Michael Braun: Zu Kenah Cusanits Gedicht „7–4 v. Chr.“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Kenah Cusanits Gedicht „7–4 v. Chr.“ aus Kenah Cusanit: Chronographe Chorologien I. –

 

 

 

 

KENAH CUSANIT

7–4 v. Chr.

dieser Stall ist ein einfaches Konsulat am Rande der Stadt.
Joseph, darin also wiegt deine Frau etwas aufgespannt in
Gänzlichkeit, in Stroh und Haaren. Virgo Deum genuit? als
beruhigte sich der Kleine aber nicht genug. apparuit aber nicht
beruhigt. genuit quem divina voluit clementia, hiermit hilfst du
wiegen, clementia, hiermit wiegst du, damit sollst du belohnt
werden, das einfache Gottesgedicht, das sich dreht und
dreht und nicht vorankommt und omnes nunc concinite nie
vorankommt aber voce pia dicite belohnt wird in diesem
Somnus jedes Kindelein, Joseph, nato regi psallite

 

Wiegenlieder und lateinische Choräle

werden in der Lyrik des 21. Jahrhunderts in der Regel nicht mehr gesungen, und wenn sie dann doch anklingen, dann nur als grelles Zitat oder in ironischer Brechung. Kenah Cusanit (geb. 1979), die eigenwillige Dichterin, Philologin und Anthropologin, hat ein Faible für historisch versunkene Sprachen und ein fein ausgebildetes Sensorium für das Re-vozieren dereinst mächtiger Tonspuren. Ihr Gedicht setzt ein mit der Profanierung der Weihnachtsgeschichte, mit einem kühlen Blick auf die Darstellung der Geburt Christi, wobei nach jüngsten Forschungen die Erzählung des Matthäus-Evangeliums am wahrscheinlichsten gilt, wonach Jesus vor dem Tod von Herodes dem Großen geboren worden sei, also vor 4 v.Chr. In nüchtern soziologisierender Diagnostik hebt also das Gedicht an. Das Verb „wiegen“ wird als zentrales Motiv durchbuchstabiert – dabei liegen die profanierenden mit den pontifikalen Elementen des Textes im inneren Widerstreit. Der entmystifizierende Bericht von der Geburt des „Kleinen“ wird gedichtintern konterkariert durch die klanglichen Energien zweier Choräle und Kirchenlieder. Zum einen wird der älteste überlieferte Choral in lateinischer Sprache aufgerufen, „resonet in laudibus“, der auf eine Leipziger Handschrift vom Beginn des 14. Jahrhunderts zurückgeht, und zwar – so erklärt die Autorin in einem Brief – in der Fassung des barocken Komponisten Hieronymus Praetorius. Die fromme Gewissheit des Kirchenlieds: „Die Jungfrau hat Gott geboren“ („Virgo deum genuit“) und der KOLUMNE Glaube an die „göttliche Milde“ („divina clementia“) werden mit Fragezeichen versehen und zugleich rhythmisch ins Stocken gebracht. Die Lobpreisung des neugeborenen Königs („nato regi psallite“) reibt sich an der profanen Beobachtung eines unruhigen und schreienden Säuglings. So inszeniert Kenah Cusanit den Zusammenprall gegensätzlicher Tonlagen: Die religiöse Offenbarungsbehauptung kollidiert mit der nüchtern konstatierenden Stimme, die das Setting des Stalls in Bethlehem auslotet.

Michael Braun, Volltext, Heft 3, 2017

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