Silvia Volckmann: Zeit der Kirschen?

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Silvia Volckmann: Zeit der Kirschen?

Volckmann-eit der Kirschen?

VORAUSSETZUNGEN

3. DAS POETISCHE NATURBILD. VIER MODELLE 

Ob sprachlich-künstlerisches Abbild einer Naturerscheinung oder metaphorisches Sprechen ,durch die Blume‘, die Nennung von Natur im Gedicht ist dermaßen selbstverständlich, daß sie nur selten auf ihre Geltung hin befragt wurde. Das Naturbild als Element und Baustein der Lyrik bleibt ein Thema für Spezialisten, so scheint es: für Schöngeister und Toposforscher, die das Immergleiche in der (Literatur-)geschichte aufsuchen. Wo kritische Literaturwissenschaft sich dem Naturbild zuwendet, konzentriert sie sich entweder auf den illusionsbildenden, ideologischen Charakter von Naturbildern, den die Warenwerbung so gehörig auszubeuten weiß;1 oder aber sie spricht von Naturlyrik, d.h. vom Thema, nicht vom Bildfaktor Natur.
Zwar weist Norbert Mecklenburg darauf hin, daß sich mit dem Titel des Naturgedichts ein Lyrikverständnis verbindet, das als „Hypothek der Goethezeit“ anzusehen ist: 

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts bürgerte es sich ein, die Lyrik auch nach angeblich allgemein menschlichen ,Erlebnissen‘ einzuteilen, die lyrischen Inhalt ausmachen. Liebe, Religion, Natur seien solche Erlebnisse, Das Naturgedicht basiere auf Erlebnissen von immer wiederkehrenden Naturerscheinungen, es selbst wandele sich freilich nach Ort und Zeit mit dem Wandel der Erlebnisse oder, wie es meistens heißt, des Naturgefühls. Diese ,geistesgeschichtliche‘ Betrachtungsweise wiegt bis heute vor, wenn von Naturlyrik gesprochen wird.2

Nichtsdestotrotz scheint der Begriff des Naturgedichts unumgänglich. Mecklenburg schlägt einen definitorischen Minimalkonsens vor:

Naturlyrik – das sind Gedichte, die Natur zum Gegenstand haben.3

Dies trifft sich auf den ersten Blick mit den Ausführungen Gerolf Fritschs, der definiert:

Das Naturgedicht thematisiert das Verhältnis zivilisatorischer Epochen zur natürlichen Umwelt (…).4

Sieht man jedoch näher zu, so tritt die Argumentation der beiden Germanisten in einen problematischen Widerspruch. Denn: Was ist der ,Gegenstand‘ eines Gedichts? Bezeichnen wir so das ,Gemeinte‘, das ,Thema‘ und den ,Gehalt‘, auf den ein Gedicht verweist? Oder nennen wir so die ,Form‘ desselben, das sprachliche und bildhafte ,Rohmaterial‘, aus dem es sich herstellt? Ist ein Gedicht, das ,eigentlich‘ politisch-gesellschaftliche Intentionen verfolgt, sie aber im Medium von Naturmetaphern formuliert, ein Naturgedicht oder ein politisches Gedicht? Und gibt es Naturgedichte ohne Naturbilder?
Im Verlauf seiner Erörterungen macht Norbert Mecklenburg deutlich, daß er, wenn er von Natur als dem Gegenstand des Gedichts spricht, den Bildbereich im Auge hat, mit dem das Gedicht arbeitet; so kann er weiterhin davon sprechen, im Naturgedicht werde Natur poetisch bearbeitet.5 Demgegenüber neigt Fritsch zu einer mehr aussageorientierten Deutung des Gegenstandsbegriffs. Das wird deutlich, wenn er dem ,Naturgedicht‘ politisch-didaktische Funktionen zuschreibt: Die „poetische Chiffrierung“ von Natur wirke auf das Selbstverständnis der Menschen in ihrem Verhältnis zur Natur und fungiere daher im Sinne einer „poetischen Ökologie“; das Naturgedicht speichere „in poetischen Bildern historisch bedingte Naturanschauungen für das tradierbare kulturelle Gedächtnis auf“ und gebe utopischen Vorstellungen vom menschlichen Naturverhältnis ein sinnliches Korrelat.6
Die Gegenüberstellung belegt, daß bei Mecklenburg und Fritsch im Hinblick auf den Begriff der Naturlyrik eine Äquivokation auftritt, obwohl die Autoren in ihren theoretischen Prämissen weitgehend übereinstimmen. Noch die allgemeinste Bestimmung des Begriffs von Naturlyrik ist mißverständlich.
Es sei eine Banalität, so mag man einwenden, daß beide Aspekte des Naturlyrikbegriffs nicht so willkürlich zu trennen sind, wie dies eben geschehen ist. Einsichtig wird gleichwohl: Der Begriff von Naturlyrik führt in eine poetologische Form-Inhalt-Diskussion. Denn ein Naturgedicht ist weder dasjenige, das einen naturfremden Gedanken kurzerhand in Naturmetaphern kleidet, noch ist es dasjenige, das Natur – bar jeder sinnlichen Evokation – gedankenlyrisch und rhetorisch thematisiert; letzteres erhellt, wenn ich an anderer Stelle Enzensbergers Balladen aus dem „Mausoleum“ in polemischer Absicht als ,Naturgedichte‘ charakterisiere.7 Keins von beiden gilt als Naturlyrik im strengen Sinne. Naturgedichte liegen vielmehr irgendwo zwischen solchen Fronten – nicht etwa doch in dem Bereich, wo es um das ,Naturgefühl‘ geht?
Ein Beispiel soll das Gesagte illustrieren. Wolf Biermanns „Der Herbst hat seinen Herbst“ – Naturgedicht, Kritik des Naturgedichts oder Reflexion politischen Handelns? 

DER HERBST HAT SEINEN HERBST
Sanft
frißt der Schnee die Gärten
Von Buchen blättert der Rost
Und der Wind
mühelos erntet er
Spatzen vom kahlen Gesträuch

Der Herbst hat seinen Herbst
Bald
blüht schon der Winter
Eins nach dem andern
Es betet ihren Rosenkranz
und gelassen die Natur
Wir aber
Ja, aber wir
8

Zunächst ordnet sich das Gedicht bruchlos in den Rahmen klassischer Naturlyrik ein. Biermann knüpft an Bekanntes an. Das Beziehungsgefüge tradierter Jahreszeiten-Metaphorik bleibt unangetastet. In der herbstlichen Landschaft versinnlicht sich eine allgemeine Verfalls- und Vergänglichkeitsstimmung. Die Perspektive ist die des Melancholikers, der noch in der Todesnähe und im fatalen Kreislauf des sich nur scheinbar wandelnden Geschehens die Kongruenz und Harmonie von Mensch und Natur weiß.
Diese Darstellungsweise, die zu den Topoi überkommener Herbstgedichte zählt, unterstreicht Biermann durch die immanente Bildstruktur. Ein ruhiger, regelmäßiger Rhythmus der Verse übertönt immanente Spannungen. Daß hier als „sanft“ und „mühelos“ empfunden wird, was doch auch gewaltsame Züge trägt (darauf deuten Wörter wie ,fressen‘, ,Rost‘ und ,ernten‘ hin), tritt kaum heraus. Versöhnend schließt sich der Kreis, den die Anfangszeile mit ihrer metaphorischen Äquivokation andeutet. Einer solchen Versöhnung zwischen Mensch und Natur entspricht in der zweiten Strophe das Bild des Rosenkranzes, das, wie auch das paradoxe vom ,blühenden‘ Winter, das Hoffnungsmoment bei allem Fatalismus und aller Melancholie anzeigt.
Wo allerdings das traditionelle Herbstgedicht sein Ende fände, setzt hier der Lyriker erneut an. Mit der Schlußsequenz bricht ein zuvor ausgeblendeter Gesichtspunkt in das Gedicht ein. Während die Naturdarstellung die Kongruenz von Natur- und Gesellschaftsprozessen suggeriert, klagt nun ein gesellschaftliches Subjekt – ein „Wir“ – seine eigenständige Geltung ein. Was das Bild gefühlsmäßig anspricht, wird damit kontrapunktisch in Frage gestellt.
Ein didaktischer Gestus wird offenkundig. Von seinem Schluß her liest sich das Gedicht wie eine Anleitung zur kritischen Lektüre von Naturgedichten. Das Gedicht zielt nicht – wie Heines „Fräulein am Meere“ etwa – darauf ab, Naturlyrik ironisch zu vernichten. Es versucht vielmehr, auf die Dialektik von Identität und Nichtidentität in Natur- und Gesellschaftsprozessen hinweisend, die überlieferte Form reflektorisch zu ergänzen.9
Bei einer derartigen Modifikation wird die Bezeichnung des Naturgedichts unzureichend. Das zentrale Anliegen des Gedichts ist nun nicht mehr das Naturgefühl; dementsprechend ist die Bildlichkeit seltsam unkonkret und historisch unspezifisch. Das Naturgedicht mutiert unter der Hand zu einem Gedicht, dessen ,Thema‘ der Appell an menschliche Aktivität und Handlungsfähigkeit ist, die Kritik einer fatalistischen Haltung, die auch (aber nicht nur) in bestimmten Naturerlebnissen zum Ausdruck kommt.
Aufgrund derartiger definitorischer Schwierigkeiten verzichtet die vorliegende Arbeit soweit wie möglich auf den Begriff der Naturlyrik. Der Begriff des Naturbilds hingegen läßt sich einigermaßen umfassend beschreiben: 

Als Naturbilder bezeichne ich im folgenden diejenigen Partikel bzw. syntaktischen Einheiten innerhalb eines Gedichts, die von ihrer Semantik her auf Natur anspielen.10

Diese Definition umgeht die Unterscheidung einer ,sinnlichen‘ Darstellung im Bild und einer ,unsinnlichen‘ im Begriff.11

Ein Sprachbild ist ein Ausdruck (beliebiger Länge und Form), dessen Ausdruckswert mehr als eindeutig ist. (…) Fernhalten muß man bei einer Bild-Interpretation die Annahme, ein Sprachbild sei etwas Anschauliches. Es mag gelegentlich der Fall sein, daß sprachliche Ausdrücke, vom Auge oder vom Ohr aufgenommen, visuelle Erlebnisse heraufbeschwören. Aber andererseits sind diese Erlebnisse etwas anderes als Seh-Erlebnisse, zum anderen können Sprachbilder völlig andere Erlebnisse vermitteln; im wesentlichen bewirken sie Gefühls- und Gedankenerlebnisse (…). (In: Das Fischer-Lexikon Literatur 2/1. Hrsg. v. Wolf-Hartmut Friedrich und Walther Killy. Frankfurt a.M. 1965 (9. Aufl. 1977), S. 84)

Was das Bild vom Begriff unterscheidet, ist vielmehr die der poetischen Rede eigentümliche Polyvalenz. Sie bewirkt, daß die Extreme von sprachlichem Ausdruck und mitgeteiltem Sachverhalt in ein Gleichgewicht gebracht werden, während in der kommunikativen Alltagssprache, mehr noch in der diskursiven Wissenschaftssprache, der Bedeutungspol überwiegt. Jan Mukarovsky bemerkt zu dieser Besonderheit des poetischen Ausdrucks:

In der dichterischen Benennung überwiegt im Grunde weder der Pol der eigentlichen Bedeutung noch der Pol der übertragenen Bedeutung, sondern es herrscht in der Regel ein gespanntes Gleichgewicht das zwischen den auf die beiden Pole zielenden gegenläufigen Tendenzen oszilliert. Hier liegt die Ursache für den besonderen Charakter der dichterischen Benennung: einerseits vermittelt jede dichterische Benennung, auch die nichtbildliche (d.h. bei Mukarovsky die ,unsinnliche‘, bedeutungszentrierte – S.V.), den Eindruck der Bildlichkeit, andererseits besitzt jede dichterische Benennung in bestimmtem Maße Eigenschaften nichtbildlicher Benennung.12. 203/204

Zwar bleibt diese Bestimmung poetischer Bildlichkeit vorläufig rein phänomenologisch, aber sie bietet einen fruchtbaren Boden für die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion des poetischen Sprechens. Um dem naheliegenden Einwand zu begegnen, Mukarovskys Darstellung lasse sich nicht verallgemeinern, weil sie ihre Thesen an einer bestimmten Lyrikrichtung exemplifiziert,13 ist die Argumentation wiederum durch ein Beispiel zu stützen.
Die Gedichte Jürgen Beckers bedienen sich weitgehend einer Sprache, die auf geschlossene Metaphorik verzichtet und sich der kommunikativen Alltagssprache annähert. Gleichwohl dringen auch hier die typischen Bildstrukturen in die poetische Rede ein, möglicherweise nur dadurch, daß diese Rede als Gedicht geschrieben und rezipiert wird. Ihre Aufnahme in einen Gedichtband verwandelt eine Tagebuchnotiz; im Unterschied zur flüchtig notierten Erinnerung gewinnt nun jedes Wort eine Dichte, die zur Interpretation herausfordert. Eingebunden in die ,Institution Literatur‘ sagt das Gedicht mehr, als seine Worte unmittelbar ,meinen‘. 

WÄLDER

Heute lief ich in den Wäldern unten
am Fluß, und ich war glücklich über die Ruhe,
die Herbstsonne, die sanften Brennesseln und
die Kraft im alten Moos. Ich dachte
an den Abend gestern in Andre’s Restaurant;
Hasenrücken und Rotwein; Gespräche über
Stadtwohnung und Landsitz. Der gute Kollege,
der beides besitzt und den Feudalbegriff nicht mag,
lehnte auch die Wälder ab, Spaziergänge, vor allem
Niedersachsen; er sprach von Politik. So meinte
er das aber nicht, sagte später das Mädchen
in seiner Nähe; blutig riß ich mich an Dornen
.14

Das Gedicht nennt einige, scheinbar beliebige Erinnerungsfragmente: Gefühle und Gedankenfetzen, die sich bei einem Spaziergang einstellen. Auffällig ist, daß sich Realität als eine innere herstellt; die manifesten Aussagenbleiben rein privat und individuell, was durch Nennung von Eigennamen („Andre’s Restaurant“), die Speisekarte („Hasenrücken und Rotwein“) und eine – wenn auch allgemeine – Zeitangabe („Heute“) unterstrichen ist. Auf dieser Ebene läßt sich keine kohärente Argumentation erkennen; die Worte benennen nichts als die persönlichen Erlebnisse und Assoziationen des Herrn Becker und erscheinen für Außenstehende dementsprechend zusammenhanglos oder uninteressant.
Das Gedicht zeichnet indes nicht nur eine einmalige, sondern auch eine alltägliche Situation. Unter dem Gesichtspunkt dieser Alltäglichkeit – und damit Verallgemeinerbarkeit – gehorchen die scheinbar zusammenhanglosen und bloß privaten Erinnerungen einer klar gegliederten Struktur. Diese bleibt in der manifesten Rede weitgehend unsichtbar; lediglich einzelne Wörter und Aussagen verweisen auf ihre Existenz, so die Gegensatzpaare Stadt/Land, Natur/Politik, Glück/Scheinkommunikation.
Derartige Hinweise auf allgemeinere als nur die privaten Mitteilungen lassen aus der Tagebuchnotiz ein Stück Literatur werden. Indem der Lyriker sich als besonderes Individuum zugleich allgemein setzt (und nichts anderes bedeutet es, wenn er seine Privatheit als Gedicht formuliert,15 unterliegt seine Aussage dem von Mukarovsky beschriebenen Mechanismus des poetischen Sprechens. So kann man aus Beckers Gedicht einen Kommentar zu Brechts „Gespräch über Bäume“ ablesen, man kann von den Natursehnsüchten des Stadtmenschen in seinen entfremdeten Kommunikationszusammenhängen hören und anderes mehr, was man in einem Bericht gleichen Wortlauts nicht vermuten oder beachten würde, wenn er in einer direkten Kommunikationssituation gegeben würde.
Welche Schlußfolgerungen ergeben sich aus diesem Einblick in die Besonderheiten der poetischen Rede? Im Doppelcharakter von Signifikat und Signifikant, wie ihn das lyrische Sprechen gleichsam ausstellt, reflektiert sich die Bedingtheit des Sprechens überhaupt. Die lyrische Bildsprache erinnert an die grundsätzliche Differenz zwischen sprachlicher Benennung und dem benannten Gegenstand bzw. Sachverhalt. „Bildspender“ und „Bildempfänger“ (Weinrich) stimmen strukturell nicht überein. Zwischen ihnen existiert ein Bruch, der die beiden Seiten der einen Aussage verschiedenen Sphären zuweist. Wo mitteilendes Sprechen die Differenz zwischen Begriff und Sache vergessen macht, lenkt die Bildsprache die Aufmerksamkeit auf eben diese „Abwesenheit“ (Althusser). Auf diese Weise deutet sie implizit darauf hin, daß das Realobjekt im poetischen, aber auch im erkenntnismäßigen Transformationsprozeß eine Veränderung erfahren hat, in der sich grundlegende psychologische, epistemologische und historisch-gesellschaftliche Strukturen manifestieren. Daher erscheint es angemessen zu sagen, daß der literarische Text paradoxerweise „transsprachlich“ wirkt, insofern er „Sprache seiend, Sprache nutzend doch zugleich die Sprache als Zeichen durchquert, sie als Träger von Bedeutung in Frage stellt.“16
Christian Enzensberger hat neuerlich dargelegt, daß kein literarisches Werk den totalisierenden, ideologisierenden Funktionen der Sinnstiftung entgehen kann und daher immer schon im Interesse bestehender Herrschaft agiert.17 Dem ist entgegenzuhalten, daß der kohärente ,Sinn‘, den das literarische Werk einer inkohärenten Realität unterschiebt, zugleich durch die Ambiguität der Bildstruktur, die Transsprachlichkeit des Textes in Frage gestellt wird. Der Sinndeutung, die der Text herausfordert, setzt er auch ihre Grenzen: Kein literarischer Text läßt sich vollständig auf seinen ,Sinn‘ reduzieren, vermag also das Bestreben nach einer kathartischen Lösung des Sinnzweifels18 dauerhaft und vollständig zu befriedigen.
Ein weiteres Exempel mag die Argumentation illustrieren. Es ist nicht schwer, an einem Gedicht Hans Magnus Enzensbergers Adornosche Gedanken wiederzuerkennen:19 

KIRSCHGARTEN IM SCHNEE

i
was einst baum war, stock, hecke, zaun:
unter gehn in der leeren schneeluft
diese winzigen spuren von tusche
wie ein wort auf der seite riesigem weiß:
weiß zeichnet dies geringfügig schöne geäst
in den weißen himmel sich, zartfingrig,
fast ohne andenken, fast nur noch frost,
kaum mehr zeitheimisch, kaum noch
oben und unten, unsichtig
die linie zwischen himmel und hügel,
sehr wenig weiß im weißen:
fast nichts –

ii
und doch ist da,
eh die seite, der ort, die minute
ganz weiß wird,
noch dies getümmel geringer farben
im kaum mehr deutlichen deutlich:
eine streitschar erbitterter tüpfel:
zink-, blei-, kreideweiß,
gips, milch, schlohweiß und schimmel:
jedes von jedem distinkt:
so vielstimmig, so genau
in hellen gesprenkelten haufen,
der todesjubel der spuren.

iii
zwischen fast nichts und nichts
wehrt sich und blüht weiß die kirsche
20

Eine eigentümlich lebendige Statik fällt auf. Der bildliche Umfang des gesamten Gedichts ist bereits mit den ersten drei Zeilen abgesteckt: Hier wird kein Natur-Geschehen beschrieben, sondern eine spontan und gleichzeitig sich vollziehende Naturwahrnehmung wird in die gedanklich-sprachliche Sukzession aufgelöst. Die Bewegung verläuft derart vom abstrakten Umriß zur Konkretion, von der Wahrnehmungsform zum Wahrnehmungsinhalt. In der poetischen Darstellung wird ein malerisch-räumliches Nebeneinander in ein zeitliches Nacheinander übersetzt, ein Vorgang, durch den zugleich verschiedene Lesarten, verschiedene Aneignungsweisen des realen Naturgegenstands in die lyrische Einheit integriert werden.
Der Aufbau des Gedichts verhält sich damit reziprok zur dargestellten Naturerfahrung. Diese nämlich basiert auf dem Eindruck von Entzeitlichung, Nivellierung qualitativer Unterschiede im leeren Anschauungsraum. Die Sprache bewegt sich im Niemandsland zwischen Anschauung und wissender Wahrnehmung; dies bezeugt die ungewöhnliche Häufung negativer Bestimmungen: „winzig“, „geringfügig“, „fast nichts“, „kaum“ usw. Der sinnliche Schein unmittelbarer Identität löst sich mit der sprachlichen Reflexion auf. Die Benennung der Empfindung ist zugleich ihre Differenzierung. In immer neuen Anläufen wird die Anschauung eingekreist, im Medium der Metapher und des Vergleichs Namenloses dingfest gemacht.
Drei ineinandergreifende Bildstränge lassen sich ausmachen: der der Naturvorgabe, der ihrer künstlerischen Nachgestaltung und der ihrer Deutung in einer Kriegs- und Kampfmetaphorik. Mit der Verschiebung hin zur martialischen Bildlichkeit der zweiten Strophe, die an Picassos „Guernica“ denken läßt, gerät die Naturanschauung zum Gleichnis individuellen Widerstands gegen eine Übermacht des Allgemeinen („weiß“). So gesehen wird das Naturgedicht zum poetischen Modell negativer Dialektik.
Eine frühere Fassung des Gedichts21 belegt, daß diese Deutung nicht aus der Luft gegriffen ist. Diese Fassung enthält – neben Bagatellverschiebungen in Zeichensetzung und Zeilenbrechung – zwei grundlegende Abweichungen zu der oben zitierten aus Blindenschrift. Zum einen hat Enzensberger den Titel geändert: Aus dem ursprünglichen „fränkischer kirschgarten im januar“ ist das neutralere, allgemeinere „kirschgarten im schnee“ geworden. Zum anderen enthält die frühere Fassung zwei die zweite Strophe beschließende Zeilen, die später ersatzlos gestrichen worden sind. Dort heißt es:

(…)
der todesjubel der spuren:
wieviel büschel von winzigen weißen schreien
vor der gähnenden siegerin ewigkeit
22

Der stärker an ein unmittelbares Erleben, an einen außerliterarischen Anlaß gebundenen Titelgebung korrespondiert also eine die Naturmetaphorik ins Ontologische überhöhende Sequenz. Durch die Personifikation von „ewigkeit“ gewinnt das Gefühl der Zeit- und Geschichtslosigkeit materielle Substanz. Die Verweisungsstruktur der Bildlichkeit ist mit ihrer Eingliederung in die Kampfmetaphorik eindeutig bestimmt. Diese Eindimensionalität ist später zugunsten erhöhter Mehrwertigkeit aufgegeben, Die Überarbeitung mildert die Polarisierung von unmittelbarem Naturerleben auf der einen und ontologischer ,Bedeutung‘ auf der anderen Seite ab, ohne daß dabei etwas von der grundsätzlichen Tendenz verloren geht.
Das Gedicht schlägt sich auf die Seite der Opfer, der verschwindenden Nuancen und Individualitäten angesichts einer alles ausgleichenden Allgemeinheit. Mit dem Gestus des Entdeckens und Vorzeigens werden die Unterschiede im scheinbar amorph weißen Naturbild aufgeführt. Mit der subtilen Benennung der Differenzen entsteht ein Lobgedicht auf die unterdrückte „Nichtidentität“ (Adorno).
Mit dieser Erkenntnis allerdings ist die Substanz des Gedichts keineswegs erschöpft. Vielmehr verweigert sich die polymorphe Bildsprache dem Bestreben des logisch-rationalen Bewußtseins, Komplexität auf widerspruchslose Gleichungen zu reduzieren. Eine Vielfalt von Alliterationen und Assonanzen im formalen, Anspielungen im inhaltlichen Bereich (etwa die Anspielung auf die Kunstsphäre oder die auf eine subjektlos daseiende Natur) aktivieren ,Bedeutungen‘, Empfindungen und Kenntnisse, die in keiner begrifflichen Interpretation aufgehen. Durch die Verweisstruktur des Bildes wird eine Verquickung verschiedenartigster Ebenen angedeutet, die begrifflich oder graphisch nur mit Mühe darzustellen wäre.
Vor diesem Hintergrund wird einsichtig, daß die Inkongruenz von bildhaftem Ausdruck und unterstellter Aussage eine selbständige Funktion des Naturbildes gegenüber einer jeden diskursiven Naturaussage begründet – ein Moment, das z.B. Fritsch in seiner Bestimmung des Naturgedichts gänzlich außer acht läßt.23 Der Gegenstand des poetischen Naturbildes, dies sollte klar geworden sein, ist weniger ein außersprachliches Naturobjekt als vielmehr die Dissonanz zwischen dessen Begriff, seiner sprachlichen Benennung und deren Evokationen. Man kann noch weitergehen: Einen fixen Bestand hat nur die Benennung. Das, worauf sie anspielt hingegen, bleibt polyvalent.
Keiner der Pole läßt sich auf den je anderen reduzieren: das Naturbild nicht auf seine ,Bedeutung‘, und deren Komplexität wiederum geht nicht im Sprachbild auf. Das heißt: Das Naturbild verweist zwar auf den Bereich bekannter Naturvorstellungen und -ideologien; kraft der spezifischen Bildstruktur jedoch emanzipiert es sich ebensosehr von ihnen, produziert eine Distanz zu ihnen.24
Gegenüber den ideologischen Rastern, innerhalb derer sich die Rede über Natur vollzieht, gewinnt das Naturbild so eine potentiell kritische Funktion. Das bedeutet nicht, daß es eine solche ausdrücklich formulieren muß. Die Qualität eines Naturbildes bemißt sich nicht an den in ihm übermittelten Informationen, Erkenntnissen oder Gefühlen im Hinblick auf das Realobjekt Natur. Erst in zweiter Linie kommt es darauf an, welche Naturerkenntnisse, welchen Naturbegriff, welche Reflexion des politischen Faktors Natur das Naturbild integriert und in popularisierender Absicht ,versinnlicht‘. Sicherlich gilt alles, was G. Fritsch zum Naturgedicht sagt, bedingt auch für das einzelne Naturbild. Es bleibt jedoch fraglich, ob nicht das Gros poetischer Naturbilder angesichts derartiger moralischer, politischer, wissenschaftlicher, kurz: konstruktiver Ansprüche kläglich versagt.
Daß die ureigene Leistung des literarischen Naturbilds demgegenüber eher ,negativ‘ ist, läßt sich sinnfällig an einem Gedicht Sarah Kirschs demonstrieren. Wäre hier das Naturbild nichts als Naturerkenntnis oder auch Antizipation, dann fiele es ausnahmslos unter das Verdikt Christian Enzensbergers. Es wäre mit Sinn aufgeladene Widerspiegelung realer Natur, d.h. affirmative Funktion gesellschaftlicher Machtausübung. Aber der ,Spiegel‘, den das Bild dem Realobjekt entgegenhält, ist brüchig geworden.25 Mit der Vielfalt metaphorischer Implikationen blockiert das Naturbild die gedankliche Einbahnstraße, die – und das ist das Grundmuster von Ideologie par excellence – von der Wahrnehmung zur Erkenntnis führt.

(„Wiepersdorf“) 2 

Hinter Jüterbog öffneten sich
Der erste, der zweite Himmel, ließen herab-
Strömen, was sich gesammelt hat, siehe
Es wurde ein mächtiger blasenschlagender
Landregen draus, es goß sogar Schwefel.
Später in Wiepersdorf, als zwischen zwei
Windhosen die Möglichkeit war sich zu ergehen
Das liebe freie Land
Recht ins Auge zu fassen, war Freude
Freude. Die schönen Fenster im Malsaal
Öfters sechs mal vier kleine Scheiben, die Flügel
Von zierlichen Knebeln gehalten. Innen
Bizarres altes schlängelndes zipfelbemütztes
Kakteengewirr, außen
Maifrischer Park.
Die Steinbilder lächeln – ich ging
Gleich bis zum Zeus, der hielt den Blitz an der Stelle
Wo der Park mit dem Wald schläft. Englischer Rasen
Den bläuliches Waldgras verstrickt hat, es reckt
Noch ein Fliederbusch wirklich!
Vergißmeinnichtblaue Finger zum Himmel und
Selbstverständlich Unmassen Vögel ringsum
In Büsche und Bäume geworfen. Ich staunte
Vor Stunden noch enge im Hochhaus
In der verletzenden viereckigen Gegend, nun
Das – ich dachte bloß noch: Bettina! Hier
Hast du mit sieben Kindern gesessen, und wenn
Landregen abging
Muß es genauso geklappert haben Ende Mai
Auf die frischaufgespannten Blätter – ich sollte
Mal an den König schreiben
26

Eine erste Lektüre läßt das Naturbild durchaus kohärent und von zielstrebiger Rationalität erfüllt erscheinen: Im Bild der Landschaft ist geschichtliche Tradition ,aufgehoben‘ – im dialektischen Sinne des Wortes. Das Gedicht zieht eine Linie von der unbeherrschten, menschenfernen Naturgewalt über deren Antipol, das menschliche Individuum, hin zu einer gestalteten, domestizierten Natur, um schließlich einzumünden in eine verhaltene Reflexion historisch-sozialer Ungleichzeitigkeiten. Mit gleichsam filmischem Szenenschnitt sind diese vier Stationen hier zusammengedrängt. Wie es scheint, erreicht die sinnlich-imaginierte Naturdarstellung ihren Höhepunkt in der (utopischen) Einheit von Natur und Geschichte, komprimiert im Bild der sexuellen Vereinigung von Park und Wald und den anthropomorphisierenden Verben, mit denen die Wiepersdorfer Landschaft dargestellt ist.
Doch eine solche Interpretation ist keineswegs ungebrochen haltbar, auch wenn sie den Intentionen der Lyrikerin durchaus entsprechen mag. Der Bruch liegt nicht, wie man oberflächlich vermuten könnte, in dem Hinweis auf die „viereckige“ Stadtlandschaft oder in der Dynamik des Eingangsbildes, die durch das Ineinander von modern-naturwissenschaftlicher Makroperspektive und apokalyptisch-mythischer Bildlichkeit entsteht. Der Bruch liegt vielmehr in den ungenannten Leerräumen zwischen subjektiv-emotionaler Darstellungsweise und gedanklich-ideologischer Reflexion.
Die Schnittstellen zwischen den einzelnen Bildkomplexen markieren solche Leerstellen: der Wechsel der Subjektfunktionen, die scheinbare Unmittelbarkeit des Erlebens, die sich unverhofft im abstrakten Raum der amoenen Landschaft wiederfindet („Selbstverständlich Unmassen Vögel“) und schließlich die vielsagende Offenheit des Schlusses, der mit denselben Worten die geschichtliche Parallele wie ihre Unzulänglichkeit zitiert.
Auf diese Weise ist die lineare Konsequenz der Naturaussage zwar nicht zurückgenommen, aber doch eingeschränkt. In der Form spiegelt sich eine Struktur der Natur, wie sie vorne als dezentrierte beschrieben worden ist;27 die gedankliche Natur- und Geschichtsdarstellung hingegen bleibt konzentrisch gebunden.
Indem Ausdrucksform und Ausdrucksinhalt derart gegeneinander arbeiten, artikuliert sich im poetischen Bild ein Widerspruch, dem – folgt man den Theoriemodellen des französischen Strukturalismus – ein fundamentaler psychologischer Konflikt zugrundeliegt: der zwischen der diffusen Mehrfunktionalität des Lustprinzips und der Einsinnigkeit und rationalen Stimmigkeit, die die Norm des Realitätsprinzips ausmachen.28 Im Anschluß an dieses Modell beschreibt Hans-Thieß Lehmann den poetischen Text als „artikulierten Trieb“:

Die Textpraxis fällt in gewisser Weise immer hinter die politische Klarheit zurück, gerade weil sie das Subjekt, seine Ideologie, zu dem Ort macht, an dem die Konflikte ausgetragen werden. Das Subjekt erscheint als Ort unhaltbarer Widersprüche. Die Textpraxis attackiert die Herrschaft der unterjochten Sprache, der Einschnürung und ,Kasernierung der Phantasie‘, es (sic!) vertritt die Rechte des Weiblichen, Passiven gegenüber dem Patriarchat, das auch ein Patriarchat der gewaltsam geordneten, rationalisierten Sprache ist, die Rechte des ,Wirrwarr‘ gegen eine falsche Ordnung. (…) Die symbolische Ebene, die Sprache als nach dem Sinn ausgerichtetes System, ist als Herrschaft des Ich über die Libido unmittelbar verwachsen mit der ideologischen Fixierung der Identität. Die gewaltsame, nicht zuletzt sexuelle, Identifizierung des Subjekts, das als Ort einer Eindeutigkeit, eines Sinns erscheint, das seine Verrücktheiten unter die Oberfläche drückt, hängt zusammen mit der Identität des gesellschaftlichen Agenten, der als Subjekt behandelt wird von der Ideologie, damit er seine wahre Stellung als Element einer ihm opaken Struktur des Ganzen nicht wahrhaben will. Die wirklich politische Funktion des Textes liegt im Angriff auf diese fundamentale ,Ideologizität‘.29

Es ist kaum ein Zufall, daß sich Lehmanns Bemerkungen bis in die Formulierungen hinein mit dem decken, was Herbert Marcuse als das Versprechen der Natur gedeutet hat.30 Denn die Begriffe von Natur, Poesie und Psyche scheinen derselben Struktur zu unterliegen: Was für das Naturmoment seine ontologische „Negativität“ ist,31 seine Verweigerung gegenüber einer restlosen gesellschaftlichen Usurpation, ist im Freudschen Modell der Psyche das „Es“, das sich radikal den moralischen und gesellschaftlichen Normen entzieht und als Unbewußtes die Anpassung und Restriktion des „Ich“ unterläuft. Dasselbe subversive Moment nun findet sich auch im literarischen Text: Die fundamentale Ambiguität des poetischen Bildes, seine Darstellung der Negativität (als Bruch zwischen Signifikat und Signifikant) zeigt sich als formales Korrelat der inhaltlichen Bestimmtheit der Natur bzw. der Psyche.
Die Strukturgleichheit der drei Momente bietet ein Erklärungsmodell für die gleichsam überhistorische Existenz von Naturbildern in der Lyrik an: Im Naturbild verschmelzen individualpsychologische, gesellschaftliche und textuelle Triebfaktoren zu einer Symbiose, zumal das Gedicht diejenige Textsorte ist, die am stärksten mit der Polyvalenz der Sprache operiert.

 

 

 

Vorbemerkung

Auf der Frankfurter Buchmesse 1980 trafen sich einige Schriftsteller – vornehmlich solche, die aus der DDR in die Bundesrepublik übergewechselt waren – zu einer Diskussion über die Frage einer gemeinsamen deutschen Literatur.32 Auch wenn die Problemstellung den betroffenen Literaten allzu „akademisch“ vorkam, so hat sie doch unter den gegebenen Umständen eine größere Bedeutung als noch vor wenigen Jahren. Denn seit der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 hat die DDR einen regelrechten Exodus ihrer Dichter erlebt, so daß nun ein Großteil der in der DDR gewachsenen Literatur in der Bundesrepublik stattfindet. Dementsprechend wird das Thema „Deutschland“ wieder zu einem Gegenstand der literarischen Auseinandersetzung.33 Hatte Fritz J. Raddatz noch 1972 apodiktisch die Existenz zweier deutscher Literaturen behauptet,34 so korrigiert er nun diese Auffassung: 

Was beiden Deutschland noch gemeinsam ist, das führt heute am ehesten noch die Literatur vor. Besitzverhältnisse sind unterschiedlich, und Sozialstrukturen, Arbeitsbedingungen sind anders in beiden Vaterländern. Die Literatur – formuliert sie nun Ängste oder Hoffnungen, Zwänge oder Aufbrüche – ist eine einzige.35

Die Frage, um die es hier geht, stand gemeinsam mit der nach der Funktion des Naturbilds in einer naturfeindlichen Gesellschaft am Anfang der vorliegenden Untersuchung. Gibt es, so lautete die Problemstellung, prinzipielle Strukturunterschiede zwischen der Lyrik der Bundesrepublik und der der DDR, und wenn ja, wie prägen sie sich am Naturbild und an der Naturauffassung aus? Die Problematik ist bis zur Fertigstellung der Arbeit dieselbe geblieben. Die Bedingungen aber, unter denen der Untersuchungsgegenstand erscheint, haben sich inzwischen entschieden gewandelt. Wenn man bedenkt, daß zu Beginn des Projekts noch niemand daran dachte, daß binnen kurzem alle hier behandelten Autoren in der Bundesrepublik leben und arbeiten würden, erscheint die Wahl der Autoren weniger willkürlich, als dies nun der Fall sein mag: Zwei Lyriker der Bundesrepublik, die in der Formgestaltung ihres Werks nahezu die Extreme des lyrischen Spektrums bilden, sollten konfrontiert werden mit zwei Lyrikern aus der DDR, die ebenfalls konträre poetische Positionen repräsentieren.
Jede ökonomische, soziale und kulturelle Besonderheit eines Landes wirft Fragen auf, die für dieses Land charakteristisch sind. Die Literatur bietet – oft nur implizit – Antworten auf diese Fragen an. Daher setzen die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen eine Literatur wurzelt bzw. auf die sie reagiert, den Rahmen dessen, was literarisch ,machbar‘ ist. Dies ist der Grund dafür, daß Sarah Kirsch und Wolf Biermann hier fraglos als ,Lyriker der DDR‘ erscheinen: Die Voraussetzungen, unter denen sich ihre Thematik und ihr Stil ausgeprägt haben, sind die der DDR. Aus dem gleichen Grund blendet die Arbeit die Lyrik Österreichs und der Schweiz vollständig aus. Denn auch hier werden kulturelle Eigenarten wirksam, die bei allzuweit gespanntem Blickwinkel untergehen würden.
Im Verlauf der Arbeit kam ich zu der Überzeugung, daß die Frage nach Einheit oder Spaltung der deutschen Literatur nicht auf dem Feld der Literaturwissenschaft zu beantworten ist. Welchen Stellenwert nämlich die auftretenden Unterschiede haben, ob man ihnen fundamentale Bedeutung zuspricht oder sie als Modifikationen eines gemeinsamen Ganzen begreift, ist letztlich abhängig von politischen Definitionen und Perspektiven. Unter dem Aspekt der Gemeinsamkeit von Sprache, nationaler Geschichte und kultureller Tradition erweisen sich die Literatur der DDR und die der Bundesrepublik als zwei Seiten einer Medaille. Unter den Aspekten hingegen der poetologischen Basis und des Verhältnisses zur gesellschaftlichen Umwelt handelt es sich um zwei Literaturen, die entgegengesetzte Antworten auf bisweilen ähnliche Fragen geben. Aus dieser Überlegung heraus verzichtet die Arbeit auf eine eindeutige Aussage zu diesem Themenkomplex. Im Mittelpunkt des Interesses steht die kategoriale Differenzierung, nicht eine leicht faßliche Pointe.
Im Hinblick auf den Vergleich hätte ich mir eine deutlichere Analogie in der Autorenkonstellation gewünscht. Zwar stellen sich in den Kapiteln zu Enzensberger und Biermann (den Vertretern einer politisch motivierten Lyrik) einerseits sowie in denen zu Becker und Sarah Kirsch (als Vertretern einer „subjektiven“ Lyrik) andererseits gesamtdeutsche Querverbindungen her. Aber die Kapitel zu Becker und Kirsch stehen stärker für sich als die begrifflich sinnfällig einander zugeordneten zu Enzensberger und Biermann. Diese ,Unregelmäßigkeit‘ rührt daher, daß innerhalb der bundesdeutschen Lyrikszene keine Lyrikerin der entsprechenden Generation als Pendant zu Sarah Kirsch in Frage kam36 und so die Frage nach einer möglichen „weiblichen“ Textkonstitution nicht im Rahmen des deutsch-deutschen Vergleichs behandelt werden konnte. Umgekehrt stellen sich in der Lyrik der DDR nicht die Probleme einer „authentischen“ Schreibweise; so bleibt auch Jürgen Becker ein bundesdeutscher Fall, zu dem es keine Parallele in der Lyrik der DDR gibt.

Es ist ein beliebter Vorwurf an die Adresse von Literaturwissenschaftlern, daß sie – wenn sie sich überhaupt der Gegenwartsliteratur zuwenden – die lebenden Autoren behandeln, als seien sie jahrhundertelang tot. Tatsächlich birgt die wissenschaftliche Behandlung von Gegenwartsliteratur eine doppelte Problematik: 

1.) Das Schreiben eines Autors wird zum Objekt degradiert. Obwohl es, da es nicht abgeschlossen ist, keine fixierbare Einheit, also kein „Werk“ im strengen Sinne darstellt, wird es als solches behandelt. In der Darstellung erscheint der Prozeß des Schreibens als geschlossenes System, das lebendige Schaffen als statisches Schema der Begriffe. 

2.) Diese Inkongruenz von Arbeitsgegenstand und Arbeitsresultat betrifft auch den Literaturwissenschaftler. Denn er hat es mit einem Untersuchungsobjekt zu tun, das sich seinem Zugriff permanent widersetzt. Jede neue Publikation ,seines‘ Autors nimmt er mit der Sorge auf, sie könnte die Ergebnisse der bisherigen Arbeit in Frage stellen.

Ad 1) Die Vorstellung, die analytische Darstellung müsse mit dem Gegenstand der Darstellung kongruieren, beruht auf einem Mißverständnis. Das Verhältnis beider ist keines der Abbildung. Daß das Begriffsschema, das die wissenschaftliche Arbeit für einen Text erstellt, nicht mit dem literarischen Text selbst verwechselt werden darf, ist eine Banalität. Die Literaturwissenschaft sollte sich also nicht schämen, ihren Gegenstand auch als solchen zu behandeln. Wo hätte man je gehört, daß ein Physiker Skrupel hat, ein Naturgesetz zu formulieren, allein weil Natur auch eine sinnliche Dimension hat? Die Literaturwissenschaft ist gezwungen, ihren Gegenstand – um ein Wort Walter Benjamins abzuwandeln – „aus dem Kontinuum des Lebens herauszusprengen“. Hier liegt ihre – meist schamhaft verschwiegene – Grenze: Wo es um die lebendige Unmittelbarkeit eines literarischen Werks geht, bleibt die wissenschaftliche Analyse hinter der Lektüre des Laien zurück. Doch diese Grenze begründet zugleich die Aufgabe literaturwissenschaftlicher Arbeit: Indem sie die Unmittelbarkeit des Lesens einer Reflexion unterwirft, vermag sie allererst die Existenzbedingungen und Funktionsweisen des Textes zu erfassen und ermöglicht so die Kritik des ideologischen Rasters, das in der scheinbaren Unmittelbarkeit wirksam wird.

Ad 2) Die Analysen der vorliegenden Arbeit wurden im Laufe des Jahres 1980 abgeschlossen. Inzwischen liegen Neuveröffentlichungen der Autoren vor: eine Platte von Wolf Biermann („Hälfte des Lebens“)37 ein Band lyrischer Prosa von Sarah Kirsch (La Pagerie)38 und schließlich ein Gedichtband von Hans Magnus Enzensberger (Die Furie des Verschwindens).39 Ein flüchtiger Blick auf diese Publikationen ist aufschlußreich: 

– Biermanns Schallplatte fügt sich nicht bruchlos in das hier vorgeschlagene Kategorienschema ein. Es kann jedoch auch keineswegs von einem Bruch im Werk des Liedermachers gesprochen werden. Denn nur wenige Texte der Schallplatte stammen von Biermann selbst. Dieser stellt vielmehr Gedichtvertonungen von Hölderlin bis Peter-Paul Zahl und Jürgen Fuchs zusammen. Die kunstvollen Leerstellen und Sprünge der Platte verhindern, daß sich die Montage der Gedichte widerstandslos einem „symbolischen“ Prinzip subsumiert. Die Ursache dieser Abweichung könnte in Biermanns Wechsel von Ost nach West zu suchen sein: In der Bundesrepublik sind die Chancen einer unmittelbaren politischen Wirkung geringer als in der DDR. Das Pendel zwischen Kunst und Politik schlägt dementsprechend nach der Kunst-Seite aus, was als Verzicht auf diejenigen literarischen Techniken erscheint, die primär auf emotionales Einverständnis in der Wirkung abzielen.

– Auch an den neuesten Arbeiten von Sarah Kirsch scheint der Staatenwechsel nicht spurlos vorübergegangen zu sein. Während der Gedichtband Drachensteigen (1979) gleichsam noch von einem poetischen Überschuß aus der DDR-Zeit zehrt, präsentiert sich La Pagerie weniger konzentriert als die früheren Arbeiten der Autorin. Hier fehlen zum großen Teil die poetischen Stolperdrähte, die verhindern, daß der „Sarah-Sound“ (Peter Hacks) zur bloßen ,Masche‘ wird. Es wäre allerdings verfrüht, an dieser Stelle Schlußfolgerungen zu wagen.

– Demgegenüber bestätigt der neue Lyrikband Enzensbergers die Ergebnisse dieser Arbeit. Es ist interessant, daß der Autor hier zu literarischen Techniken zurückkehrt, die insbesondere seine frühe Lyrik kennzeichnen. Allerdings – und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend – fehlt nun die positive Naturbildlichkeit der ersten Gedichtbände. 

Abschließend kurz einige Bemerkungen zu Gliederung und Vorgehensweise:
Die Arbeit zerfällt in drei Teile. Teil I formuliert die terminologischen Prämissen, die implizit in die Untersuchung der Gedichte eingehen. Teil III versucht, die Frage nach Funktion und Gebrauch des Naturbildes in der Lyrik zweier deutscher Staaten zu beantworten. Diese Rahmenteile bleiben notwendig fragmentarisch. Zugunsten der Lesbarkeit wurde auf allzu weitläufige ökologische, philosophische und poetologische Erörterungen ebenso verzichtet wie auf eine Gesamtschau deutscher Gegenwartslyrik.
Der Mittelteil, die textnahe Analyse, bildet den Schwerpunkt der Arbeit. Hier habe ich mich bemüht, die Argumentation streng auf die Problemstellung zu konzentrieren. Da es sich um eine paradigmatische Motivuntersuchung handelt, sind spezielle Fragen, die die Autoren betreffen, ausgeblendet. Sie müssen monographischen Abhandlungen überlassen bleiben. Den vier Kapiteln des zweiten Teils ist gemeinsam, daß sie nach Kategorien fahnden, nach denen sich das Naturbild jeweils organisiert. Dabei werden unterschiedliche Bedingungen wirksam: Den verschiedenen Schreibweisen entsprechend differieren auch die Bezugsfelder, innerhalb derer das Naturbild analysiert wird. So geht z.B. das Enzensberger-Kapitel auf die literarische Entwicklung des Autors ein, da diese für die Spezifik seiner Naturbildlichkeit wichtig erscheint. Dagegen argumentiert das Biermann-Kapitel ausschließlich systematisch, da der Entwicklungs-Aspekt im Hinblick auf die Werkstruktur zweitrangig ist.

III. Resultate

1. Naturbild und gesellschaftliche Erfahrung
Wo das Interesse an Natur wächst, so scheint es, schwindet das Interesse an Politik und Gesellschaft. Natur und Innerlichkeit, Natur und Rückzug aufs Individuum gehören zusammen. Zu Recht wirft Peter Rühmkorf 1957 seinen Lyrikerkollegen ihre „Abkehr von der Wirklichkeit“, ihren abwiegelnden und besänftigenden Privatismus vor:

Nicht Stimulantien waren da gefragt, sondern Tranquilizer, nicht Höhenflug und Höllensturz, sondern Trost, Zuspruch und der Halt am Herkömmlichen. (1a)
Von überallher duftete es auf einen zu: Nicht einer, der nicht durch die Blume sprach, und unter soviel Outsidern und Abgesonderten kaum jemand mit unverwechselbarem Muster und individuellem Bukett. Ein Motto über allen zog sich als grüner Faden von Lehmann über Bergengruen bis hin zu Holthusens programmatischem Erörtertext: Kleine heile Welt. (1b)40

Was bei Rühmkorf noch als differenzierte Kritik des „Ästhetizismus, Isolationismus, Esoterismus“41 auftritt, wird ein knappes Jahrzehnt später auf alles übertragen, was im entferntesten wie Naturlyrik aussieht. In der Bundesrepublik erinnert man sich Brechts berühmter Verse:

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
42

Im Zuge der Politisierung, die von der Kampagne über Wiederaufrüstung über die Ostermarschbewegung bis hin zu der antiautoritären Revolte der Jahre 1967–1969 reicht, verändert sich die westdeutsche Literatur in einschneidender Weise. Noch unter dem Eindruck der Ereignisse stellte Renate Matthaei 1970 fest:

Kein Jahrzehnt hat die deutsche Literatur so in Frage gestellt wie die 60er Jahre, in keinem war sie so irritierbar, so unsicher und zugleich angereizt, unentwegt effektiv zu sein.43öln u. Berlin 1970, S. 13

Angesichts der amerikanischen Verbrechen in Vietnam wird der Luxus von Kunst für viele suspekt. Nur ein politisch umfunktioniertes Naturbild hat noch die Chance, seine Legitimation im Gedicht zu wahren. Erich Fried überführt Brechts Diktum in den aktuellen Kontext: 

Erich Fried 

GESPRÄCH ÜBER BÄUME
Für K. W. 

Seit der Gärtner die Zweige gestutzt hat
sind meine Äpfel größer
Aber die Blätter des Birnbaums
sind krank. Sie rollen sich ein 

In Vietnam sind die Bäume entlaubt

Meine Kinder sind alle gesund
Doch mein jüngerer Sohn macht mir Sorgen
er hat sich nicht eingelebt
in der neuen Schule 

In Vietnam sind die Kinder tot

Mein Dach ist gut repariert
Man muß nur noch die Fensterrahmen
abbrennen und streichen. Die Feuerversicherungsprämie
ist wegen der steigenden Häuserpreise erhöht

In Vietnam sind die Häuser Ruinen

Was ist das für ein langweiliger Patron?
Wovon man auch redet
er kommt auf Vietnam zu sprechen!
Man muß einem Ruhe gönnen in dieser Welt: 

In Vietnam haben viele schon Ruhe
Ihr gönnt sie ihnen
44

Fried formuliert hier einen allgemeinen Konsens, dem sich selbst ältere ,Naturlyriker‘ wie Wolfgang Bächler oder Karl Krolow in begrenztem Maße anschließen.45

Frühzeitig jedoch macht sich, insbesondere bei vielen jüngeren Lyrikern, ein Unbehagen breit, in dessen Schutzbereich sich das Naturbild einen neuen Raum im Gedicht erobert. Das politische Bewußtsein versperrt den Fluchtweg in die Natur, aber es hinterläßt eine Leere, die um 1970 herum Thema etlicher Gedichte, später auch Romane wird.46 Das Individuum fühlt sich hilflos verloren und überfordert in dieser Welt ,wichtiger‘ politischer Aufgaben:

Rolf Haufs

FÜNFTES RAD

Immer wieder Anstrengungen.
Wie weiß waren die Bäume. Wie dicht
Standen die Kinosessel beieinander. Wie hieß die Reklame
Die uns mehr Grün versprach.
Im Traum eine steinige Küste im Sommer.
Ein Sturm. Eine unbestimmbare Landschaft.
Wälder vielleicht. Vielleicht absolute Stille.
Nichts mehr darin als ein kaum sich bewegender Schmerz.
Endlich kein Gesicht mehr eines nahen Verwandten.
Robert sagt die Svendborger Gedichte auf.
Lisa kocht die besten Spaghetti der Welt.
Georg fürchtet sich vor der Geschwindigkeit eines einzigen Tages.
Drei Menschen. Keiner
Der sich in deine Haut versetzen könnte.
Zuerst Nässe. Dann ewige Trockenheit.
Aber doch wenigstens fünftes Rad am Wagen der Revolution.
Hör auf damit. Denke  G r o d e k.
Man bringt dir die Listen. Zögernd beginnst du
Mit dem Abhaken: deine
Versäumnisse
.47

Damit wird Natur wieder zur Zuflucht, in die sich das Individuum – wenn auch schlechten Gewissens – vor den Ansprüchen seiner ihm fremd gewordenen politischen Überzeugung zurückzieht. Wo indes die Naturlyriker des ersten Nachkriegsjahrzehnts ihren Fluchtpunkt noch innerhalb realer Landschaft ansiedeln konnten, ist das nun unmöglich geworden. Die wirkliche Landschaft ist besetzt von politischen Nachrichten, vom Alltags- und Industriemüll. Ihr Inventar bietet nichts von dem, was das Naturbild einst repräsentiert hat. Infolgedessen versetzt sich der Lyriker kraft seiner Imagination an eine „steinige Küste im Sommer“ oder, wie es bei Rolf Dieter Brinkmann heißt, „in ein / anderes Blau“: 

Rolf Dieter Brinkmann

GEDICHT

Zerstörte Landschaft mit
Konservendosen, die Hauseingänge
leer, was ist darin? Hier kam ich

mit dem Zug nachmittags an,
zwei Töpfe an der Reisetasche
festgebunden. Jetzt bin ich aus

den Träumen raus, die über eine
Kreuzung wehn. Und Staub,
zerstückelte Pavane, aus totem

Neon, Zeitungen und Schienen
dieser Tag, was krieg ich jetzt,
einen Tag älter, tiefer und tot?

Wer hat gesagt, daß sowas Leben
ist? Ich gehe in ein
anderes Blau
.
48

Die Phantasie muß ersetzen, was die politische Realität versagt. Zunehmend wird das Naturbild in den folgenden Jahren daher zum kompensatorischen Korrelat einer als abstoßend und unwirtlich empfundenen Reallandschaft.49

Begründet sich 1968 bei der jüngeren Generation der halb freiwillige, halb erzwungene Verzicht auf Naturbilder auf dem Willen zur direkten politischen Aktion – parallel dazu taucht das Schlagwort vom ,Tod der Literatur‘ auf –, so drängen mit dem Scheitern der Revolte die zuvor unterdrückten Zweifel an die Oberfläche. Denn auf bundes- wie weltpolitischer Ebene sind Hoffnungen zerschlagen und Ideale gestürzt worden, ist erkämpftes Terrain wieder verlorengegangen: Der „Pariser Mai“, der „Prager Frühling“ und das sozialistische Chile sind von der  jeweiligen Reaktion überrollt worden; die politischen Orientierungspunkte China, Sowjetunion, Kuba und zuletzt Vietnam haben nach und nach ihre strahlende Aura eingebüßt; und innenpolitisch sind die liberalen Zugeständnisse schrittweise immer stärker abgebaut worden, ohne daß die zersplitterte ,Linke‘ sich angemessen zur Wehr setzen konnte.
Vor diesem Hintergrund überlagern sich in den westdeutschen Gedichten der siebziger Jahre zwei Realitätsebenen: eine ,äußere‘ des Erlebens und der Reflexion, gezeichnet von politischer und persönlicher Isolation und Ratlosigkeit, und eine ,innere‘ der Empfindungen, der Wünsche und Phantasien. Die letztere ist der Ort, wo Naturbilder erneut in ihr Recht gesetzt werden. Das gilt ganz besonders zu einer Zeit, da, wie Hans Christoph Buch betont, „der Satz daß ein Gespräch über Bäume fast schon ein Verbrechen ist, (…) fast schon selbst verbrecherisch“50 geworden ist. Je mehr die Landschaft profitorientierter Zerstörung anheimfällt, um so mehr wird Natur zum Mahnmal, zur Erinnerung an uneingelöste Versprechen und Emanzipationsbestrebungen:

Jürgen Theobaldy

MEER UND HIMMEL

Wie alt bist du Meer, verglichen mit dem Mann
der eben hinter dem Landungssteg verschwindet
düster in seiner Ölhaut und ohne jeden Charme

Wie alt bist du Himmel von Wolken dunkel überzogen
wenn du noch einmal wie ein Gott sein willst
zu spät zu spät wir glauben dir nicht mehr

Meer mit dem Stumpfsinn der Jahrtausende klatschst du
wieder und wieder gegen die Felsen in der Bretagne
sie lassen dich ablaufen wie kaltes Wasser

O Meer deine Seele ist auf den Grund gesunken
in die uralte Finsternis des Philippinengrabens
du bist nur noch eine Ansammlung von Molekülen etc
von Öltürmen Schiffen und Vergnügungsinseln
die riesige ungeheure Warensammlung
auf einer Ebene aus Wasser nichts als Wasser

O Himmel an einem Julinachmittag 1970 in Bari
warst du ganz grün von einem Ende zum andern
ich habe ein Foto von dir gemacht worauf überraschend
der Mann auftrat diesmal im Polohemd und braungebrannt
wie ein italienischer Straßenarbeiter

Meer achthundert Kilometer bin ich gefahren dich zu sehen
Und immer entlang unter dir Blau des Himmels!
Meer du bist die erstarrte Woge du bist Schaum
tausendfach aufgemalt in die Schlafzimmer
der Großeltern und Enkelkinder

Meer oder bist du bloß noch eine Postkarte so glatt
Hier glänzt du und jeder weiß daß es gelogen ist
auch der Mann der jetzt im Sonntagsanzug am Kiosk herumsteht

Er wartet nicht auf dich er wartet auf seine Geliebte
und das bist nicht du Meer du bist noch nicht mal seine Frau
du bist einfach zu alt Milliarden von Jahren oder so

Meer du wirst besiegt du wirst einfach verdreckt
sie pissen dich voll die Touristen Europas
mit ihren kompletten Familien und Campingausrüstungen
Alles lassen sie in dich hinein Europas Fabriken
ihren Sud und ihren Schmutz den Abfall ihrer katastrophalen Gewinne

Meer es ist bloß das Märchen eines Zeitungsschreibers
daß du die Cholera in die Häuser und Elendshäuser geschickt hast
Das Meer nimmt Rache ha! in die Spalten der Zeitungen
sind die Mythen gerutscht doch du bist kein Gott mehr

Tobe nur stürme los! du bist alt und ich bin jung und gemein

Der Mann ist jung jetzt in der Absteige im Hafen von Marseille
das Fenster ist offen er liegt auf dem Bett
eine Hand auf der nackten Hüfte seines Freunds
und durch das Fenster schwimmt dein alter Geruch o Meer
nach Fischen verfault im Hafenbecken nach Teer Tang u
nd Industrie

Die Bonzen benützen dich als Ablagestelle für ihre Yachten
und am Abend beim Bordfest mit Lampions und Lichterketten
schießen die Sektkorken aufs Wasser platsch und platsch und platsch

Und du Himmel wirst verbrannt vom Feuerwerk in Nizza
schon bist du ganz schwarz! Was nützt es wenn du am Morgen
fröstelnd und blaß am Horizont der Pinienhaine erwachst?
Verloren verloren… sie kriegen dich klein wie sie die Strecke
zum Mond kleingekriegt haben bist du magnetisch?

Und wenn schon was hilft dir dein Strahlengürtel
zwischen Erde und Raum? Du wirst besiegt
da wird einfach hindurchgeflogen das ist Präzision
das ist Wissenschaft das sind die erstaunlichen Maschinen
Oszillographen Sinuskurven und all das
wovon ich zu wenig verstehe

Der Mann versteht nichts davon bei Nacht im Fischerboot
unbeweglich und schweigsam vor der Insel Pag
um die wenigen Fische nicht zu erschrecken in dir o Meer

Ich sehe es vom Felsen aus über der Bucht
das dunkle Licht am Boot und ich halte den Atem an

Ach Meer wir sind auf deiner Seite trotz allem
an deinem Strand habe ich geschlafen die Kiesel im R
ücken
und den Wellenschlag deiner Brandung unter den Lidern

Und Himmel unter dir bin ich gelegen
müde nach eines Tages Fahrt durch Städte und Staub
deine ungeheure weite Stille im Ohr die Sterne die Sterne
die Nacht und die Sterne!
51

Trotz des rebellischen und latent antikapitalistischen Potentials des neueren Naturbilds gilt in historisch modifizierter Form, was Wolf Lepenies über das Syndrom von Handlungshemmung, Natursehnsucht und Innerlichkeit im 18. Jahrhundert gesagt hat:

Ist der Weg in die Aktion versperrt, bleibt als Alternative zur Innerlichkeit noch Natur. Mit der Entdeckung der Natur als einem der Gesellschaft entgegenzusetzenden Prinzip melancholischer Flucht beginnen Innerlichkeit und Natur einander zu ergänzen: Einsamkeit als Verhaltensform der Innerlichkeit läßt sich nur in der Natur realisieren.52

Natur ist in den neueren Gedichten weniger Ort der Einsamkeit, als vielmehr der Ort, wo es partiell gelingt, die Erfahrung permanenter Vereinzelung zu vergessen. Das Gros der Gedichte handelt von der Einsamkeit in der Menge, der Einsamkeit zu zweit, der Einsamkeit unter Freunden. Natur wird zum beständigen gemeinsamen Bezugspunkt, zum Maßstab einer objektiven Ordnung, die gegen die beliebig erscheinende Unordnung gesellschaftlicher Realien zu retten ist:

Nicolas Born 

NATURGEDICHT

Welcher Schmerz zu fließen
welche Kälte mit dem Feind allein zu sein
welch eine Aufgabe Stickstoff in die Wälder zu blasen!
aaaaaDas stille Wirken des Blattgrüns im grünen Salat
aaaaadas lärmende Wirken des grünen Salats in uns.
Ist der Löwenzahn aus unserem Leben verschwunden
aaaaader Huflattich die Grasharfe?
Was verspricht das angelegte Ohr des Pferdes
was bedeuten die Schmerzen in den Armen der Putzfrau
deren Welt seit zwanzig Jahren im Eimer liegt?
(…)53

Die Täter von 1968 sind zu Opfern einer Umwelt geworden, deren Zusammenhang ihnen ebenso undurchschaubar wie bedrohlich erscheint. Das isolierte Individuum erfährt ,Welt‘ als Konglomerat bedeutungsloser Fakten, die es ausschließlich in ihren Auswirkungen auf die persönliche Psyche zu beurteilen vermag. Allgemeine Kategorien sind nicht mehr zur Hand. Als Reaktion auf die repressiven Strukturen in linken Gruppen nach 1970 zeigt sich nun ein absoluter Ideologieverdacht; dieser erzeugt ein nahezu zwanghaftes Bestreben nach „Authentizität“, das sich in der Konsequenz auf die gleichgültige Nennung von Namen, Begebenheiten, Wahrnehmungen und inhaltsleeren Abstrakta (z.B. „Glück“ oder „Natur“) erstreckt.
Mit der Desillusionierung der Hoffnungen des vorausgegangenen Jahrzehnts stellt sich Hoffnungslosigkeit als vorherrschende Stimmung in der Lyrik ein. Nachdem die scheinbaren Zentren revolutionärer Veränderungen – die Straßenkämpfe in den Metropolen oder die Befreiungskriege in der Dritten Welt – untergegangen sind in einem zweifelhaften Alltag, ist die Hoffnung auf die Hebelfunktion einzelner Aktionen geschwunden. Der isolierte Intellektuelle erfährt sich als Spielball immer schon übermächtiger Verhältnisse (deutlich wird dies bei Jürgen Becker ebenso wie in Enzensbergers „Untergang der Titanic“), keiner Klasse zugehörig, mehr Objekt als Subjekt einer dezentrierten gesellschaftlichen Realität. Die Reaktion – eine spezifische Form der Erfahrungslosigkeit – läßt sich an den westdeutschen Gedichten der siebziger Jahre ablesen: Die Vielfalt des sinnlichen Erlebens läßt sich aufgrund fehlender Perspektiven nicht zur Einheit dessen organisieren, was Hegels dialektischer Erfahrungsbegriff meint:

Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige was Erfahrung genannt wird.54

Vor diesem Hintergrund wird der literarische Rekurs auf Natur politisch ambivalent.
Nahezu einhellig formulieren die Gedichte einen Widerstand gegen die fortschreitende Urbanisierung und Betonierung von Landschaft. Sie lehnen sich auf gegen die damit verbundene Desensibilisierung der Wahrnehmung, gegen Geschichtsfeindlichkeit und Kulturvernichtung als Ergebnis einer Unterjochung der (inneren wie äußeren) Natur, die sich nach der Logik des Kapitals vollzieht. Sie erinnern daran, daß die ökologische Bedrohung ebensosehr eine psychosoziale Bedrohung ist, daß sich politisch-gesellschaftliche Macht in den erlebten Alltag hinein verlängert.
In diesem Sinne gibt sich die Lyrik der Bundesrepublik in den siebziger Jahren betont realistisch und anti-idyllisch, sie forciert das Bild der zerstörten Landschaft gegenüber dem einer heilen Natur. Dementsprechend dominieren die reflektorischen Passagen gegenüber den ästhetisch-evokativen, das lange gegenüber dem kurzen Gedicht, der Ausdruck erlebter Unordnung gegenüber einer sprachlich konstruierten Ordnung.
Gerade die als undurchdringliches Chaos erlebte Wirklichkeit indes ist es, die die Vorstellung einer ,reinen‘, gesellschaftsfernen und mit utopischen Momenten besetzten Natur wieder attraktiv macht.55 Wo immer das noch unberührte, vorzugsweise unscheinbare Naturding (Unkraut, Wiese usw.) sich zwischen die Bruchstücke der verdinglichten, vorfabrizierten Umwelt einschiebt, gilt es als Statthalter unverwirklichter Träume und Wunschvorstellungen. Es repräsentiert eine unverrückbare Ordnung, die – ungeachtet individueller, klassenmäßiger Differenzen – alle betrifft, und die deshalb zur Einheitsplattform einer sozial heimatlosen Intelligenz werden kann.
Angesichts des tatsächlichen Zustands des ökologischen Systems ist eine Rettung der Natur zwar vorrangig gegenüber allen spezifisch gesellschaftlichen Problemen als solchen, weil sie nicht nur historische, sondern allgemein existentielle Fragen berührt. Von diesem Standpunkt aus bildet Natur das utopische Modell schlechthin. Zugleich ist allerdings zu berücksichtigen, daß Natur nicht nur leicht zum ideologischen Refugium wird – weniger Zellkern gesellschaftlicher Veränderung als Freiraum einer privilegierten sozialen Schicht ist –, sondern daß auch das Naturmodell selbst schon fragwürdig ist, weil es strukturell totalitäre Züge aufweist. Ein lückenloses System nach dem Vorbild der Natur – hier ist alles auf alles bezogen, alles geordnet und zweckmäßig aufs Ganze hin orientiert – ist nicht allein Grundmodell der sozialen Utopien des 16. und 17. Jahrhunderts; es liegt ebensosehr den Schreckensutopien Huxleys und Orwells, den behavioristischen Planspielen Skinners oder dem ökologischen Mangelkommunismus Harichs zugrunde. All diese ,Utopien‘ jedoch kommen darin überein, daß ihre Realisierung zur rigiden Unterdrückung qualitativer Freiheit und persönlicher Bedürfnisse führen würde.
Natur als „Ordnung“, ausgespielt gegen die „Unordnung“ der Alltagswahrnehmung, bildet ungewollt das „Ganze“ ab, das Adorno als das „Unwahre“ bezeichnet hat. Einem solchermaßen formalen Naturbegriff hält Adorno einen anderen entgegen: einen doppelbödigen, der aufgrund seiner mimetisch-rationalen Struktur Gesellschaft gleichermaßen integriert wie negiert.56
Das Ästhetisch-Mimetische an der Natur kommt in den meisten westdeutschen Gedichten der siebziger Jahre entschieden zu kurz: Metaphorische Naturbilder sind der reflektorisch-prosaischen Naturnennung gewichen. Da eine gesellschaftlich-politische Perspektive fehlt und somit Erfahrung verunsichert ist, kann es auch keine konkrete Utopie geben. An deren Stelle tritt eine formal-abstrakte Utopie, die doch in letzter Konsequenz nichts sein kann als das negative Abziehbild der erlittenen Totalität.57
Auf diese Weise droht der scheinbar unkonventionelle Umgang mit den literarischen Traditionen tendenziell nur, die Beliebigkeit zu reflektieren, die jedes Thema und jedes Ding in der Warengesellschaft annimmt. Ausnahmen bestätigen die Regel, sagt man: Die Ausnahmen in der bundesdeutschen Lyrik bilden Schriftsteller, deren Produktionsbedingungen sich von denen ihrer Kollegen grundlegend unterscheiden. So finden sich bezeichnenderweise die konzentriertesten Naturbilder in den Gedichten Peter-Paul Zahls – bei den im „Knast“ entstandenen Gedichten muß die Phantasie ersetzen, was dem Auge verweigert wird – und bei Helga M. Novak, deren Schreibweise deutlich von ihrer Jugend in der DDR geprägt ist.

Helga M. Novak

WILDER WEIN

der wilde Wein um den Wasserturm
entlarvt sich ganz wenn er verblüht ist
wie tausend Unterlippen von Soldaten
hängen jetzt seine Blätter
und erst im späten Herbst
sieht man die toten Flechten
den Turm lebendig gefangennehmen
58

Der Lyrikerin gelingt es, kraft metaphorischer Bezüge eine Verbindung zwischen ästhetisch-utopischer Naturvorstellung und gesellschaftlicher Macht andeutungsweise herzustellen. Die faszinierenden Momente „wilder“ Natur bleiben erhalten; zugleich aber verweigern sich die Verse jeder Idyllisierung, vielmehr suchen sie die gesellschaftlichen Probleme auch im (widersprüchlichen) Bild der Natur auf.
Diese Darstellungsweise entspricht mehr den Gepflogenheiten der Lyrik in der DDR als dem gängigen Gedichttypus in der Bundesrepublik. Im Unterschied zu dem westdeutschen hat der ostdeutsche Lyriker einen klaren Bezugspunkt: In wie unterschiedlicher Weise auch immer, jedes in der DDR entstandene Gedicht bezieht – direkt oder indirekt – Stellung zu dem Staat DDR, zu den (kultur-)politischen Postulaten und Direktiven der SED, zu den Problemen des sozialistischen Aufbaus. Erfährt der Lyriker der Bundesrepublik die Gesellschaft, in der er lebt, als einen ihm fremd gegenüberstehenden Koloß, mit dem er am liebsten nichts zu tun haben möchte, so spricht aus den Gedichten der DDR allemal ein Rest individueller Verantwortlichkeit für das Gesellschaftsganze.
In den sechziger Jahren, da in der Bundesrepublik Naturlyrik suspekt zu werden begann, sind in der DDR auffällig viele Gedichte mit naturlyrischem Kern entstanden.
Um die Titel einiger Gedichtbände herauszugreifen: Unter den Hufen des Winds (Erich Arendt, 1966); Verkündigung des Wetters, Unschuld der Natur (Günter Kunert, 1966); Nachrichten von einem Sommer (Axel Schulze, 1967); Der Vogel Frühling (Uwe Greßmann, 1967); Struga, Bilder deiner Landschaft (Kito Lorenc, 1967); Wasserfahrt (Heinz Czechowski, 1968).
Die Ursachen dieses Zusammentreffens sind ambivalent. Wie die Literaturkritik der DDR, die nach anfänglicher Ablehnung vermuteter „subjektivistischer Fehlentwicklungen“ in der Lyrik auf die neue Tendenz einschwenkt, mag man es werten als „Bekenntnis zur Heimat“, das sich „stets mit unserer Tat für den sich entwickelnden Sozialismus“ verbindet.59 Oder aber man sieht darin die Rückkehr zu den „eigentlichen Objekten der Poesie“, den „Kurs auf eine primäre Lyrik“,60 also eine literarische Oppositionsbewegung, die sich zwischen listiger Sklavensprache und innerer Emigration, zwischen Nonkonformismus und politischer Resignation bewegt. In den meisten Fällen lassen sich beide Aspekte nur gewaltsam voneinander scheiden.
Bei kaum einem der Lyriker der in den dreißiger Jahren geborenen Generation fehlt zu diesem frühen Zeitpunkt das ausdrückliche Bekenntnis zur DDR als dem „besseren Deutschland“. Wie Wolf Biermann von der „DDR, mein Vaterland“, und Sarah Kirsch von „meinem kleinen wärmenden Land“ sprechen, so Reiner Kunze von diesem „land / das ich wieder und und wieder wählen würde“, Heinz Czechowski vom „Lob des Hierseins“, Volker Braun von „meinem Land“, „frei für den Frieden“ usw. Für alle diese Schriftsteller ist die DDR zunächst nicht nur die geographische, sondern ebensosehr die politische Heimat. Mit der sozialistischen Verfassung der DDR verbindet sich für sie der Willen zur Aufhebung gesellschaftlicher Unterdrückung und Entfremdung, zur kommunistischen Utopie, die für Ernst Bloch Inbegriff des „heimatlichen“ Daseins ist.
Nicht nur für den in der DDR geschmähten Ernst Bloch ist „Heimat“ der philosophische Komplementärbegriff zu „Entfremdung“. Auch Günter Lange betont, daß „man die Heimat in ihrem dialektischen Wechselverhältnis zur Fremde begreifen“ muß.61 Lange sieht – mit Bloch, aber ohne ihn zu erwähnen – in der entfremdeten Arbeit die „Grundlage des Verlustes an Heimat“.62 So sehr allerdings der Begriff der Heimat bei Bloch eine utopisch-dynamische, vor allem auch kritische Kategorie ist, so sehr droht er vor dem Hintergrund realsozialistischer Verhältnisse zum Legitimationsideologem zu verkümmern, insofern er zur Verklärung der DDR-Wirklichkeit als einer bereits ,heimatlichen‘ benutzt wird. Emphatisch schreibt dementsprechend Günter Lange:

Bereits jetzt verschwinden die aus der Ausbeutergesellschaft überlieferten Elemente der Fremdheit zwischen den Klassen und Nationen, entwickeln sich die sozialen Beziehungen, die wir vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus gesehen als ,heimatlich‘ bewerten.63

Der geschichtsphilosophische Heimatbegriff wird in dem Augenblick problematisch, wo er der Charakterisierung eines gesellschaftlichen status quo dient, der sich keineswegs durch die Strukturmerkmale auszeichnet, die ihm mit diesem Begriff zugesprochen werden. Diese Umfunktionierung läßt sich im Falle des Heimatbegriffs um so unauffälliger vollziehen, als dieser ebensowohl topographisch verstanden werden kann. Diese Äquivokation bedingt einen ideologischen Effekt, der in vielen Landschaftsgedichten der DDR deutlich heraustritt.
Noch bei einem persönlich gefärbten Natur- und Liebesgedicht wie Axel Schulzes „Landschaft“ dehnt sich das erotische Erleben auf die Wahrnehmung von „Arbeit, von Rauch / aus den Kokereien, violettes Öl in / den Flüssen“64 aus und bezeugt – übrigens wird keinerlei Kritik an der ökologisch bedenklichen Wahrnehmung spürbar –, daß die persönliche, die gesellschaftliche und die landschaftliche Wirklichkeit als symbiotische Einheit betrachtet werden.
In Übereinstimmung mit dieser Auffassung gebraucht Volker Braun die Begriffe von ,Landschaft‘ und ,Gesellschaft‘ in einem synonymen Sinne:
Es geht nicht an, die Gesellschaft nur als Milieu zu

nehmen und nicht als menschlich sich bildende Landschaft. (…) Das Milieu gilt als etwas Vorgegebenes, das auch das Beschränkte, Unveränderliche, zugleich das Provinzielle eines bestimmten Standes oder einer bestimmten Tätigkeit in sich hat; mit Landschaft ist das Umfassende gemeint, zu dem sich bei uns die Gesellschaft hinentwickelt, sie schließt die Natur ein, vor allem unsre eigene Natur, die sich in ihr realisiert.65

Auch bei Braun findet sich also die utopisch-antizipatorische Nuancierung des Landschaftsbegriffs, die diesen auf den der Heimat rückverweist und die – auf reale Landschaft bezogen – immer in Gefahr ist, ideologisch mißbraucht zu werden.
Das Dilemma ist offensichtlich: Die DDR als erster sozialistischer Staat in Deutschland war eine große Hoffnung, ein Versprechen auf „Heimat“ und eine Zukunft ohne Ausbeutung und Entfremdung. In zunehmendem Maße jedoch erweist sich diese Hoffnung als Illusion: Die „Heimat“ bleibt fremdbestimmt. Wolf Biermann hat versucht, die Problematik in ein dialektisches Bild zu bringen:

In diesem Lande leben wir
wie Fremdlinge im eigenen Haus

heißt es im „Hölderlin-Lied“.66

Eine Reaktion auf solche heimatliche Fremde, auf die Trivialisierung und Ideologisierung der utopischen Bilder ist die Zunahme an Reise-Gedichten in der Lyrik. Wir finden sie bei Günter Kunert, Reiner Kirsch, Sarah Kirsch, Karl Mickel, Reiner Kunze u.a. Das Erträumte ist nun nicht mehr die Heimat, das Bekannte und Vertraute; das exotische Fremde, das Unbekannte und selbst das Bedrohliche erscheinen jetzt utopisch aufgeladen:

Günter Kunert

VERLANGEN NACH BOMARZO

Selber ein Fels sein.
Stillstehen mit der gewesenen Zeit:
wo ein teils steiler Hügel
eine teils erhabene Klippe ortsgekrönt
des Morgens inmitten der Ebene
über sie
einen langen und leichten Schatten legt.
Platz nehmen im ,Parco di Mostri‘
unter schweigenden Ungeheuern
aus behauenem Gestein.
Einer der ihren werden
halb in der feuchten Erde geborgen
reglos und nichts anderes um sich
als lauter leeres Geheimnis
sonnenüberflutet und dunkel
wie der Sinn der Gestalten und Tiere
Elefant und Gladiator
Nymphe und Drache
Jahrhunderte alt.

Der Schädel mit dem Scheunentormund
darinnen Tisch und Sessel aus gleichem Granit
dich empfingen wäre der meine:
hüte dich vorm Eintritt
damit du nicht in die unterirdischen Tiefen
meines ferneren Leibes gelangst
ausgestreckt unter Bomarzo:
der unsichtbare Grund
auf dem alles steht und der alles trägt.

Dableiben. Hierbleiben.
Kristallinisch
solcher Landschaft sich innig verbinden:
wenigstens vorübergehend
unsterblich sein
.
67

Auch hier artikuliert sich das Verlangen nach „Heimat“ nach einer ,innigen Verbindung‘ zwischen Mensch und Natur. Aber die Heimat – ,Naturalisierung des Menschen / Humanisierung der Natur‘ – bleibt irreal, Wunschbild, Projektion: Weder ist hier die DDR-Landschaft Ausgangspunkt des Gedichts, noch zeichnet das Bild ein Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur; der Gestaltwerdung des Steins korrespondiert auf der realen Ebene nicht die Steinwerdung des Menschen – man mag darin einen kultur- und ökologiekritischen Ansatz erblicken.
Je weniger der staatliche Apparat DDR mit der erträumten sozialistischen Heimat identifiziert werden kann, um so mehr wird die landschaftlich-natürliche Heimat zum Asyl vor den Bedrohungen des gesellschaftlichen Alltags. Landschaft fungiert nicht mehr als Basis, sondern als Gegenbild der Gesellschaft. Dies läßt sich ablesen an einer zunehmenden Individualisierung und Introvertiertheit des lyrischen Subjekts.
Das kollektive ,Wir‘ schwindet aus der Lyrik der siebziger Jahre fast vollkommen. Zugleich wird die Landschaftsdarstellung vielschichtiger, anspielungsreicher, in viele Richtungen ausdeutbar.
So schreibt etwa Kristian Pech in seinem Gedichtband Abschweifungen über Bäume (so man will, kann man den Titel als verhohlene Anspielung auf eine ,Lyrik in finsteren Zeiten‘ verstehen):

Kristian Pech

BERG BEI ELSTRA

Manchmal muß ich vor mir fliehen
Fliehen vor einem der die geebneten

wege liebt und die geraden wände
der sich den uhren ausgeliefert hat

der nur noch wie das radio spricht
weil ihm die eignen worte versiegten

der die blumen an seinem fenster für
die gesamte Vegetation Europas hält

der säuberlich in kategorien denkt
und der die berechnung ist in person

Manchmal muß ich vor mir fliehen
nichts als der aufstieg zu einem berg

trifft meine abgedorrtheit stärker
Der gewächse vielfalt verwirrt mich

sand und geröll zerren an den füßen
brombeergestrüpp peinigt die waden

O auf dem gipfel überblicke ich darin
dieses land im unübertragenen sinn
68

In der Natur – auf einem Berg, der Gesellschaft entrückt – hofft das Ich, sich selbst, seine „eignen worte“ wiederzufinden. Verwirrende Vielfalt, widerspenstiges Dornengestrüpp werden einer Klarheit entgegengehalten, die nicht die eigene ist – oder etwa doch? Selten in einem Gedicht aus der DDR spricht sich die schizophrene, entfremdete Subjektivität in solcher Deutlichkeit aus. Pech bedient sich Brechtscher Dialektik: Er lobt die Landschaft der DDR, um den DDR-Staat uneingelöster Versprechen zu bezichtigen; er spricht von seiner ,Verwirrung‘ durch die ,Vielfalt der Gewächse‘, um die ,säuberlichen Kategorien‘, die „geebneten // wege (…) und die geraden wände“ der Lüge zu überführen.
So wird die metaphorische Funktion poetischer Bildlichkeit zu einem der wichtigsten Hilfsmittel einer kritischen Lyrik. Die unmittelbare sinnliche Ebene bietet Schutz vor einer allzu direkten Auslegung, aber dahinter verbirgt sich ein „Mehr“, dessen Sinngebung dem Leser überlassen bleibt. Nur selten allerdings wird die verhüllend-entdeckende Wirkung mit ähnlich deutlichem satirischen Witz benutzt wie etwa in dem Vierzeiler Bernd Jentzschs, der bereits im Titel seine politische Spitze offenlegt:

Bernd Jentzsch

DIE VERSCHWÖRUNG

Unter den Schürzen des Apfelbaums,
Liebste, rosa und weiß,
Hier geht sie uns auf, die einzige Losung:
Seid einig, einig, eins
.69

Häufiger als der offenen Polemik dient auch in der Lyrik der DDR das Naturbild als Enklave der Innerlichkeit. Die landschaftliche Heimat wird zum Ersatz für die politisch-gesellschaftliche Heimat, das Naturbild zum Phantasieraum, der eine Bedürfnisbefriedigung erlaubt, die die gesellschaftliche Realität sanktionieren würde.70

Es lassen sich gemeinsame Funktionen des Naturbilds in der neueren Lyrik beider deutschen Staaten ausmachen. In der DDR wie in der Bundesrepublik gilt das Naturbild als Reservat des Utopischen, als Refugium angesichts einer als Reservat des Utopischen, als Refugium angesichts einer als repressiv erfahrenen politisch-gesellschaftlichen Macht. Diese Gemeinsamkeit allerdings erstreckt sich auf die abstrakt-formale Oberfläche der Funktionsbestimmung. Tatsächlich erscheint der Fluchtpunkt in der Lyrik der DDR real erreichbar, in der bundesrepublikanischen Lyrik hingegen mehr als schöner, als unwirklicher Traum.
Das Naturbild in der Lyrik der Bundesrepublik deutet utopische Impulse mehr an, als daß es sie ausbildet. Die wahrgenommene, notierte und kommentierte Landschaft zeigt kaum noch Spuren von ,Natur‘ und geht nahezu vollständig in den Manifestationen der destruktiv gezeichneten Gesellschaft auf. ,Natur‘ im emphatischen Sinne ist Restbestand, vereinzelter Lichtblitz oder aber – global und existentiell reflektiert – Inbegriff des Lebens überhaupt. In diesem Sinne kann man von einem objektiv bestimmten Naturbild sprechen, denn metaphorische Verweisungslinien, ins Naturbild projizierte Hoffnungen, kurz: utopisch-antizipatorische Konstruktionen werden nur zaghaft genannt und auch dann häufig sogleich wieder zurückgenommen. Natur bleibt bloß negative Grenze gegen Gesellschaft, als utopischer Raum ebenso exotisch wie unerreichbar.
Im Unterschied dazu ist das Naturbild in der Lyrik der DDR subjektiv determiniert. Dem Einwand Harald Hartungs ist zuzustimmen, wenn er Sanders These von einer „Revision des anthropozentrischen Weltbildes“ in der neueren DDR-Lyrik zurückweist. Nicht nur ist diese Behauptung „zu global / zu grob und sicher zu voreilig“;71 vielmehr bleibt das Thema einer schaffenden – erweitert auf eine zerstörende (bei Mickel72 und Kunert) – Subjektivität Zentralproblem der Lyrik auch noch der siebziger Jahre. Nicht die Perspektive, unter der Natur betrachtet wird, ist einer Korrektur unterzogen worden; lediglich ist das widerspruchsfreie „positive Menschenbild“ der Aufbauphase der differenzierteren Darstellung von Subjektivität gewichen. Die metaphorische Struktur der Naturbildlichkeit in der DDR schließt subjektive und objektive Momente, Gesellschaft und Natur, Individuum und Politik.so eng zusammen, daß die Frage nach den Aussichten auf aktive Veränderung, auf werdenden Übergang von der realen in die utopische Sphäre überall hörbar wird. 

2. Ausblick
Nur bedingt geben Naturbilder Auskunft über das Verhältnis der Gesellschaft zur Natur. In erster Linie bezeichnen sie das Verhältnis eines Individuums zu allgemeinen – selbstverständlich historischen – Naturvorstellungen, bestenfalls die Interferenzen zwischen Natur und gesellschaftlicher Naturerfahrung. Denn im Naturbild werden begriffliche und mythische Naturvorstellungen so komprimiert und transformiert, daß sie in verschiedene Richtungen deuten: auf Natur, auf Politik und Gesellschaft, auf die Person des Autors, auf den Publikumshorizont usw.
Jürgen Becker, Sarah Kirsch, Wolf Biermann, Hans Magnus Enzensberger: vier poetische Modelle, die in unterschiedlicher Weise charakteristisch sind für die deutsche Gegenwartslyrik – charakteristisch genug, daß sich die Untersuchungsergebnisse ausdehnen lassen auf die Bestimmung des Naturbildes in der Lyrik zweier deutscher Staaten?
Tatsächlich lassen sich aus dem Vorangegangenen spezifische Differenzen zwischen der in der DDR beheimateten Lyrik und der der Bundesrepublik schlußfolgern:

– Die Lyrik der DDR ist ausnehmend ,traditionalistisch‘ gebunden, extrem kunstbetont und von den Formen kommunikativer Rede abgehoben. Während sich in der Bundesrepublik die Lyrik zum Teil stark an die Alltagsprosa annähert, die Grenzen zwischen den verschiedenen Textsorten verfließen und auf Metaphorik und bildhafte Dichte weitgehend verzichtet wird,73 gibt es in der Lyrik der DDR kaum Zweifel an der poetisierenden Funktion überlieferter Formprinzipien. Bildhafte Codierung, Anlehnung an klassische Bauformen der Lyrik (Sonett, Ode, Hymne, Volksliedstrophe), strenger Umgang mit Reim- und Rhythmustechniken sind in der DDR eher die Regel.74

– Naturbilder finden sich in der Lyrik der DDR seit 1965 nicht nur häufiger als in der der Bundesrepublik; sie konstituieren sich dort auch unter einer anderen Perspektive als hier. Das Ich der Gedichte aus der DDR ist immer auch ein allgemeines Mensch-Subjekt, das sich einem Natur-Objekt gegenüber ,verhält‘.75 In der westdeutschen Lyrik hingegen gibt Natur mehr die Folie ab, auf der sich das Ich bewegt. Hier wird unterschieden zwischen dem lyrischen Ich und seiner individuellen Subjektivität einerseits und dem Gesellschaftssubjekt andererseits; letzteres unterwirft sich nicht allein die Natur, sondern gleichermaßen auch das einzelne Ich, das so – gleichsam objektiviert – in die Rolle des Opfers gezwängt erscheint.76 Anders als in den Gedichten des realsozialistischen Staates fehlt in der Bundesrepublik bei den Lyrikern die Identifikation mit den Taten der Menschheit. 

– In der Lyrik der DDR dient das Naturbild weitgehend als Medium des politischen Ausdrucks, als Versteck listig-resignierter ,Sklavensprache‘ ebenso wie als Signatur des Bekenntnisses zur sozialistischen Heimat, zum ,Vaterland DDR‘. Landschaft repräsentiert in diesen Gedichten die Doppelung von Antizipation und Flucht, Heimat und Exil. Wo in der bundesrepublikanischen Lyrik hingegen der Heimat-Gedanke auftaucht (seit Mitte der siebziger Jahre erst wird versucht, Begriffe wie ,Heimat‘ oder ,Vaterland‘ vom ,Blut-und-Boden‘-Beiklang zu befreien), gewinnt er im Unterschied zu dem fortschrittsoptimistischen Heimatbegriff der Terminologie der DDR – einen stark zivilisationskritischen, wenn nicht nostalgisch-romantischen Charakter. Während in der DDR das Problem der Umweltzerstörung kaum öffentlich diskutiert wird und daher allenfalls am Rande in die Lyrik eindringt (als Ausnahme mag hier Günter Kunert gelten), geht das Bewußtsein der ökologischen Bedrohung in der Bundesrepublik einher mit einem gehörigen Quantum an Resignation, Melancholie und kulturverneinender Sehnsucht nach einer vorindustriellen Naturidylle.

Die bislang genannten Abgrenzungen bleiben oberflächlich. Einen Schritt weiter geht Günter Kunert, wenn er, gefragt nach den Besonderheiten der Lyrik in der DDR, antwortet, indem er diese von der ,Moderne‘ abgrenzt, wie sie Hugo Friedrich beschrieben hat:

Mallarmé ist keiner der illegitimen Väter einer meiner oder anderer Gedichte, die ich kenne. Rimbaud eher, Baudelaire lebt hauptsächlich als personalisiertes Beispiel, kaum als Anreger anderer Gedichte fort. Dies resultiert nicht aus einem ,pädagogischen Auftrag‘, wie ich meine, sondern aus der einfachen Tatsache, daß in der DDR weder der Dichter noch der Leser auf der Suche nach der ,leeren Transzendenz‘ (wie Hugo Friedrich es nennt) ist, wohl aber nach etwas anderem, was sich mit einem Wort der afro-amerikanischen Kultur ,soulfood‘, Seelen-Speise, nennen ließe. Das ist der Sinn all unserer – und hier sage ich nun doch ,uns‘ und schließe die anderen Lyriker der DDR okkupativ mit ein – Bemühungen, seien sie uns bewußt oder nicht. Unsere Lyrik, meine Lyrik, muß anders sein, da wir und unsere Leser ein anderes Leben leben, unter anderen Umständen, unter anderen Voraussetzungen. Indem wir unsere Gedichte schreiben, erfüllen wir selber unsere Erwartungen von Gedichten. Wir selber sind Leser, die sich Gedichte machen.77

Wenn Kunert das Stichwort von der ,leeren Transzendenz‘ nennt und an anderer Stelle vehement den Begriff des ,Sprachmaterials‘ von sich weist und ihn mit dem faschistischen des ,Menschenmaterials‘ verbindet,78 spricht er präzis den Drehpunkt der Unterscheidung der Lyrik beider deutschen Staaten an. Da er allerdings unkritisch die Friedrichsche Deutung der ,Moderne‘ übernimmt, verkennt er meines Erachtens den Stellenwert dieser Differenz.
Der Blick auf die vorausgegangenen Untersuchungen zeigt, daß die Strukturdifferenz zwischen der östlichen und der westlichen Variante deutscher Gegenwartslyrik nicht darauf beruht, daß die einen Lyriker nach der ,leeren Transzendenz‘ suchen und die anderen nicht. Vielmehr – so scheint mir – begegnet die westdeutsche Lyrik einem fundamentalen Sinnzweifel (einer ,leeren Transzendenz‘), während ein solcher für die Lyriker der DDR partiell, d.h. politisch begrenzt bleibt. Für die bundesdeutschen Lyriker ist Schreiben der Versuch, einen verlorengegangenen Sinn zu setzen; sie bewegen sich von der Sprache zur Sache. Der Lyriker im anderen deutschen Staat hingegen setzt den Sinn gleichsam voraus; er kommt über die Sache zum sprachlichen Ausdruck.
So kommen die Gedichte Beckers und Enzensbergers bei aller Gegensätzlichkeit darin überein, daß sie ihre ,Idee‘ erst aus dem Prozeß der Collage und Montage des sprachlichen und gedanklichen Rohmaterials gewinnen. Der poetische ,Inhalt‘ ist hier eine Resultante der poetischen ,Form‘. Die lyrische Arbeit ist Mittel der Selbstverständigung und Selbstwerdung des Autors, Versuch, die bedrückende Erfahrung einer „Ich-Pluralität“ im Gedicht zu einer Identität des Subjekts ,aufzuheben‘. Dieses Strukturmoment westdeutscher Gedichte korrespondiert mit dem wehmütig-melancholischen Rekurs auf eine abstrakt-idyllische Ur-Natur, die die intendierte und ersehnte, aber immer schon beschädigte Einheit des Subjekts bildlich repräsentiert.
Demgegenüber weisen die Gedichte Wolf Biermanns und Sarah Kirschs eine entgegengesetzte Tendenz auf. Vorliterarisch steht hier in relativ stabiles Subjekt, das im Gedicht ,etwas‘ über sich und seine Umwelt mitteilen will. Diesem ist die Sprache weniger Produktions- als Kommunikationsmittel. Aus diesem Grunde übernimmt das Naturbild nicht Repräsentationsfunktionen wie in der Lyrik der Bundesrepublik, sondern es dient dem subjektiven Ausdruck. Es spiegelt den Zustand und die Probleme des lyrischen Subjekts und zeigt sich gebunden an dessen Materialität und Historizität. Die Naturbilder in der Lyrik der DDR sind daher zum größten Teil Landschaftsbilder, metaphorisch vertiefte Zeichnungen realer Natur.
Zugespitzt läßt sich sagen: In der bundesdeutschen Lyrik fungiert das Naturbild tendenziell als Element eines Zeichen-, eines sprachlichen Bedeutungssystems. In der Lyrik der DDR demgegenüber verschwindet der Abbildcharakter des sprachlichen Bildes niemals vollständig; das Naturbild bleibt Darstellung subjektiv vermittelter Objektivität.

 

 

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

I. Voraussetzungen
1. Natur: Ein politischer Faktor
2. Der Diskurs der Natur
3. Das poetische Naturbild. Vier Modelle

II. Analysen
1. Das Ende der Landschaftsmalerei – oder: Großstadterfahrung und Verlust lyrischer Bildlichkeit bei Jürgen Becker
1.1. „Kaputte“ Natur
1.2. Das Ende der Metaphern
1.3. Bildbeschreibungen
1.4. Authentizität und gesellschaftliche Isolation

2. Sarah Kirsch – Natur im gesprungenen Spiegel der Utopie
2.1.   Mischbildungen
2.2.   Die   entfesselte   Subjektivität
2.3.   Die   gefesselte   Subjektivität
2.4.   Die   negative   Subjektivität

3. Und doch: die Hundeblume blüht – Naturbild und politische Symbolik in der Lyrik Wolf Biermanns
3.1. Die begriffliche Reduktion
3.1.1. Die allgemeine Dialektik von Natur- und Gesellschaftsprozessen – bildlich konzentriert
3.1.2. Geschichtliche Natur
3.1.3. Antizipationen
3.2. Die ästhetische Konstruktion
3.2.1. Naturschönheit
3.2.2. Widersprüche

4. Allegorese der Negativität. Naturbild und Naturreflexion in der Lyrik Hans Magnus Enzensbergers
4.1. Der literarhistorische Einschnitt: Die enthumanisierte Idylle
4.2. Die ersten Gedichtbände: Natur als allegorischer Bildraum
4.3. Vom Naturbild zur Naturreflexion
4.4. Das Naturbild in der diskontinuierlichen Kontinuität

III. Resultate
1. Naturbild und gesellschaftliche Erfahrung
2. Ausblick

IV. Anmerkungen 

V. Literaturverzeichnis

 

 

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