Lesarten, Schreibweisen

Ich kann grössere Texte auch nach intensiver Lektüre nicht „behalten“, nicht memorieren; habe mir deshalb schon früh angewöhnt, beim Lesen Unterstreichungen, marginale Notizen oder auch bloss Fragezeichen anzubringen.
Solcherart hervorgehobene, von ihrem Kontext abgehobene Sätze ermöglichen ein erweitertes, vielleicht willkürliches, aber tatsächlich eigenes Verständnis, wie es aus dem Gesamtzusammenhang des jeweiligen Werks nicht zu gewinnen ist. Hier eben, beim einzelnen, separat gefassten Satz, beginnt die Sinnbildung, beginnt der Text − sozusagen − aus der Schule zu plaudern.
Habe mir jüngst bei Beckett, bei Lichtenberg, bei Aristoteles diese aus dem Kontext gerissenen Sätze notiert: So I reason now, at my ease. − Perhaps a little smile, a little rictus rather. − Allein, was der Zahl nach Vieles ist, hat Materie. − Die Heylkunst sei gewissermassen die Gesundheit. − It was a grey hen, perhaps the grey hen. − Nicht der Same ist das Erste, sondern das Vollkommene. − Und so, gemeinsam und als einer, fangen wir an. − Erst töten wir sie und dann sie uns.
Oder auch diese Mikropoetik von William Carlos Williams: Bei seiner dichterischen Arbeit tut der Künstler nichts anderes als das, was das Auge mit dem Leben tun muss. (Nichts anderes unterstrichen, am Rand ein fettes Fragezeichen.)
Und noch eine Mikropoetik (wieder aus dem ursprünglichern Zusammenhang gerissen): Die Vollkommenheit, die man von den Kunstwerken fordert, liegt nur in ihnen selbst; es ist genug, wenn sie so und nicht anders beschaffen sind. (Ein Merksatz aus der Ethik − Teil II, Kap.4 − des Aristoteles; vielleicht sollte man hier, statt von Poetik, eher von Poethik sprechen?)

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Es gibt starke Autoren, die mehrheitlich in Marginalien schreiben und auf höchstem Niveau sich mit „Diversem“ auseinandersetzen, so Lichtenberg in den Sudelheften, Leopardi im Zibaldone, Hebbel oder Hopkins, Amiel oder Márai in den Tagebüchern, Hohl in den Notizen und Nachnotizen, Georges Perros in den Papiers collés und in seinen Briefen – Autoren, die allesamt auch ein „Werk“ vorgelegt haben, Erzählungen, Versdichtungen, mit denen sie aber formal wie gedanklich weit hinter den marginalen, vermeintlich beiläufigen und nebensächlichen Schriften zurückbleiben. Diese gewinnen über kurz oder lang souveränen Werkcharakter, während dem intendierten Werk solche Souveränität weitgehend fehlt.
Nur bei ganz wenigen besteht Gleichrangigkeit zwischen marginalen und zentralen Texten (Mallarmé, Valéry, Rilke, Breton, Char, Chappuis u.a.m.); und es gibt ausserdem Autoren, die fast ausschliesslich an den Rändern schreiben, um von dorther die „Mitte“ zu erreichen, Autoren ohne eigentliches, in sich geschlossenes, für sich stehendes Werk, unter ihnen Artaud, Ceronetti, Palinurus, Cioran; und wieder andere, die zur Gänze in ihrem Werk aufgehn und nichts Nebensächliches, Zufälliges, bloss Ergänzendes gelten lassen – Büchner, Dickinson, Rimbaud, Ducasse, Beckett; allzu viele sind es nicht.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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