Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Herbsttag“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Herbsttag“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

1902

 

Kommentar

Kaum ein einigermaßen Gebildeter in Deutschland, der dieses Gedicht nicht kennt. Die Schulbücher machen es möglich. Ob es auch die „Botschaft“ ist, die dem Gedicht zu allgemeiner Bekanntheit verhalf? Unter hundert Gedichten deutscher Zunge ist dies eines der gelungensten. Der Kommentator ist gehalten zu sagen, warum.
Es ist ein melancholischer Text, der uns an unsere Sterblichkeit erinnert und damit eine gediegene Traurigkeit evoziert. Gediegen ist sie deshalb, weil wir sie als schön, als sinnhaft, gar als vitalistisch-lebensfroh empfinden. Das Gedicht pflegt das abendländische Selbstmitleid des müden Geistes, aber es tut dies unauffällig und moralisch neutral. Es reiht uns Menschen in das Stirb und Werde der Natur ein und teilt uns ein Schicksal zu, vor dem es kein Entrinnen gibt und kein Entrinnen wünschenswert ist. Es verwöhnt uns mit einer kosmischen Musik, die in ihrer fröhlichen Traurigkeit harmonisch ist, vielleicht zu harmonisch.
Damit sind wir bei dem Gedicht als Klangkunstwerk, das Rilke meisterlich beherrscht. Schier alles klingt, Vokale, Diphtonge, Umlaute, Konsonanten stehen in Reihe, der jambische Gundtakt wird aufgemischt, so dass kein Gleichmaß aufkommt, sondern Auftaktspannung („Leg“, „gieb“, „dränge“, „unruhig“), Wechselspannung („es ist Zeit. || Der Sommer“), Entspannung („in den schweren Wein“). Dazu hilft der trochäische Gegentakt, wo nötig („wachen, lesen, lange Briefe schreiben“). Die fünf Hebungen sind nur in den Zeilen 8 bis 11 erfüllt, in den restlichen arbeitet der Wortakzent gegen die Monotonie. Ein Gedicht, dass an Komplexität bei aller Schlichtheit des Ausdrucks nicht zu überbieten ist.
Schönheit lässt sich aber nicht im Detail begründen. So scheint es keine Rolle zu spielen, dass Strophe 2 und 3 jeweils um eine Zeile zunehmen und so erst 3, dann 4, dann 5 Zeilen umfassen, wobei freilich Strophe 1 ein verkappter, virtuos verkürzter Vierzeiler ist. Auch dass der fünffache Imperativ eine rhetorische Kette in steigernder Anordnung aufbaut und insistierend, dynamisierend wirkt, macht sich in der Gebetsform unschuldig und wiederum unscheinbar.
Ganz und gar unscheinbar aber ist der Anthropozentrismus: dass nämlich der angesprochene „Herr“ zu Handlungen aufgefordert wird, die er in seiner doch gemeinhin unterstellten Allmacht auch ohne menschliches Zutun vollbringt. Indem der Beter jedoch in frommer Gebetshaltung auftritt (auch wenn er damit offene Türen einrennt), gelingt es ihm, die Ohren der Leserin, des Lesers mit einem rhetorischen déjà vu zu umschmeicheln und so neben der lyrischen Raffinesse die theologische Ungeheuerlichkeit zu verbergen.
Rilkes persönliche Lage in jenem Spätsommer 1902 war derart, dass er nach der jähen Übersiedlung von Worpswede nach Paris sich entwurzelt und heimatlos fühlte. Was zunächst als Trennung von Frau und Kind gedacht war, mündete zwar schon nach Kurzem in eine distanzierte Form der Fortsetzung des gemeinsamen Lebens in Paris (ohne Kind), aber der aufgelöste Hausstand in Westerwede bei Bremen wurde doch nostalgisch beklagt:

Trümmer der Vergangenheit, aber hoffentlich auch: Bausteine einer Zukunft. Wir werden nicht sobald ein Heim haben wieder.1

Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

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