Felix Philipp Ingold: Aufs Wort (genau) – Im …

Aufs Wort (genau) – Teil 12

 

Teil 11 siehe hier

Im Unterschied zum Wörterbuch, zum Lexikon ist die Liste – als eigenständige Textsorte betrachtet – nicht notwendigerweise alphabetisch geordnet. Unterschiedliche Ordnungskriterien können hier zur Anwendung kommen, so zum Beispiel die Dringlichkeit (Traktanden, Termingeschäfte, medizinische Massnahmen usf.), die funktionale Zusammengehörigkeit von Dingen oder Begriffen, ein vorgegebener Einzugsbereich (Tarnfarben; Giftpilze; ausgestorbene Vögel oder Korallen; literarische Neuerscheinungen; Tiefkühlprodukte usf.). Insgesamt sind Listen darauf angelegt, Zusammengehöriges übersichtlich zusammenzuführen, in der Alltags- und Berufspraxis fungieren sie zumeist als Projektskizzen, als Handlungsanweisung, als Inventaraufnahme oder als Erinnerungsstütze.
Die formale Eigenart der Liste besteht darin, dass sie in vertikaler oder horizontaler Fügung, nummeriert oder unnummeriert, Einzelwörter nach einem vorbestimmten (oft nicht eigens genannten) Auswahlmodus aufreiht, um bestimmte Sachverhalte beziehungsweise Materialbestände vollumfänglich oder teilweise zu erfassen, sie dabei zu ordnen, vielleicht auch zu bewerten. Im hier gegebenen Kontext soll damit nur einfach auf diesen besonderen Funktionszusammenhang aufmerksam gemacht und noch einmal verdeutlicht werden, auf welch vielfältige Art das Wort als solches, unabhängig von syntaktischer Einbindung und über seine lexikalische Bedeutung hinaus, zum Tragen kommen kann. In der künstlerischen Literatur werden Begriffs- und Namenlisten seit jeher (oft in parodistischer Absicht) anstelle von narrativen Situations-, Objekt- oder Personenbeschreibungen eingesetzt – vom Homer’schen Schiffskatalog («Odyssee», II) und den alttestamentlichen Genealogien über die «Carmina burana» und François Rabelais bis hin zu Jorge Luis Borges und den ludistischen Autoren des Pariser «Werkkreises für potentielle Literatur» sind dafür zahlreiche Beispiele namhaft zu machen. Mit der Poesie wiederum teilt die Liste die formale Eigenschaft, dass sie in aller Regel (bei senkrechter Aufstellung) unterschiedlich lange Zeilen aufweist.

… Fortsetzung hier

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