Das Chaos der Alten

Aus welchen Wurzeln, Quellen, Zufällen die Wörter kommen! Man könnte tatsächlich meinen, wenn man ihrer Geschichte und Bedeutung nachgeht, sie seien „im Anfang“ schon immer gewesen. Damit lässt sich leicht die Vorstellung verbinden, wonach Wörter und Namen, einmal gesetzt, gleichsam organisch erwachsen und dabei allmählich ihre Sprachform, auch ihre Bedeutung modifizieren.
Anders ist es, versteht sich, bei gewollten beziehungsweise willkürlichen Neubildungen. Diese sind in aller Regel verhältnismässig genau zu datieren, man kennt ihr sprach- und zeitgeschichtliches Umfeld, oft auch ihre individuellen „Schöpfer“. Dies ist der Fall bei dem unverfänglichen Einsilbler „Gas“, einem Begriff, dessen Quelle man in der Wissenschaftssprache vermutet; von dort wäre er nachfolgend in den alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen.
Nach heutigem Forschungsstand geht das Wort „Gas“ auf das mittlere 17. Jahrhundert zurück. Erstmals findet es sich in einem medizinischen Handbuch, dessen Verfasser, Johan Baptista van Helmont, den Neologismus explizit für sich in Anspruch nimmt: „In Ermangelung eines Namens habe ich mir die Freiheit zum Ungewöhnlichen genommen, diesen Hauch Gas zu nennen, da er sich vom Chaos der Alten nur wenig unterscheidet.“
Gemeint war damit eine „rohe, gestaltlose Masse, luftleerer Raum“, ein Aggregatzustand, den man zuvor als Hauch oder, nach Paracelsus, als „luftförmigen Dampf“ bezeichnet hatte. Es brauchte noch einmal zweihundert Jahre, bis das Wort „Gas“ umgangssprachlich übernommen wurde. Erst die technischen Neuerungen des Ballonfahrens und der öffentlichen Gasbeleuchtung machten den Neologismus in vielen Sprachen populär.
„Gas“ ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass sich Wortneubildungen nur dann durchsetzen können, wenn sie in der normalen Erfahrungswelt eine nachhaltige Entsprechung finden. Das ist nur ausnahmsweise der Fall. Mehrheitlich verschwinden sprachliche (auch dichterische) Neologismen ebenso rasch, wie sie jeweils aufgekommen sind − ihre „Schöpfer“ haben darauf keinen Einfluss, entscheidend ist allein ihre Tauglichkeit für den allgemeinen Sprachgebrauch.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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