Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. …“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. …“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

1898

 

Kommentar

Diese lapidare Aussprache, diese binäre Programmatik erinnert an Betroffenheitslyrik, wie man sie in Poesiealben findet. Den schwerfälligen Zeilenstil ist man auch bei dem frühen Rilke nicht gewohnt. Das Gedicht des 23jährigen hat eine direkte pädagogische Note und wird hier nur deshalb abgedruckt, weil es Erklärungsmaterial für andere Texte liefert, z.B. das fünf Jahre später entstandene Gedicht „Der Einsame“.
Das lyrische Ich fühlt sich in der menschlichen Gesellschaft offenbar so unwohl, dass es ihr nicht zuzugehören scheint; nicht wegen sozialer oder kultureller Ausgrenzung, sondern im zutiefst evolutionären Sinn einer anderen Art oder als extraterrestrisches Lebewesen, das über Intelligenz verfügt. Tatsächlich scheint hier ein Nicht-Mensch über sogenannte Menschen zu sprechen, mindestens aber ein äußerster Außenseiter über seine Gesellschaft.
Was aber gibt es an der Menschenwelt auszusetzen? Offenbar die Eingrenzung der Dinge in wohlfeilen Worten und den dazugehörigen Vorstellungen, die anmaßende Beherrschung der Welt mit den Mitteln der Zivilisation, vor allem jenen der Religion und der Sprache. Kern der Anklage ist also das, was Max Weber „die Entzauberung der Wirklichkeit“ nannte, ein Vorgang, der einer Entwertung der Natur zur Kulisse, der Lebewesen zur Staffage gleichkommt und dem die Unterdrückung der Kreatur auf dem Fuß folgt.
Der Anspruch des Alleswissens und Alleskönnens ist in vielen Kulturen als Hybris verbucht worden, weil es vor den Göttern nicht Halt machte (siehe Gen. 3). Der Pantheist ortet diese in den Dingen der Natur und warnt davor, ihnen zu nahe zu kommen. Dabei geht es nicht nur darum, sie als Natur zu respektieren und nicht zu zerstören, sondern auch um das eigene Natursein des Menschen, der aufhört Mensch zu sein, wenn er dies leugnet.
Rilke rührt also an die Eigenart der Spezies, wenn er ihr als Folge der Denaturierung die Möglichkeit des Seins abspricht. Das „In-der-Welt-Sein“ ist für den Menschen an seine Kreaturlichkeit gebunden, die wenigstens so weit erhalten bleiben muss, dass er versteht, was ihm andernfalls fehlt. Dazu muss er seiner Herkunft eingedenk bleiben und sein Jetztsein mit seinen naturnahen Ursprüngen zusammenbringen. Nur wer weiß, wer er war, kann wissen, was er ist: das geht als Appell von diesem Gedicht aus. Adressat ist die Menschheit als Ganzes, jedenfalls ihr „zivilisierter“ Teil, der sich zur Entstehungszeit des Gedichts auf dem Höhepunkt der industriellen Revolution befindet.
Die vermeintliche „Enträtselung des Kosmos“ hat um die Jahrhundertwende viele auf den Plan gerufen, die „Geist“ und „Leben“ in einem unseligen Kampf gegeneinander sahen. Gleich nach Erscheinen las Rilke in München noch im Januar 1919 Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlands, in dem er u.a. folgenden Passus fand:

Warum müssen denn Geheimnisse enträtselt, Fragen beantwortet werden? Ist es nicht die Angst, die schon aus Kinderaugen spricht, die furchtbare Mitgift des menschlichen Wachseins, dessen Verstehen, von den Sinnen abgelöst, nun vor sich hinbrütet, in alle Tiefen der Umwelt dringen muß und nur durch Lösungen erlöst werden kann? Kann das verzweifelte Glauben ans Wissen von dem Alpdruck der großen Fragen befreien?
„Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil.“ Wem das vom Schicksal versagt worden ist, der muß versuchen, Geheimnisse aufzudecken, das Ehrfurchtgebietende anzugreifen, zu zerlegen, zu zerstören und seine Beute an Wissen davonzutragen. Der Wille zum System ist der Wille, Lebendiges zu töten. Es wird festgestellt, starr gemacht, an die Kette der Logik gelegt. Der Geist hat gesiegt, wenn er sein Geschäft des Erstarrenmachens zu Ende geführt hat
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Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

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