Helmut Heißenbüttel: Zu Günter Kunerts Gedicht „Wie ich ein Fisch wurde“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Kunerts Gedicht „Wie ich ein Fisch wurde“. –

 

 

 

 

GÜNTER KUNERT

Wie ich ein Fisch wurde 

1
Am 27. Mai um drei Uhr hoben sich aus ihren Betten
Die Flüsse der Erde und sie breiteten sich aus
Über das belebte Land. Um sich zu retten
Liefen oder fuhren die Bewohner zu den Bergen raus.

2
Als nachdem die Flüsse furchtbar aufgestanden,
Schoben sich die Ozeane donnernd übern Strand,
Und sie schluckten alles das, was noch vorhanden,
Ohne Unterschied, und das war allerhand. 

3
Eine Weile konnten wir noch auf dem Wasser schwimmen,
Doch dann sackte einer nach dem andern ab.
Manche sangen noch ein Lied, und ihre schrillen Stimmen
Folgten den Ertrinkenden ins nasse Grab.

4
Kurz bevor die letzten Kräfte mich verließen,
Fiel mir ein, was man mich einst gelehrt:
Nur wer sich verändert, den wird nicht verdrießen
Die Veränderung, die seine Welt erfährt.

5
Leben heißt: Sich ohne Ende wandeln.
Wer am Alten hängt, der wird nicht alt.
So entschloß ich mich, sofort zu handeln,
Und das Wasser schien mir nicht mehr kalt.

6
Meine Arme dehnten sich zu breiten Flossen,
Grüne Schuppen wuchsen auf mir ohne Hast;
Als das Wasser mir auch noch den Mund verschlossen,
War dem neuen Element ich angepaßt.

7
Lasse mich durch dunkle Tiefen träge gleiten,
Und ich spüre nichts von Wellen oder Wind,
Aber fürchte jetzt die Trockenheiten,
Und daß einst das Wasser wiederum verrinnt.

8
Dann aufs Neue wieder Mensch zu werden,
Wenn mans lange Zeit nicht mehr gewesen ist,
Das ist schwer für unsereins auf Erden,
Weil das Menschsein sich zu leicht vergißt.

 

Über „Wie ich ein Fisch wurde“ 

Wenn ich ein Gedicht lese, kann ich das tun wie viele Musik hören: als etwas, das das Gefühl zu Ahnungen anregt, als etwas, das in einen Dämmerzustand sogenannten schönen Einverständnisses erhebt, Assoziationsfluchten in Gang setzt usw. Ich kann ein Gedicht, um mit Brecht zu sprechen, kulinarisch auffassen. Allerdings bin ich überzeugt, daß dabei nichts herauskommt als ein immer weiter sich fortzeugendes Mißverständnis und Vorurteil. Das Vorurteil, das vielleicht einmal in der Opposition der Romantik gegen die Hierarchie der Gattungen aktuell war; das Vorurteil, das Ahnungen für ein besseres Mittel der Einsicht hält als die Rede- und Denkformen, die nach bestimmten Rangordnungen formalisiert waren. Will ich dem Mißverständnis und dem Vorurteil begegnen, will ich sie, soweit ich kann, vermeiden, muß ich wörtlich nehmen, was im Gedicht gesagt wird, muß ich genau auf das sehen, was dasteht und darauf sehen, ob es genau dasteht und wie genau es dasteht.
Das Gedicht „Wie ich ein Fisch wurde“ von Günter Kunert fängt an mit dem Satz:

Am 27. Mai um drei Uhr hoben sich aus ihren Betten die Flüsse der Erde und sie breiteten sich aus über das belebte Land.

Dieser Satz erscheint zunächst als einfache Aussage über einen geologischen Vorgang. An einem bestimmten Datum zu einer bestimmten Uhrzeit traten alle Flüsse der Erde über die Ufer. Wenn ich allerdings so formuliere, bemerke ich bereits, daß die Aussage dieses Satzes sich nicht ganz ans Faktische hält. Das wird noch deutlicher, vergleicht man den Satz mit der schematisierten Meldung eines Nachrichtendienstes. Das heißt, dieser Satz bedient sich einer bestimmten Verallgemeinerung der Vokabeln und Redewendungen, die ihn über die Faktizität seiner Aussage leicht anhebt. Das wird noch deutlicher, wenn man den zweiten Satz hinzunimmt. Er heißt:

Um sich zu retten liefen oder fuhren die Bewohner zu den Bergen raus.

Jetzt erst wird der Reim erkennbar, mit dem Reim die Rhythmisierung. Beides hebt die Sätze weiter an. Ihre Aussage rundet sich zu einem in sich geschlossenen Vorgang. Dieser Vorgang erscheint als Bild. Die beiden Sätze, die die erste Strophe des Kunertschen Gedichts bilden, werden erkennbar als etwas, das über sich hinausweist. Das heißt, bei aller Schlichtheit und Zurückhaltung und entgegen der Irreführung ins Aktuelle der genauen Datierung wird die Aussage der ersten beiden Sätze als Metapher erkennbar.
Nun, die zweite und dritte Strophe machen es unverwechselbar deutlich, daß hier nicht nur metaphorisch gesprochen wird, sondern daß überdies sich ein Gleichnis anbahnt. Anklänge an Lehrmeister Kunerts, an Heym und Brecht etwa, werden hörbar, schließen sich jedoch ungezwungen in den Fortgang der Rede ein. Geschildert wird eine Sintflut. Keiner entgeht ihr. Auch der Redende wird von ihr betroffen. Er schwimmt, verloren, in aussichtsloser Situation, schwächer werdend, in der unabsehbaren Flut. Die Aussichtslosigkeit dieser, metaphorisch hergestellten, Situation wird nun zum Angelpunkt genommen für eine Schlußfolgerung. Er erinnert sich an eine Lehre, die hieß:

Nur wer sich verändert, den wird nicht verdrießen die Veränderung, die seine Welt erfährt.

Das ist, etwas vorschnell gesagt, eine Brechtsche Lehre. Muß man sie mit Brecht verbinden? Das Zitathafte fließt ein und hat eine bestimmte Bedeutung für diese Zeilen. Aber bedeutet Veränderung im Brechtschen Sinne nicht Offenheit, Hoffnung? In eine halbe Parodie auf Goetheverse verwandelt, bleibt der Sinn des Begriffs Veränderung in der fünften Strophe merkwürdig unbestimmt.

So entschloß ich mich, sofort zu handeln, und das Wasser schien mir nicht mehr kalt.

Wie handelt der Ertrinkende? Er gleicht sich dem Element an, in dem er ausweglos verloren scheint. Was ihn zu vernichten droht, verliert seine Drohung. Es scheint „nicht mehr kalt“.
Der Redende springt damit aus dem Bild, in dem er seine Situation zu begreifen suchte, heraus. Er hält sich nicht an die physikalisch-physiologische Wahrscheinlichkeit, die das Bild provoziert. Er übersteigt die Bildsphäre seiner Rede und verwandelt sie in die Abstraktion einer Allegorie. Das Gedicht wandelt sich ins allegorische Lehrgedicht, in dem nicht Situationen dargestellt, sondern Sätze, Thesen konkret erläutert werden. Die These, die hier verkündet wird, lautet etwa: man muß sich in der ausweglosen Situation nur dem, das diese Ausweglosigkeit bewirkt, anpassen, und man überlebt. Anpassung ist, so könnte man überspitzt sagen, die einzige Rettung.
Diese Anpassungsthese wird allerdings mit dem etwas irritierenden Vordersatz begründet:

Als das Wasser mir auch noch den Mund verschlossen –.

Fische sind zwar, wie es heißt, stumm, aber sind sie es, weil ihnen der Mund verschlossen worden ist? Die These wird doppelbödig. Diese Doppelbödigkeit wird weiter ausgebaut. Der Angepaßte fürchtet eine neue Veränderung, die Verdunstung des Wassers, die den zum Fisch Gewordenen zwänge, sich wieder zurückzuverwandeln. In was? Was war der Redende, ehe er sich, als Fisch, anpaßte? Bewußt und sehr bedeutungsvoll erscheint hier das Wort „Mensch“.

Denn aufs Neue wieder Mensch zu werden, wenn mans lange Zeit nicht mehr gewesen ist, das ist schwer für unsereins auf Erden, weil das Menschsein sich zu leicht vergißt.

Die letzte Zeile macht nun endgültig klar, daß die Anpassungsthese eine Irreführung darstellte. Kann man sagen, sie sei nur in ironischer Brechung zu verstehen? Ist die Irreführung von Ironie bestimmt? Nur im Beiklang. Denn der Irrweg, den der Gedichtverlauf nachzeichnet, ist wörtlich gemeint. Anpassung ist nicht die Rettung, wohl aber die große und fast unausweichliche Versuchung. Was aber geschieht, wenn man ihr nicht zu widerstehn vermag? Man vergißt das Menschsein, das sich „zu leicht vergißt“. Im Grunde liegt der Schlüssel für dieses Gedicht in diesem einen kleinen Wort „zu“. Der metaphorische und allegorische Apparat scheint nur deshalb aufgebaut worden zu sein, um wie in einer zugleich zwingenden wie auch überraschenden Schlußfolgerung sagen zu können, daß es zu leicht ist (zu leicht, nicht schon allzu leicht), das Menschsein zu vergessen.
Diese Schlußfolgerung hat politische Bedeutung. Sie sagt etwas aus über das Verhalten in unmenschlichen Zeiten. Sie sagt das nicht vom Einzelnen, vom Subjekt, sondern vom Menschen, dessen Menschsein im Zusammenleben mit Menschen definiert ist. Das Schicksal, von dem in diesem Gedicht geredet wird, ist nicht das des individualistisch, sondern das des gesellschaftlich bestimmten Menschen. Das Ich der Überschrift „Wie ich ein Fisch wurde“ bezieht sich nicht auf irgendeine Privatsphäre, sondern auf das Vorhandensein in der gesellschaftlichen Allgemeinheit der Menschen.
Diese politische Bedeutung, die im Gedicht aufgedeckt wird vor allem in den Widerständen, die in seinen Verlauf eingebaut sind, macht allerdings rückblickend den Apparat, mit dem es arbeitet, fragwürdig. Die naturhaften Verallgemeinerungen wirken harmlos. Selbst als Deckrede zerschleißt das metaphorische und allegorische Element. Die balladenhaften Klänge und Attribute erscheinen äußerlich, bloß schmückend. Wenn man noch so darüber reden kann, kann es noch nicht so ernst sein. Das Gedicht steht in einem inneren Widerspruch zu sich selbst. Die doppelte Brechung in vorläufige These (Scheinthese) und Widerruf der These findet, rückwärts gesehen, zu wenig Stütze in den Bildelementen. Die Metapher der Naturkatastrophe, die fast naturidyllische Verwandlung in den Fisch transportieren zwar den Gedanken, der gemeint ist, treten aber, sobald er formuliert wurde, merkwürdig bezugslos beiseite.
Anders und mit Entschiedenheit gesagt: der Widerspruch, in dem das Gedicht steht, läßt sich bezeichnen als ein Widerspruch zwischen den Redeweisen, mit denen es etwas sagt, und dem Erkenntnisgehalt, der ausgedrückt wird. Das Gedicht kann nicht bestehn als etwas, das so, wie es geschrieben worden ist, da steht. Es kann nur, paradoxerweise, bestehn, wenn man es im Lesen unmittelbar hinter sich abbricht. Wenn man seine Metaphern und seine allegorischen Bezüge als wahllos ergriffene, vorläufige auffaßt, als etwas, das eben nun zur Hand ist. Und das wäre, so denke ich, auch im Sinne Brechts. 

Helmut Heißenbüttel, aus Michael Krüger (Hrsg.): Kunert lesen. Carl Hanser Verlag, 1979

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