkeit im Umgang mit den überkommenen Motiven und Formen (auch in „freien Gedichten“). Tanka können manchmal wie (Prosa-)Notizen eines „Tagebuchs der Wahrnehmungen“ erscheinen. In den zwanziger Jahren stritten sich die Anhänger von Gotô Shigeru und Saitô Mokichi um die Richtung der fälligen „Tanka-Revolution“. Gotô forderte eine Politisierung und Proletarisierung der Tanka, andere verlangten nach seiner Humanisierung und nach der Emanzipation des Frauen-Tanka. Manche kritisierten die traditionellen Tanka als „Mönchstanka“. Saitô stand für eine erneuerte Tanka-Dichtung mit Schwerpunkt in der „getreuen Abbildung“ (shasei) des spontanen natürlichen Lebens, die auch die Sexualität des Menschen offen darstellt, was bis dahin im Tanka nicht geschah.
Der Terminus Waka hat heute die Bedeutung „traditionelles japanisches Gedicht“. Im Unterschied dazu bedeutet Tanka heute soviel wie „modernes japanisches Gedicht“. So werden denn auch die vormodernen Dichter (z.B. Ki no Tsurayuki oder Fujiwara Sadaie) als Waka-Dichter bezeichnet und japanische Dichter ab 1868 als Tanka-Dichter (z.B. Yosano Akiko und Saitô Mokichi), obgleich beide Gruppen 31-Silben-Gedichte schrieben. Jedoch auch innerhalb der Gruppe der Tanka-Dichter und Dichterinnen der Moderne (1868 bis etwa 1945) und der Gegenwart (ab 1945) kann man wieder im Bezug auf die Motive und Formen viele Varianten von Traditionalisten und Reformisten unterscheiden.

Die Tanka von Yoshiko Kamitani
Die Autorin der Tanka-Gedichte der vorliegenden Anthologie, Yoshiko Kamitani, gehört zu den Reformern. Sie ist Mitglied im höchstangesehenen Gremium der gesamtjapanischen Tanka-Welt Gendai Kajin Kyôkai und in der Leitung mehrerer anderer regionaler und lokaler Tanka-Vereinigungen.
Yoshiko Kamitani ist 1930 geboren. 1953 schloß sie ihr Studium an der Kyoto Furitsu Universität ab. 1970 wurde sie in den Redaktionsstab der berühmten, seit 1952 erscheinenden Tanka-Zeitschrift Kôjitsu aufgenommen. Sie wurde besonders von Noboru Yoneda, Shûzô Wada, Yukio Tadano und Kuniyo Takayasu gefördert. Seit den siebziger Jahren wuchs ihr Ruhm als Tanka-Dichterin von Jahr zu Jahr. Sie publizierte viele Gedichte und Gedicht-Rezensionen in Tanka-Zeitschriften. 1977 erschienen Gedichte von ihr in der Tanka-Sammlung von sieben neuen Autoren und Autorinnen Moe („Knospen“, Tanka Kôronsha, Tokyo). Danach sind zwei Kamitani-Anthologien erschienen, eine dritte ist im Druck. Anthologie Nr. 1: Yûei („Fließende Schatten“, 1983, Tanka Kôronsha); Anthologie Nr. 2: Mori no oto („Klang des Waldes“, 1991, Tanka Kôronsha); Anthologie Nr. 3: Yômyaku („Blattgeflecht“, 2000, Tanka Kenkyûsha, Tokyo). Außerdem ist sie Mitautorin des Diskussionsbandes Shinjin no sakuhin to iken („Werke und Meinungen neuer Autoren“, 1987, Tanka Kôronsha), Mitherausgeberin bzw. Herausgeberin der Tanka-Zeitschriften Kôjitsu, Kon und Gunraku sowie Dozentin für Literatur an der Seikei-Hochschule in Osaka und an Yomiuri Kulturinstituten im Raum Osaka und Kyoto.
Nicht zu übersehen sind die Impulse, die Yoshiko Kamitani von ihren Auslandsreisen, besonders ihren Deutschlandaufenthalten (1976–1977 und 1984–1985) erhielt. Herausgerissen aus der gewohnten japanischen Umwelt, konfrontiert mit neuen Menschen und ihren anderen Lebensweisen und Lebensproblemen stellten sich alle ihre Sinne auf „Empfang“. Durch die neuen Anderen sah sie sich selbst in Frage gestellt, als Japanerin und als Weltbürgerin. Die Wahrnehmung der Vielfalt der Welt und der eigenen Einbezogenheit in sie intensivierte sich.
Auf den ersten Blick scheinen sich die poetischen Motive von Yoshiko Kamitani nicht viel von denen anderer Tanka-Dichter und Dichterinnen zu unterscheiden: die Jahreszeiten der Natur, die Stationen des menschlichen Lebens, die kleinen Wunder im Alltag und – der freundschaftliche Umgang mit Tieren und Pflanzen. Es könnte sich beim Leser der Eindruck einer „kleinen“ schönen und heilen Kamitani-Welt ergeben, wenn da nicht immer wieder die Widersprüche der „großen“ Welt aufbrächen: die Widersprüche der unheilen entzweiten Welt (symbolisiert durch den Atombomben-Dom in Hiroshima, die Gaskammern von Buchenwald, das Schicksal der Vertriebenen u.ä.) und die Widersprüche im eigenen grübelnden Inneren (die Frage nach dem eigentlichen Selbst, die Beobachtung der konkurrierenden inneren Bilder, der Träume, der Gefühls-, Meinungs- und Willenskämpfe, der Lebenssehnsucht und der Todesahnung – alles Erfahrungen, die jeden Menschen bedrängen).
Es ist selbstverständlich, daß Yoshiko Kamitani in der sprachlichen Formung ihrer Gedichte grundsätzlich die Tanka-Tradition fortsetzt, aber es scheint, daß sie mehr als andere die Dialektik des „Ganzen im Fragment“ liebt. Sie spricht den Makrokosmos im Mikrokosmos als pars pro toto aus. Es ist ebenso selbstverständlich, daß die Tanka von Yoshiko Kamitani in ihrer japanischen Originalsprache am deutlichsten ihre Eigenart offenbaren. Aber auch die hier vorliegenden Übersetzungen von Eva Moeller und Kimiko Nakayama-Ziegler teilen dem deutschen Leser noch viel von dem ursprünglichen Lebensimpuls und dem dichterischen Formwillen von Yoshiko Kamitani mit. Hier ein Beispiel des akustischen Dramas, des dialektischen Wortspiels und der Zuspitzung im kaskadischen Rhythmus (ich zitiere die Übersetzung von Eva Moeller und Kimiko Nakayama-Ziegler):

Waimâru no
yowa arasoeru
danjo no koe
shion no hibiki
muchi no gotokaru

Wie Peitschenschläge
knallen die Konsonanten
mitten in Weimar
streiten sich während der Nacht
die Stimmen von Mann und Frau

oder mein Lieblingsgedicht aus der vorliegenden Anthologie Kamitani:

Zum Totengedenken
brennen die Feuer so groß
Tote, Lebende
nicht mehr zu unterscheiden
in der Finsternis der Nacht

Mein Lieblingsgedicht deswegen, weil es in Gehalt und Gestalt das Ganze des Lebenszusammenhangs im Kleinen widerspiegelt, und zwar zugleich auf drei Weisen: auf individuell einmalige Weise (das wirkliche Erlebnis der auflodernden Flammen einerseits, des hereinbrechenden Dunkels anderseits), auf partikulär japanische Weise (die Sitte des Verabschiedens der toten Seelen durch das Okuribi-Feuer am Obon-Fest im japanischen Sommer) und auf universal menschliche, ja sogar kosmische Weise (die Urfinsternis als einendes Medium der Lebenden und der Toten).

Yoshiko Kamitanis Tanka als Tagebuch der Erfahrung der Fremde
Besondere Behandlung verdienen die Gedichte von Yoshiko Kamitani, die ihre existentielle Erfahrung der Fremde widerspiegeln, sei es anläßlich des Reisens im Ausland, sei es beim Heimkehren nach Japan. (Wegen der Begrenzung der Auswahl auf 60 Gedichte konnten viele eindrucksvolle Gedichte dieses Motivs aus den drei japanischen Anthologien der Autorin dieses Mal leider nicht übernommen werden – aber vielleicht in einem zweiten deutschen Band? Ob es dazu kommt, entscheiden die Leser dieses ersten Bandes.)
Das Motiv „die Fremde“ könnte für die Autorin dasjenige Gedicht sein, von dem Heidegger in „Unterwegs zur Sprache“ erklärt:

Jeder große Dichter dichtet nur aus einem einzigen Gedicht… Das Gedicht eines Dichters bleibt unausgesprochen. Dennoch spricht jede Dichtung aus dem Ganzen des einen Gedichts und sagt jedesmal dieses. (Gesamtausgabe, I. Abteilung, Band 12, Frankfurt 1985, S. 33, Hervorhebungen von L.)

Das Gedicht der Autorin scheint also „die Fremde“ zu sein. Sie konnte die Fremde geradezu physisch, mit ihren Händen greifen:

Wo ich auch sein mag
überall koche ich Reis
und nun berühren
meine Finger beim Waschen
den Reis des fremden Landes

Nein, sie konnte nicht nur den fremden Reis „an-fassen“ (für einen Japaner, eine Japanerin ist fremder Reis eine Zumutung!), sondern sie mußte die Fremde „aus-halten“. Wie schwer es ihr fiel (d.h. auch: wie schwer es uns fällt), die Fremde und die Fremden zu bejahen und sich nicht ständig der eigenen „Heimat“, des eigenen „Vaterlands“, der eigenen „Farbe“, der eigenen Ethik, der eigenen Religion, der eigenen Ichidentität zu vergewissern, zeigen viele ihrer Gedichte, in denen sie zwischen Fremde und Heimat hin- und hergerissen ist, z.B. auch in folgendem Tanka:

Habe ich gelebt
ohne je mein Vaterland
zu hinterfragen?
Und wieder ersehn ich nur
der Berge herbstliches Laub

Die Wahrnehmungen des Fremden auf den Auslandsreisen, besonders in Deutschland, haben Zeitbomben in Yoshiko Kamitani hineingelegt, deren Explosionen die traditionellen Tanka-Formen und Tanka-Motive sprengten und wohl auch weiterhin sprengen werden.
Doch der Gegensatz von Fremde und Heimat ist nicht nur äußerlich-räumlich zu verstehen. Er spaltet unser eigenes Inneres: Fremde und Einsamkeit stehen auf der einen Seite, Heimat und Liebe auf der anderen.

Der Menschen Schicksal
ist es einsam zu sterben
wie leicht und einfach
ist das hingesagt, wenn man
warm von Menschen umgeben.

Was aber ist das Endgültige: das einsame Sterben oder die Gemeinschaft von Liebenden? Wer wagt, die Entscheidung „einfach dahinzusagen“?

Johannes Laube, Nachwort

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin

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