Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – ABC (Teil 2)

ABC

 

… Teil 1 siehe hier

Einzig in der Poesie (wie in den magischen Vorstufen des Orakels oder der Beschwörungsformel) ist das Alphabet in Restbeständen erhalten geblieben, freilich auch hier bloss auf der Buchstabenebene. Spezifische lettristische Formgebungen wie Binnen- oder Endreim, Alliteration, Assonanz oder Akronym sind beispielhaft dafür. Dazu gehören auch, besonders prominent, das Anagramm und das Palindrom, Letternkombinationen also, die durch Umstellung oder Umkehrung bewerkstelligt werden und solcherart immer wieder neue Effekte und Bedeutungen hervorrufen können. – Für die futuristische, dann die konkrete und oulipotische Dichtung (neuerdings auch für die Sprache der Werbung) sind diese lettristischen Verfahren bestimmend geworden, doch nach wie vor bleiben sie auch allgemein in der Wortkunst präsent.

Auf den Linguisten Ferdinand de Saussure geht die universalpoetische Vorstellung zurück, wonach jedes Dichtwerk als «Entfaltung» einer Buchstabengruppe beziehungsweise einer Lautkonstellation (in Gestalt eines Worts, eines Namens) zu begreifen sei. Das jeweilige Kern- oder Keimwort schliesse das Gedicht als Möglichkeitsform in sich; es entwickle eine eigene (autopoetische) Dynamik, die der Autor erkennen und, ständig vermittelnd zwischen formalen Zwängen und künstlerischen Freiheiten, lenken müsse. Nach Ferdinand de Saussure ist es «ein natürliches Spiel der Chancen mit den 24 Buchstaben des Alphabets», aus dem die Poesie erwächst und übrigens schon immer erwachsen ist.

 

© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten

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