Für einen erweiterten Übersetzungsbegriff – Vorschläge, Beispiele, Fragen (1)

Das Geschäft des Übersetzens ist in jedem Fall ein Verlustgeschäft. Vorab die Lyrikübersetzung muss sich mit herben Defiziten abfinden, die nur in seltensten Fällen auszugleichen sind. Zu den Verlusten, mit denen beim Übersetzen eines Gedichts zu rechnen ist, gehören – unvermeidlich – Qualitäten wie Intonation und Stimmung, die nur in der Originalsprache voll zum Tragen kommen können. Ein Sonett von Shakespeare mit durchgehend dunklem Vokalismus oder eine Oktave von Mandelstam mit mehrfach wiederkehrenden Konsonantengruppen lässt sich auch bei höchster Texttreue in keiner Zielsprache adäquat nachbilden.
Fast ebenso gravierend sind die Defizite auf der Bedeutungsebene, die notwendigerweise entstehen, wenn gleichzeitig formale Vorgaben wie Metrum, Strophik, Reim berücksichtigt werden müssen. Jeder Lyrikübersetzer hat diese Grundsatzentscheidung zu treffen: Soll vorrangig die Aussage des zu übersetzenden Gedichts beziehungsweise das Gedicht als Aussage in die Zielsprache gebracht werden oder dessen formale Machart, mithin das Gedicht als sprachkünstlerisches Faktum?
Wer ein gereimtes Gedicht in freien Versen nachdichtet, vermag wohl eine weitgehende inhaltliche Übereinstimmung mit dem Original zu wahren, muss aber die dichterische Instrumentierung unberücksichtigt lassen. Diese heute weit verbreitete defensive Technik der Lyrikübersetzung nimmt von vornherein Verluste in Kauf, die von der Originalvorlage nur gerade den semantischen Grundriss erkennbar machen, nicht jedoch deren lautliche und rhythmische Qualitäten. Das Problem (und letztlich die Unstatthaftigkeit) dieses Verfahrens besteht darin, dass auf solche Weise nicht das Gedicht als ein Ganzes übersetzt wird, sondern lediglich – wie ein Prosatext – als eine lineare Abfolge von Wörtern und Sätzen. Dabei ist gemeinhin zu beobachten, dass derartige „wortgetreue“, an der „Aussage“ orientierte Übersetzungen in aller Regel deutlich umfangreicher ausfallen als die entsprechenden Originaltexte – die quantitative Mehrung lässt die qualitativen Defizite um so deutlicher hervortreten.

Gegenüber (und entgegen) der Gebrauchssprache zeichnet sich die Dichtersprache durch eine Vielzahl von rhetorischen – klanglichen wie bildhaften – Intensitätsbildungen aus, die insgesamt zur Verknappung der Ausdrucksweise führen: Dantes „Divina Commedia“ und „Wandrers Nachtlied“ von Goethe, also ein sehr langes und ein sehr kurzes Dichtwerk, sind dafür gleichermaßen beispielhaft.
Verknappung als sprachkünstlerisches Prinzip? Oder – nach Anton Tschechow – die „Kürze als Schwester des Talents“? Kürze ist nicht mit Verknappung zu verwechseln. Kürze mag die Folge formaler Verknappung sein, Verknappung also – Voraussetzung für intendierte Kürze. Kürze ist ein Faktum, Verknappung ein Prozess. Man mag dies mit Talent, mit literarischer Qualität zusammendenken, impliziert sind aber auch die Ökonomie, die Didaktik, die Popularisierung von Literatur. Man denke an die zahllosen Extrakte und Kompilate antiker Texte ad usum delphini, an die Erzählungen von C. und Mary Lamb nach William Shakespeares Dramen, an Gustav Schwabs purgierte Nacherzählung der Sagen des klassischen Altertums u.a.m.
„10 Klassiker der Weltliteratur, zusammengefasst auf 16 Seiten“ – darunter Romanwerke wie Victor Hugos Die Elenden oder Robert Musils Mann ohne Eigenschaften – bietet neuerdings der Buchverlag NZZ_Libro an. Mit Literatur als Kunst haben solche Textverschnitte nichts zu schaffen, doch sie erinnern daran, dass Literatur schon immer durch formale Verknappung auf Nebengleisen tradiert und verbreitet wurde, und es macht den Anschein, als gebe es dafür heute ein neues Publikumsinteresse, ein Interesse an rasch konsumierbarer Literatur gleichsam in Pillenform, was wiederum – obzwar auf trivialer Ebene – einem wachsenden Bedürfnis nach Intensität entspricht.
Verknappung, Intensitätsbildung sind bekanntlich ebenso an technischen Objekten zu erfahren: Die Geräte werden immer kleiner, gleichzeitig immer komplexer. Dass der Literaturbetrieb aber weiterhin Megaromane (etwa von Gaddis, Guyotat, Wallace, Pynchon, Littell, Nádas, Vollmann, Brown u.a.m.) lanciert und belobigt, die dem Umfang und also auch dem Lektürepensum nach von kaum einem Leser, kaum einer Leserin und auch nicht von der professionellen Kritik noch bewältigt werden können, macht dieses Genre zu einem obsoleten Anachronismus.

Wie aber ließe sich nun das Prinzip der Verknappung für die Lyrikübersetzung nutzbar machen? Da Übersetzung ohnehin ein Minusverfahren ist, sollte man vielleicht – und möchte ich jedenfalls – überlegen, ob nicht durch die bewusste Radikalisierung des übersetzerischen Verlustgeschäfts etwas gewonnen werden könnte; ob nicht vielleicht durch zusätzliche Einschränkungen und Verknappungen neue Qualitäten zu erschließen wären – durch die Fortlassung (und Neumontage) einzelner Verse oder Strophen, die Ausklammerung von Metaphern oder Vergleichen, den Verzicht auf bestimmte Adjektive oder Appositionen, die Brechung des Metrums u.ä.m.
Die Frage, die Überlegung mag provokant sein, verliert aber an Schärfe, wenn man umgekehrt bedenkt, was es bedeuten würde, einen vorliegenden Text – zumal ein Gedicht – in der Übersetzung und durch die Übersetzung zu erweitern, sie also um zusätzliche Verse oder Strophen zu ergänzen. Dieses Verfahren wäre kompromisslos abzulehnen, da es dem Originaltext Elemente beilegen würde, die der Autor nicht selbst verfasst und auch nicht vorgesehen hat. Anders bei der Kürzung: Hier werden ausschließlich Textextrakte verwendet, die im vorliegenden Gedicht jeweils vollumfänglich enthalten, wenn auch anders kontextualisiert sind.
Die Kürzung kann also, da sie den Kontext der betroffenen Strophe oder des Gedichts insgesamt auflöst, dazu führen, dass aus einem Landschaftsgedicht ein Liebesgedicht oder aus einem Liebesgedicht ein religiöses Gedicht wird, so wie, in struktureller Hinsicht, aus einer vielstrophigen Ballade ein Sonett, aus einem Sonett eine Oktave werden kann. Und mehr als das – aus einem schwachen oder mittelmäßigen Gedicht kann durch planvolle Reduktion und Remontage des Textbestands ein starkes Gedicht werden.
Die Frage nach Form und Bedeutung wird damit um die Qualitätsfrage ergänzt, die als solche die Grundsatzfrage nach sich zieht, ob die Übersetzung, so praktiziert, noch als Nachdichtung oder bereits als eigenständige Dichtung zu gelten hat und inwieweit sich bei diesem Verfahren der Status des Nachdichters dem des Originaldichters angleicht. Damit ist auch generell die Demarkationslinie zwischen dem Fremden und dem Eigenen erreicht, eine Linie, deren Übertretung man ablehnen mag, aber auch als eine qualitativ neue Schreibbewegung einüben kann – sei’s als eine besondere Art der Lyrikübersetzung, sei’s als eine neue spezifische Dichtungstechnik. Dichtungstechnik wäre in diesem Fall eine an (vorzugsweise gleichsprachigen) Fremdtexten applizierte Technik der Verdichtung.

Was sich da so innovativ, so spezifisch, vielleicht allzu fordernd oder gar unstatthaft ausnimmt, ist so neu auch wieder nicht, wenn man zum Vergleich andere – außerliterarische – Textsorten heranzieht, die eben dadurch charakterisiert sind, dass ihre Entstehung notwendigerweise die Verknappung eines bereits bestehenden Fremdtexts voraussetzt. Zu diesen reduktionistischen Textsorten gehören das Exzerpt und das Zitat (Auszüge aus Fremdtexten), aber auch das Kompilat oder das Plagiat (Montage von Fremdtexten), das Resümee (Zusammenzug eines Fremdtexts) und das Abstract (Zusammenzug eines eigenen Texts).
Eine Sonderstellung nimmt das Fragment ein, das zwar als Kurzform oder als gekürzte Form gilt, jedoch nicht durch Kürzung zustandekommt, sondern dadurch, dass es als Bruchteil eines geplanten, aber nicht abgeschlossenen Texts beziehungsweise als Restbestand eines verloren gegangenen Textganzen übrigbleibt. Ausschließlich reduktionistisch funktioniert bekanntlich auch die Zensur, die vorliegende Fremdtexte durch Kürzungen (Streichungen) in Übereinstimmung mit offiziellen, stets inhaltlich bestimmten Vorgaben (verbotene Begriffe, Namen, Anspielungen usf.) zu begradigen hat.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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