Françoise Lartillot: Baudelaires Schatten in „flaschenpost“ und „berlin. flaneur de la nuit“ von Wolfgang Hilbig

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Wolfgang Hilbigs Gedichten „flaschenpost“ und „berlin. flaneur de la nuit“ aus Wolfgang Hilbig: Werke Band 1 – Gedichte. −

 

 

 

 

WOLFGANG HILBIG

flaschenpost

postum kam die botschaft des unglücks auf mich –
flaschenpost geschwommen durch alle vergangenheit
die kalte grüne flasche
zerplatzt an meiner stirn wenn es zeit ist jedes jahr:
wie lange schon habe ich getrunken
wie lange schon gift geraucht schon lange
gegessen getrunken mich vollgesoffen mit schwermut und rotz
des heuchlers napf des söldners stiefel waren voll
von worten die ich angewidert schmeckte

schon lange höre ich mich selber sprechen –
(von zwei monatslöhnen hab ich
gekauft zwei blaue anzüge völlig die gleichen
ich behaupte überall sie sind gestohlen (der schweiß
der eilig meine adern durchtreibt hat zu tode
gelangweilt die frauen (meinesgleichen sucht eine stille
Stellung zwischen vier doppelten elektrozäunen (nein

längst zerren an mir die schmutzigen stricke
der niedertracht längst gehe ich schwanger mit
einem mörder das verbrechen ach unbefleckte
empfängnis ist die wurzel meines bewußtseins schon lange –
schon lange hasse ich mich und meinen hass und
meines hasses schwäche und kaum noch kann ich ihn tragen
den heulenden buckel der angst

mein schwaches nein gezogen auf flaschen –
mein schwacher hass aus gelbem schweiß geraucht –

man sagt du seist tot uraltes
unsterbliches aas o unglück doch
ich habe deine botschaft vernommen
und ich setze sie fort in mir.

 

berlin. flaneur de la nuit

wüstengelbes wasser
des flusses in des sommers schneefall
ein entferntes flammengewölk unter arktur
färbt götterfarben den trauernden
nur die nacht noch ist widerspruchswarm

die nähergetürmten küsten mystischer wetter
verbergen das licht aller übrigen
geschlossenen grenzen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadieses parks einer sprache
der das handwerk gelegt ist

man weiß nicht wird abend wird morgen
für eintagsschwärmer lebenskrank die flattern
die somnambule elektrizität verfinstern
menschliches aber ist zu gehirnen erlöste architektur
deren erleuchtung der fluss wiederholt wie
dinge die flüchtigen spiegel der namen sind

o asche rann vom gemäuer o stahlglas stieg
aus babylon und keiner verstand
des anderen schweigen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaain stiller hölle vergebens
der tote vater harrt des toten sohns

o aschefall o leise
von ufer zu ufer langsam wandelt
der schwarze nachen der verbrannten wolke
in des verstummten kehle löscht arktur sein licht

 

Baudelaires Schatten in „flaschenpost“ und

„berlin. flaneur de la nuit“ von Wolfgang Hilbig

Il est difficile de décider si l’allégorie est le corps ou l’ombre de la mélancolie baudelairienne.1
Jean Starobinski

Hilbig gehört zu einer Generation von DDR-Lyrikern, die spätestens seit den 1960er-Jahren an die Moderne (u.a. an die französische Moderne) anschließt, und dies keineswegs aufgrund eines „Nachholbedarfs“, sondern aufgrund eines grundsätzlichen Willens zur literarischen Schöpfung. Dieser Wille geht einerseits auf eine Form der geopoetischen Phänomenologie zurück, wie sie Hilbig anlässlich eines Gesprächs mit Marie-Luise Bott erwähnt hat: „Also hatte ich meine ganze Kindheit über Wüste, Wasser und Wald vor Augen. Das ist logischerweise so ein Ursprungsgefilde für mich“, andererseits steht sie in Kongruenz mit dem Ergebnis seiner intensiven, formbewussten Auseinandersetzung mit der Moderne, wie er im selben Gespräch betont hat:

Aber wenn man Leser von moderner Lyrik ist, und das bin ich – ich lese meistens nichts anderes als Gedichte –, kann man diese Art von Metaphorik durchgehend in der ganzen Moderne finden. Das sind also teilweise auch Lektüreergebnisse. Wahrscheinlich geht es bei mir immer um Atmosphäre. Und wenn ich ähnliche Atmosphären bei anderen Lyrikern finde, könnte man Gift darauf nehmen, dass die mich beeinflusst oder bestärkt haben.2

Diese Selbstverortung als Erbe der Moderne (so sehr ein gewichtiger Teil der Literaturkritik auch dazu neigt, Hilbig als vereinzelte Erscheinung zu behandeln und allgemein die Rezeption der Moderne als eine eher westliche festzuhalten)3 in Verbindung mit einem genuinen Wahrnehmungsmodus und mit einem intensiven Lektüreprozess wurde bereits an einzelnen Texten nachgewiesen (insbesondere an der Rimbaud-Rezeption in der Sammlung abwesenheit).4 Baudelaires Präsenz in Hilbigs Texten wurde jedoch bisher kaum beachtet, obwohl Vieles für deren Berücksichtigung spricht, von der frühen Bewunderung Hilbigs für die Nabis, die er mit Sigmar Faust und Gert Neumann u.a. teilte, die 1968 eine Künstlergruppe unter diesem Wahrzeichen gründen wollten,5 über seine betont positive Reaktion auf eine Kritik, die diesen Einfluss hervorhob,6 bis hin zu den zahlreichen Büchern Baudelaires in seiner Bibliothek.7
In diesem Aufsatz soll die Baudelaire-Rezeption Hilbigs anhand der Interpretation von zwei Gedichten aus den 1970er-Jahren, in denen Hilbig den Anschluss an die Moderne „übt“, analysiert werden: „flaschenpost (1971 verfasst, 1979 in der BRD in der Sammlung abwesenheit veröffentlicht, Werke Band 1, S. 70) und „berlin. flaneur de la nuit“ (1979 verfasst, 1983 in der DDR im Band stimme stimme veröffentlicht, Werke Band 1, S. 111).
Dass diese Gedichte eindeutig an Baudelaire anknüpfen, ist nicht zu bestreiten. Aber welche Moderne wollen sie mit Baudelaire und über ihn hinaus beerben?
Welcher Stellenwert wird Baudelaires Definition der Moderne als gespaltene und dynamische Zeitwahrnehmung zugestanden, an deren Koordinaten hier erinnert werden soll? Baudelaire prägte den Umgang mit dem Wort „modernité“ in der französischen Sprache nachhaltig, wenn er dieses Wort nicht gar in Umlauf brachte. In diesem Kontext kommt man nicht umhin, seine berühmten Formeln aus dem Essay zu Constantin Guys einmal mehr zu zitieren:

Die Moderne ist das Vergängliche, Flüchtige, Mögliche, eine Hälfte der Kunst, deren andere das Ewige und Unwandelbare ist. (Charles Baudelaire: Ausgewählte Werke in 3 Bänden. Bd. III: Kritische und nachgelassene Schriften, hg. v. Franz Blei, München 1925, S. 168)

Etwas weniger systematisch behauptet Baudelaire an einer anderen Stelle des Essays, er würde eine „vernunftgemäße und geschichtliche Theorie des Schönen“ einer Theorie des „einen und absolut Schönen“ vorziehen (Charles Baudelaire: Ausgewählte Werke in 3 Bänden. Bd. III: Kritische und nachgelassene Schriften, hg. v. Franz Blei, München 1925, S. 154). An dieser Stelle bringt er die berühmte Definition:

Das Schöne besteht aus einem ewigen, unveränderlichen Teil, dessen Anteil äußerst schwierig zu bestimmen ist, und aus einem relativen, zufälligen Element, das man wechselweise oder zusammen als Epoche, Mode, Geist, Leidenschaft bezeichnen mag. (Charles Baudelaire: Ausgewählte Werke in 3 Bänden. Bd. III: Kritische und nachgelassene Schriften, hg. v. Franz Blei, München 1925, S. 154)

Gerade diese Formeln galten als paradigmatischer Ausdruck einer epochemachenden Zuspitzung des Gefälles, das seit dem 17. Jahrhundert „antik“ und „modern“ gegenüberstellte und die Rekonstruktion des sich aus dieser Opposition ergebenden Zeitgefühls als Ort einer „symbolistischen Schwingung“ als Aufgabe der Literatur definierte. Jedoch wurden diesen Koordinaten unterschiedliche Bedeutungen beigemessen. Einerseits wurden sie an Baudelaires Hin-und-Her-Gerissensein zwischen Dandysmus und Revolution8 gebunden. Hier ordnen sich sowohl die Überbetonung des Hässlichen und Verbrecherischen, aber auch des Religiösen durch die frühe deutsche Rezeption9 (z.B. der Expressionisten), als auch die als sozialästhetisch eingestufte Lektüre eines Walter Benjamins10 ein. Andererseits wurde Baudelaires Position nach 1945 immer wieder an gewissen Paradoxien festgemacht, die aber gleichzeitig dazu beitrugen, seine Aktualität zu relativieren (so etwa in der BRD das Gefälle zwischen Ideal und Mode bei Hans Robert Jauss11 und die Überbetonung des Asozialen bei Hugo Friedrich,12 in der DDR die frühe sozialistisch geprägte Auffassung der Moderne als antimarxistische Einstellung, die aber im Laufe der Zeit einige Korrekturen erfuhr).13 Anstelle dessen wurden von Intellektuellen, die aus verschiedenen Gründen dieses DDR/BRD-Gefälle nicht als konstitutiv für ihr Verständnis der Moderne betrachten wollten (bzw. betrachten konnten), andere Schemata eingeführt. Dies ist insbesondere der Fall bei Michael Hamburger, der sich in Wahrheit und Poesie von England aus als Anti-Friedrich positionierte und anhand einer Untersuchung der inszenierten Masken des Selbst eine Rückkoppelung des Ästhetischen und des Sozialen in der Moderne erkannte.14 Es trifft auch bei Starobinski zu, der zwar etwas normativ von der klinisch erfassten Position des Melancholischen ausging, um den Stil Baudelaires zu definieren, dafür aber dieser Fragestellung eine sehr aufschlussreiche Erkenntnis zu dessen sehr wohl historisch gemeinter Ästhetik entnahm. Schließlich ist auch in diesem Sinne die Position von Yves Bonnefoy hervorzuheben, der die Rückkoppelung von Leben vs. Tod und Rhythmus bei Baudelaire aufwertete und darin in ihm einen Mitgefährten der eigenen Lyrik erkannte.15 Diese Aufzählung von Positionen der Forschung in Bezug auf Hilbigs Poetik zeigt bereits, dass Hilbigs Rückgriff auf Baudelaire keineswegs als Suche nach einem Ausgleich zwischen der BRD und der DDR gedeutet werden kann und ebenso wenig als antiquiert betrachtet werden sollte. Vielmehr sollte man sich fragen, inwieweit dieser Rückgriff zur Entwicklung einer eigenen Ästhetik beiträgt und es somit erlaubt, Hilbigs Lyrik und seine Baudelaire-Rezeption als eine gegenwärtige wahrzunehmen. Dies soll nun mit Hilfe eines Close Readings an zwei in dieser Hinsicht exemplarischen Texten induktiv untersucht werden.16

 

Ur-Alp-Un-Traum der Moderne

flaschenpost (1971)

postum kam die botschaft des unglücks auf mich –
flaschenpost geschwommen durch alle vergangenheit
die kalte grüne flasche
zerplatzt an meiner stirn wenn es zeit ist jedes jahr:
wie lange schon habe ich getrunken
wie lange schon gift geraucht schon lange
gegessen getrunken mich vollgesoffen mit schwermut und rotz
des heuchlers napf des söldners stiefel waren voll
von worten die ich angewidert schmeckte

schon lange höre ich mich selber sprechen –
(von zwei monatslöhnen hab ich
gekauft zwei blaue anzüge völlig die gleichen
ich behaupte überall sie sind gestohlen (der schweiß
der eilig meine adern durchtreibt hat zu tode
gelangweilt die frauen (meinesgleichen sucht eine stille
Stellung zwischen vier doppelten elektrozäunen (nein

längst zerren an mir die schmutzigen stricke
der niedertracht längst gehe ich schwanger mit
einem mörder das verbrechen ach unbefleckte
empfängnis ist die wurzel meines bewußtseins schon lange –
schon lange hasse ich mich und meinen hass und
meines hasses schwäche und kaum noch kann ich ihn tragen
den heulenden buckel der angst

mein schwaches nein gezogen auf flaschen –
mein schwacher hass aus gelbem schweiß geraucht –

man sagt du seist tot uraltes
unsterbliches aas o unglück doch
ich habe deine botschaft vernommen
und ich setze sie fort in mir.

 

a) Moderne „Signale“

„flaschenpost“ (Werke Band 1, S. 70) steht an keiner exponierten Stelle im Band, fällt jedoch dadurch auf, dass es an mehrere Gedichte des Bandes anschließt, die überwiegend ein ,modernes‘ Modell dialogisch besprechen („enzensberger“ in „gegen den strom“, (Werke Band 1, S. 12), „novalis“ im gleichnamigen Gedicht (Werke Band 1, S. 53), „rimbaud“ in stimme stimme (Werke Band 1,  S. 48–50), „chlebnikow“ in „langes leben. an chlebnikow“ (Werke Band 1, S. 66)), und seinerseits mehrere Dispositive der Moderne durch unmarkierte Zitate oder Anspielungen verschränkt. Diese Verschränkung fängt mit dem Titel an, der sich die „flaschenpost“ aneignet und somit das Fanal der Moderne schwingt. Zum hilbigschen Motiv „Flaschenpost“ fällt einem einerseits E.A. Poes „MS. Found in a Bottle“17 ein. Wodurch auch gleichzeitig eine Verknüpfung mit Baudelaire hergestellt werden kann, da dieser bekanntlich Poes Werke ins Französische übersetzt hat und sich u.a. von dieser Kurzgeschichte inspirieren ließ.18 Andererseits denkt man selbstverständlich unmittelbar an Paul Celans Bremer Rede, in der Celan selbst bekanntlich an Mandelstams Essay über den Gesprächspartner anknüpft. Was die poesche Rezeption angeht, klammert Hilbig das rein Phantastische aus. Die ganze „Fliegender Holländer-Szenerie“ wird bei ihm einzig auf „flaschenpost geschwommen durch alle vergangenheit“ zurückgeführt, jedoch übernimmt er die Dopplung und die gleichzeitige Einsamkeit des schreibenden Ich, zwischen postumem Dasein, Tod und Leben schwebend. Einige Passagen der poeschen Flaschenpost treffen sogar unmittelbar auf die Situation des hilbigschen Ich zu, wie z.B.:

Vor rund einer Stunde hab’ ich mich erdreistet, mich in eine Gruppe der Mannschaft einzudrängen. Sie achteten meiner auf keine Weise; und schienen, ob ich schon genau in der Mitte von ihnen Allen stand, meiner Anwesenheit absolut unbewusst.19

Weiter stellt das schreibende Ich fest, der Kapitän des Bootes sähe ihm ähnlich, jedoch wirke er uralt, so dass er selbst eine Art von Archiv verkörpern würde:

Seine grauen Haare sind Annalen der Vergangenheit und seine graueren Augen Sibyllen der Zukunft.20

Von Celan und Mandelstam übernimmt Hilbig möglicherweise die Überlegung zur Dialogizität von Poesie, und vor allem erlaubt es ihm, über das Motiv der Flaschenpost Celan und Poe gleichzeitig zu zitieren.
Diese Verschränkung setzt sich bis zur letzten Strophe fort, in der die Moderne durch die Erwähnung des „uralte(n) / unsterbliche(n) Aas(es)“ als Anspielung auf Baudelaires gleichnamiges Gedicht aufgehoben wird, nachdem sie noch durch weitere Anspielungen aufgegriffen und ergänzt wurden. Hilbig benutzt einerseits biographische Daten: „botschaft des unglücks“ (V. 1) könnte u.a. den Freitod Celans 1970 meinen, von dem Hilbig während des Verfassens des Gedichts, das auf 1971 zurückdatiert ist, vielleicht hörte; „die kalte grüne flasche“ könnte sich auch u.a. auf Baudelaires Gepflogenheit, Absinth zu trinken, beziehen. Andererseits flicht er textuelle Anspielungen ein: Die Aussage des Ich im ausgesetzten Vers: „schon lange höre ich mich selber sprechen –“, die in der Sekundärliteratur oft als Beweis für das Autobiographische bei Hilbig zitiert wird, sowie mehrere andere Angaben zur Ich-Situation erinnern an die Position des Redenden in „MS. Found in a Bottle“. Zudem verwendet Hilbig motivische Anspielungen: „schwermut und rotz“ könnte „spleen und ideal“21 variieren, der „heuchler“ könnte auf das berühmte eröffnende Gedicht der Blumen des Bösen anspielen, das mit dem Vers „Du, Leser, kennst das holde Untier auch, / Heuchelnder Leser – Bruder – meinesgleichen!“ (Charles Baudelaire: Ausgewählte Werke in 3 Bänden. Bd. I: Die Blumen des Bösen, hg. v. Franz Blei, München 1925, S. 35f.)22 abschließt, die „elektrozäune“ (V. 16) und „das verbrechen“ (V. 19) könnten wiederum Requisiten aus dem baudelaireschen Dichtungsmaterial mitzitieren: Elektrizität etwa im Sinne einer Energie, die das Verhältnis zwischen Künstler und Masse allegorisiert,23 Verbrechen im Sinne der oft betonten Anziehungskraft des Satanischen und Verbrecherischen für Baudelaire.24
Die Bedeutung dieser Fülle von Wiederaufnahmen soll an deren Wirkung im Textprozess ermessen werden. Vorauszuschicken ist, dass Hilbig sich allein durch diese Signale (Worte wie „flaschenpost“ und „aas“ und Situationen wie Dopplung, Einsamkeit) in eine Ahnenreihe einordnet; wodurch das Gedicht die Programmatik, die von dem Titel des Bandes abwesenheit angekündigt wird, auf eine besondere Art erfüllt, die sich von einer rein sozial-bedingten abhebt.25

 

b) Textprozess

Die sprechsituativen Zeichen scheinen den Text zwischen Bekenntnis und Statement zu verankern: Statement (V. 1): „postum kam die botschaft des unglücks auf mich –“; Bekenntnis des sprechenden Ich (V. 2–9); selbstreflexive sentenzartige Strophe (Strophe 2 aus einem Vers bestehend, Strophe saus zwei Versen bestehend); bekenntnisartige Nacherzählung (Strophe 3 und 4); erneutes Statement (Strophe 5), synthetisches Statement (Strophe 6). Allerdings wird diese Einteilung wiederum durch verunsichernde Signale in Frage gestellt, dies vor allem in den Strophen 3 und 4, wo eine monologartige Rede (oben als Bekenntnis aufgefasst) von einer öffnenden Klammer eingeleitet wird, die von einer zweiten öffnenden Klammer ausgelöst wird, von denen keine zu einer abschließenden Klammer führt, so dass die Authentizität des Redeflusses, der ohnehin grammatikalisch und strukturell von den Zeilensprüngen unterbrochen wird, in Frage gestellt werden könnte. Der Stil der vierten Strophe klingt auch nüchterner, der Stil der fünften elegischer, beide aber gekünstelt. Auch taucht in Strophe 6 ein „man“ auf, dem das Ich widerspricht. Im Endeffekt erscheint also das ganze Gedicht als das Ergebnis einer vielfältigen dis  kursiven und allegorischen Brechung, die die „hilbigsche Negativität“ wiedergibt. Es ließe sich die starobinskische Opposition, die eingangs zitiert wurde und die nach der Meinung des Schweizer Wissenschaftlers Baudelaires Haltung charakterisiert, auf das hilbigsche Gedicht übertragen: frei nach Starobinski könnte man behaupten, es sei unentschieden, ob die allegorische diskursive Brechung als Körper der hilbigschen Negativität oder als Schatten derselben zu gelten habe, worin Hilbig gerade Baudelaires ästhetisch-strukturelles Erbe antritt. Wie könnte man aber diese Übernahme genauer definieren? Die erste Strophe stützt die Hypothese, wonach Hilbig mit dem Titel auf Poe und Celan anspielt. Liest man nur die ersten vier Verse, so kann man Folgendes feststellen: Einerseits wird von einem Standpunkt aus gesprochen, der weder objektiviert noch subjektiviert werden kann. „postum“ (als erstes Wort des Gedichts) verweist gleich auf diese Ambiguität, denn die Botschaft könnte das Ich nach dem Tod des Sprechenden erreicht haben oder aber das „ich“ könnte postum schreiben. Im ersten Fall wird möglicherweise auf Celans Schicksal angespielt, der sich ein Jahr vor dem Entstehen des Gedichts, 1970, das Leben nahm, wovon Hilbig möglicherweise nachträglich (postum in diesem Sinn) erfuhr – so gäbe sich der Text als ein biographisch gemeinter zu erkennen. Im zweiten Fall wird aber das Dispositiv von Poe in „MS. Found in a Bottle“ wieder aufgegriffen. Als (vielleicht schon) Ertrunkener, der sich jedoch von dem gesunkenen Schiff auf ein anderes hinüberschwingen konnte, wird der Schreibende von den Matrosen dieses Schiffes, selbst ein gespenstisches Wesen, nicht wahrgenommen. Der Bericht, der dem Leser von der auktorialen Instanz vermittelt wird, die möglicherweise die Flaschenpost gefunden hat, ist also möglicherweise die Nachricht, die dieses jenseits von Leben und Tod schwebende Ich in einer Flasche hinterlassen hat, bevor das gespenstische Schiff von einem gigantischen Schlund aufgesogen wurde. Von diesem Untergang berichtet vor allem dieser Zeuge. Zwar wird bei Hilbig die phantastische Szenerie außen vor gelassen, jedoch wird in dem Gedicht wie bei Poe das Schreiben inchoativ betrachtet und geht situativ auf einen jenseits von Tod und Leben abdriftenden, unwahrscheinlichen Zeugen zurück.
Andererseits wird hier allegorisch-metonymisch auf die Verbundenheit des sprechenden Ich mit der modernen, sogenannten baudelaireschen, materiellen Todesverwandtschaft26 hingewiesen. Dabei wären aber zwei mögliche „Erweiterungen“ denkbar: einerseits in Richtung von Hilbigs eigener Alkoholsucht und eigenem Hang zur Selbstzerstörung, zu dem sich das Ich über die Identifikation mit Baudelaire bekennt, andererseits in Richtung einer anthropologischen Überlegung, die sich bei Hilbig auf die Verquickung von „biographischen“ und historisch belasteten Daten stützt. Die „kalte grüne flasche“, die jedes Jahr an der Stirn zerplatzt, könnte an diese Vorstellung einer schrecklichen Übereinstimmung anknüpfen, die Hilbig nicht los wurde, und an die er jedes Jahr denken musste,27 wonach sich traumatische Begebenheiten, Verbrechen gegen die Menschheit und eigene Biographie unvermeidlich verbinden. Dieses schockartige Erlebnis könnte möglicherweise durch den Freitod Celans reaktiviert worden sein, der der „Anlass“ zum Gedicht wurde und gleichzeitig als „Datum“ wirkte, wovon Hilbig durch das intertextuelle Schichten zeugt. Damit erzeugt Hilbig eine Variante der celanschen Datenpoetik und aus diesem Grund und nicht aus dem Grund der „Lust“ zum Biographieren sind diese Angaben relevant.
Das Ich, das das Intertextuelle sowohl um die biographische Perspektive, die eigentlich eine Brücke zum Anthropologisch-Geschichtlichen schlägt, als auch um die ästhetische Perspektive, die die ganze moderne Haltung rückblickend miterfasst, erweitert, das als ein „verewigtes“ Ich (in diesem Sinne „unsterblich“ (V. 27) genau wie der poesche Kapitän quasi die ganze menschliche Geschichte überblickt) erscheint (siehe in den Versen 5, 6 und 20, 21 die Wiederholung „wie lange schon“, „wie lange schon“, „schon lange“) spricht gleichzeitig von einer mehrfach gespaltenen Lage aus (jenseits von Tod und Leben schwebend, abseits der dichterischen kontemporären Gemeinschaft, welche es auch sei, ob DDR oder BRD, jenseits aller gutbürgerlichen Normen). Diese Situation ist gleichzeitig die einzig mögliche, um von den historisch verbürgten, anthropologisch verankerten Gräueltaten in ihrer ganzen Tragweite zu zeugen. Die Verse 8 und 9, die die erste Strophe abschließen – „des heuchlers napf des söldners stiefel waren voll / von worten die ich angewidert schmeckte“ – bilden in dieser Hinsicht eine Aktualisierung des baudelaireschen Appells an den heuchlerischen Leser, dessen Verbundenheit mit dem Bösen (oder stilisiert mit der Langeweile, die nur die verschwommene Übertragung desselben ist) zu erkennen. Heute (1971) wird bei Hilbig der Hang zum Bösen mikrostrukturell metonymisch-verschärft dargestellt, wobei die Gefährdung hier die Sprache mit einbezieht, die auch als besudelt erscheint, jedoch wird makrostrukturell durch die Zwiespältigkeit der Perspektive die „symbolistische“ Verschwommenheit als Ausdruck einer Verwirrung des Subjekt-Objekt- und des Zeit-Raum-Bezugs beibehalten.
Somit ist der Vers „schon lange höre ich mich selber sprechen –“ weniger ein Statement über Hilbigs Lage als in der DDR verankertes Individuum, als ein vielperspektivisches Zeugen von Hilbig als Autor, der ein Bewusstsein inszeniert, das das Wissen der Moderne und das Wissen um die Moderne metonymisch zusammenpresst, umdichtet und an die kontemporäre Not als Ergebnis dieses doppelten archäologischen und anthropologischen Sachverhalts anpasst.
Was folgt, ist ein Bericht, der scheinbar autobiographische Bilanz über eine verwahrloste, schwierige Existenz zieht, in die gleichzeitig Fragmente der modernen Selbststilisierung (hier der baudelaireschen) einmontiert und entauratisiert werden. Bei einer genaueren Lektüre stellt man aber fest, dass Hilbig den Diskurs über sich distanziert wiedergibt und beides, Bericht und distanzierte Wiedergabe, gegeneinander ausspielt, um zu einer dritten Perspektive zu kommen, die der Vielperspektivik, aber auch der Radikalität des Gedichts entspricht.
So könnte man der dritten und vierten Strophe einerseits ein „typisches“ stichwortartiges Bekenntnis à la Baudelaire mit den Motiven der Entzweiung, der Konfrontation von Höhe und Niederung, der ungeschminkten Erwähnung des gescheiterten Liebeslebens ablesen. Andererseits aber könnte man ihnen ein typisches Porträt von Hilbig entnehmen, wie es die bundesrepublikanische wie die – von der Stasi gesteuerte – östliche Kritik bevorzugte. Das hilbigsche Ich bekennt nämlich, dass es sich „von zwei monatslöhnen“ „zwei blaue anzüge völlig die gleichen“ gekauft habe. Auch gibt es sein Unbehagen darüber preis, da es auch „behaupte(t)“, dass diese „gestohlen“ seien. Diese Verse wirken geradezu karikierend und lassen ahnen, dass Hilbig damit seine Wahrnehmung durch die Außenwelt wiedergibt.
Der eine blaue Anzug ist der Blaumann des Arbeiters, der andere blaue Anzug mit Gewissheit der Anzug des Dichters, der sich als Erbe der Romantik („blaue Blume“) betrachtete. Diese zwei „Funktionen“, die Hilbig in einem nuancierten Statement als „Anlass“ und nicht als „Hintergrund“ betrachtet haben wollte,28 werden im Gedicht in das Licht einer schlechten, pathoserfüllten Arbeiterromantik gerückt, die Hilbig seinen Lesern und Kritikern in die Hand spielt, indem er sein Ich in diesem Sinne von außen darstellt.
Diese Zeilen stellen also formell das entstellte doxographische Porträt des lyrischen Ich der Moderne dar. Sie zeigen aber auch thematisch, dass die (rationelle) Grausamkeit sich gesteigert hat. So ist die Elektrizität, die bei Baudelaire noch den Umlauf der Energie, die die Menge und den Dichter verbinden könnte, allegorisierte, hier in der gesteigerten Form der „vier Elektrozäune“ eindeutig der Ausdruck eines pervertierten und pervertierenden Zivilisationsprozesses. Diese Elektrozäune, die selbstverständlich die Barbarei (der Verbrechen an der Menschheit in der NS-Zeit und später der Diktatur in der DDR) metonymisieren, sind das Indiz einer Erfüllung der adornoschen und horkheimerschen Analyse zum bürgerlichen Zivilisationsprozess, der unter dem Zeichen der instrumentellen Vernunft steht und aus dem Geiste der Verschlungenheit von Mythos und Aufklärung geboren wird.29 Das Ich lehnt sich jedoch, wenn auch nur durch ein schwaches „nein“ (am Ende des 16. Verses nach einer neuen öffnenden Klammer), auf. Ein anderer Ton wird angeschlagen, die Perspektive gewechselt, indem die Langzeitperspektive wieder eingenommen wird. Hier werden wieder typische Haltungen der „modernen“ Dichter erwähnt: das Niederträchtige, die Erkenntnis der „Wurzel des Bewusstseins“ als eine kriminelle, die Erkenntnis des Selbsthasses als Antrieb des Sprechenden und nicht zuletzt, aber diesmal besonders auf die Lage in der Diktatur gemünzt, also die Lage des 19. Jahrhunderts und die Lage in Deutschland zwischen 1933 und 1945 sowie in der DDR nach deren Gründung verquickend, die Erkenntnis der Angst, die einen quält und die ganz baudelairisch metonymisiert und verräumlicht wird („den heulenden buckel der angst“).
Das Fazit aus diesen zwei Strophen, die gleichzeitig den allgemeinen Diskurs über das schreibende Ich der Moderne, über das schreibende Ich Hilbigs und die existentielle Befindlichkeit angesichts der politischen Situation damals und heute wiedergeben, spricht zunächst die Strophe aus: die „flaschenpost“ – einst Bericht über das Befinden jenseits von Leben und Tod (E.A. Poe) und später Aufforderung zum Dialogischen aus dem Kern des Gedichts heraus (Mandelstam-Celan) – ist jetzt karikierend (Standpunkt des „man“) oder radikalisierend (Standpunkt des „ich“) das „schwache nein“, das „auf flaschen gezogen“ wird (V. 24), nach Kräften Widerstand leistet und sich von dem „schwachen“ Hass (auf sich selbst und auf das System) ernährt.
In der sechsten Strophe wird das für den Expressionismus emblematische Gedicht Baudelaires „Ein Aas“ (Charles Baudelaire: Ausgewählte Werke in 3 Bänden. Bd. I: Die Blumen des Bösen, S. 45–47) als Vorlage verwendet, jedoch zusammengepresst und umgedichtet. Bei Baudelaire führt ein Ich seine Geliebte an einem Aas vorbei und bebildert dessen Verfaulen, steigert den Ekel des Rezipienten durch Vergleiche in romantischer Manier, das fleischlich Verwesende und das Ideale aufeinander beziehend, um schließlich jedoch das Verhältnis zwischen beiden umzukehren, indem das Ich auf das erinnernde Bewahren des Formell-Schönen an der Liebe durch das Gedicht über deren tatsächliche Verwesung hinaus pocht.

Dann, Schönheit, sag’ dem Wurm, der dich zerfleischt mit Küssen,
Wie treu ich sie gewahrt
Die Göttlichkeit des Wesens, das zersetzt, zerrissen
Von meiner Liebe ward
(
Charles Baudelaire: Ausgewählte Werke in 3 Bänden. Bd. I: Die Blumen des Bösen, hg. v. Franz Blei, München 1925, S. 47)30

Gerade diese erinnernde, transzendierende Verewigung des Aases („unsterbliches aas“, V. 27) wird bei Hilbig durch die tradierende Geste des Ich vollzogen: Das Ich deutet das Aas neu und entschließt sich dazu dessen „Botschaft“ (aus der „flaschenpost“) in sich selbst fortzusetzen. Der Botschaft entsprechend ist das Aas Aufgabe und Bürde zugleich, eine Allegorie des Unglücks des Dichters (subjektiv), aber auch des Unglücks des Menschen (objektiv), dieser Kette von Katastrophen, die das verewigte Bewusstsein vor sich wachsen sieht und von dem es materiell zeugt. In seiner gegenwärtigen Lage (in der es die ganze Bandbreite der menschlichen Barbarei erkannt hat) aber kann das lyrische Ich (Präsenzform in V. 29 als Ausdruck des Kontemporären) diese Aufgabe vorerst nur verinnerlichen und als eine innerliche darstellen („ich setze sie fort in mir“). Jedoch sollte der Leser, als Rezipient, die Botschaft in der Flasche aktualisieren (das Wort „doch“ am Ende der 27. Zeile ist durchaus als Wort der Opposition zu verstehen und somit mit der Ankündigung einer Fortsetzung der modernen Geste verbunden).
Im Laufe des Textes entwickelt sich also das lyrische Ich, das die „flaschenpost“ zur Kenntnis nimmt. „flaschenpost“ ist zunächst der Begriff, der seine nicht richtig verortete Zwischenstellung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Transitorischem und Ewigem, Lebhaftem und Totem bezeichnet, die jedoch mit der gesteigerten und fortgesetzten Bar  barei in Verbindung gebracht wird.
Es ist dann ein Zeichen, das es dem sich am Rande aufhaltenden Erben der Moderne erlaubt, die Diskurse über sich selbst auszustellen: Diskurse zur Moderne, zum verfemten Dichter, bzw. in den öffentlichen (oder halböffentlichen) Aussagen zu Hilbig selbst eine Fortetzung dieser früheren Diskurse sowie in der Position des lyrischen Ich heute das Ergebnis einer Zuspitzung der instrumentellen Vernunft, die damals schon wirksam war, zu sehen.
Es ist schließlich ein Zeichen, dessen das Ich sich produktiv bemächtigt. Dabei wertet es die Pole des Transitorischen und des Ewigen um: ewig ist nicht mehr die Liebe zur Form, sondern die Botschaft, die das lyrische Ich verpflichtet; transitorisch ist der Diskurs zur Dichtung, der sich jedoch wiederholt und von dem das lyrische Ich sich abgrenzen soll, um die Botschaft weiterzureichen.
Somit setzt Hilbig in diesem Gedicht das Programm des Bandes auf eine besondere Weise um. „abwesenheit“ ist einerseits archäologisch gemeint: Es führt auf den ästhetischen Anspruch der Moderne zurück, die Gegenüberstellung von Zeitlosem und Vorübergehendem in Form eines Evozierens von idealer Anwesenheit aufgrund einer tatsächlichen Abwesenheit zu erfüllen (hier könnte man jeweils aus verschiedenen Gründen Baudelaire, Mallarmé oder Cézanne zitieren), und lässt somit zwei Bedeutungsebenen aufscheinen: „abwesenheit“ als Prozess der Tilgung und der Erfüllung, „abwesenheit“ als Ergebnis und Abwesenheit als im Gedicht zelebriertes, erinnertes Nicht-Objekt.
„abwesenheit“ ist andererseits genealogisch gemeint: die Modernen, die unter einer gewissen „abwesenheit“ leiden und sich der Melancholie hingeben, erleben nur eine Vorstufe des Leidens, das das Subjekt nach 1945 affizieren wird und das sich u.a. in dem Entwurf eines Diskurses um das Ich selbst, das es auslöschen will, aber auch selbstverständlich sich in den Steigerungsformen der Barbarei Ausdruck verschafft.
„abwesenheit“ ist schließlich poetisch-ethisch gemeint als Aufgabe, die sich das Ich auferlegt: sich selbst zurücknehmen, um dieser Gewalt entgegen zu wirken und deren Folgen angemessen zu gedenken. Somit geht dieses Gedicht über die anderen dialogisch veranlagten Gedichte hinaus, indem es Baudelaires Lyrik und Anschauungen synthetisiert und palimpsestisch übertrifft.

 

Flanerie als anamorphotisches Zusammensetzen von geschichtlichen Fragmenten

berlin. flaneur de la nuit (1979)

wüstengelbes wasser
des flusses in des sommers schneefall
ein entferntes flammengewölk unter arktur
färbt götterfarben den trauernden
nur die nacht noch ist widerspruchswarm

die nähergetürmten küsten mystischer wetter
verbergen das licht aller übrigen
geschlossenen grenzen
aaaaaaaaaaaaaaaaaadieses parks einer sprache
der das handwerk gelegt ist

man weiß nicht wird abend wird morgen
für eintagsschwärmer lebenskrank die flattern
die somnambule elektrizität verfinstern
menschliches aber ist zu gehirnen erlöste architektur
deren erleuchtung der fluss wiederholt wie
dinge die flüchtigen spiegel der namen sind

o asche rann vom gemäuer o stahlglas stieg
aus babylon und keiner verstand
des anderen schweigen
aaaaaaaaaaaaaaaaaain stiller hölle vergebens
der tote vater harrt des toten sohns

o aschefall o leise
von ufer zu ufer langsam wandelt
der schwarze nachen der verbrannten wolke
in des verstummten kehle löscht arktur sein licht

Das Gedicht „berlin. flaneur de la nuit“, das dem Band stimme, stimme, dem einzigen in der DDR erschienenen Band Hilbigs, entnommen ist, fordert dazu auf, die hilbigsche Übernahme von baudelaireschen Stimmungen benjaminisch neu zu lesen, da sie unter das Vorzeichen des „Flaneur(s)“ gesetzt sind, bekanntlich eine Schlüsselfigur in der Deutung der baudelaireschen Erscheinung durch Walter Benjamin.31 Auch fallen einem bei der Lektüre des Gedichts weitere mögliche Bezüge auf, wie etwa „das Unlösbare“ (Charles Baudelaire: Ausgewählte Werke in 3 Bänden. Bd. I: Die Blumen des Bösen, hg. v. Franz Blei, München 1925, S. 168–170) von Baudelaire. Wie in diesem Baudelaire-Gedicht wird auch in Hilbigs „berlin“ zwischen hieroglyphischer und narrativer Allegorie gewechselt,32 so dass das typische baudelairesche und symbolistische Schweben beibehalten wird. Es wird aber auch von einer Perspektive aus aktualisiert, die vieles mit der benjaminschen Lesart von Baudelaires Dichtung gemeinsam hat.
Äußerlich gesehen geht es um die evokative Darstellung eines Sonnenuntergangs, jedoch in einer kubistisch-expressionistischen Manier: farbig markierte Elementarbilder einer Landschaft, in der Natur und Kultur eine gewaltige Verbindung eingehen, werden aneinandergepresst und durch rhythmisch und klanglich frappierende Ausdrücke wiedergegeben („wüstengelbes wasser“, „entferntes flammengewölk“, „näherge  türmte […] küsten mystischer wetter“, „zu gehirnen erlöste architektur“, „asche“ „stahlglas“ „aschefall“ „der schwarze nachen der verbrannten wolke“). Diese gewaltigen, um Urwörter der Moderne
33 zentrierten Bilder beeindrucken und verhindern zunächst das Erkennen des ordnenden Prinzips.
Narrativ gesehen geht es um einen Flaneur, der durch die Stadt Berlin wandert und den Sonnenuntergang bis zur totalen Schwärze über die Widerspiegelung in den Berliner Wasserflächen wahrnimmt. Aber schon der Titel lässt Zweifel über den Subjekt-Objekt-Bezug aufkommen. Wider  spiegelt die Stadt das Sammeln des Sprechenden oder setzt sich das Bewusstsein des Sprechenden ein Bild aus den aufgelesenen Fragmenten zusammen, was auf eine fast alchemistische Metamorphose hinausläuft (von dem Hellen zum Dunklen, vom dem Gelben zum Schwarzen)? Oder sollte man nicht vielmehr von einer Anamorphose sprechen und behaupten, es spiele sich jenseits der Szenerie oder auf der anderen Seite dieser ein Prozess ab, den man rekonstruieren kann, indem man die gewaltigen Brocken, die das Gedicht ausmachen, neu zusammensetzt?
Es fallen nämlich gleich bei einer ersten Lektüre bestimmte Ausdrücke wie „Arktur“ auf, das den Hauptstern der Konstellation des Bärenhüters oder den hellsten Stern im Sternbild des Bootes bezeichnet und somit Anfang (be/ärlin) und Ende (nachen) des Gedichts zusammenfügt. Über dieses Wort stolpert man außerdem wie über eine romantische Wurzel,
34 die selbst in die novalissche Welt zurückführt, in diesem Fall in die Welt von Klingsohrs Märchen, das das neunte Kapitel und den ersten Teil des Heinrich von Ofterdingen abschließt. Aber welche Funktion hat hier der Flaneur und welche Rolle spielt das romantische Märchen?

Um dies zu erfassen, sollen vier Modi der Lektüre vorgeschlagen werden:

1. eine dem Klingsohr-Märchen verpflichtete Lektüre
2. eine historisierende Lektüre
3. eine aktualisierende Lektüre
4. eine synthetisierende nach dem Wahrheitsgehalt fragende Lektüre

 

1. Eine dem Klingsohr-Märchen verpflichtete Lektüre

Eine erste Lektüre sollte sich auf die erste Strophe einerseits (V. 1–5) und die Strophen 4 (die eingerückte Zeile und die letzte Zeile der vierten Strophe) und 5 andererseits (V. 20–25) konzentrieren, die auffällig Teile des Märchens Klingsohrs neu kombinieren.
Dieses weist formell teilweise allegorische Züge auf, kann jedoch in einer ersten Lektüre nicht restlos ausgedeutet werden, da die Bezüge zu vielfältig sind.
35 Trotzdem findet sich bei manchen Kritikern eine diskursive Übertragung der poetischen Heraufbeschwörung, wonach eine weltgeschichtliche und welterlösende Epopöe zu rekonstruieren sei. Konzentriert man sich auf die in Hilbigs Perspektive bedeutenden Episoden, so könnte man Folgendes hervorheben: Diese Epopöe führt vom Astralreich des Arctur, in der alles vor Kälte erstarrt ist, zu einer Welt, in der die Kunst der Fabel das Eis zum Schmelzen und die poetische Utopie wieder zur Geltung bringt, über Überlegungen über Magnetismus und Elektrizität und zwei Scheiterhaufenszenen, die sich auf die Widrigkeiten der menschlichen Geschichte beziehen und deren Aufhebung und Erlösung versprechen.
Die erste Scheiterhaufenszene ist eine Fiktion in der Fiktion, die noch einmal das Erscheinen der blauen Blume vor dem Hintergrund der Gräueltaten der Menschen als Erlösung inszeniert, wie in folgendem Textauszug zu erkennen ist:

Himmel und Hölle waren in vollem Aufruhr. Alle Schrecken waren losgebrochen. Eine gewaltige Stimme rief zu den Waffen. […] unter dem grausen  vollsten Geheul wurden die Kinder des Lebens von den Flammen verzehrt. Plötzlich brach aus dem dunklen Aschenhaufen ein milchblauer Strom nach allen Seiten aus. […] die Flut wuchs zusehends und verschlang die scheußliche Brut [Gespenster]. Bald waren alle Schrecken vertilgt. Himmel und Erde flossen in süße Musik zusammen. Eine wunderschöne Blume schwamm glänzend auf den sanften Wogen.36

Die zweite Scheiterhaufenszene schildert den Flammentod der Mutter, deren Asche in einer Wasserschale aufgelöst jedem verabreicht wird, wo  durch eine allseitige Verwandlung und Erlösung herbeigeführt wird. So wird (nach einem synkretischen Prinzip, das Märchen, Mythos und christlichen Hintergrund verbindet) der Bann gebrochen, das Eis zum Schmelzen gebracht und das goldene Zeitalter bricht an.
Betrachtet man nur diesen Erzählstrang, so muss man feststellen, dass dessen Orientierung von Hilbig umgekehrt wird. Zwar sind die vielfältigen Bezüge noch vorhanden, jedoch nimmt das Reich Arcturs keineswegs ein Ende und ebenso wenig führen die technischen Entdeckungen (wie die der Elektrizität, Strophe 3) oder die physikalischen und psychischen Verwandlungen (bei Novalis unter dem Zeichen der Asche gebündelt) zu einer Erlösung.
Eher wird in Hilbigs Text an diese Vorlage metonymisch-hieroglyphisch erinnert, und die mythischen Requisiten werden baudelairesch überformt.
So wird in der ersten Strophe an die für das Märchen prototypische Gegenüberstellung von Kälte und Wärme vs. oben und unten angeknüpft, jedoch wird diese hier durch Mittel der Intensivierung, die gleichzeitig einen Chiasmus erzeugen, paroxystisch angelegt („wüstengelbes wasser“; „des sommers schneefall“). Diese Vertikale strukturiert das erste Bild, ein Mittel, das für Baudelaires Gegenüberstellung von „Spleen und Ideal“ typisch ist und hier zum Beispiel Baudelaires Gedicht „Das Unlösbare“ entnommen sein könnte,37 in dessen erster Strophe sich ebenso Himmel und Fluss (oder vielmehr hochstilisiert Azur und Styx) gegenüberstehen und gleichzeitig dadurch verbunden werden, dass einer (ein Engel) in den Styx stürzt (und von Baudelaire gleichzeitig als wahrnehmendes Bewusstsein des erzählenden lyrischen Ich in den weiteren Strophen präsentiert wird). Auch bei Hilbig gibt es eine Form von impliziter Dopplung: „schneefall“ einerseits (als Fall einer weißen Figur zu verstehen, die an den bei Baudelaire stürzenden Engel erinnert, der aber auf einen weißen Strich zurückgeführt wird) und „den trauernden“ andererseits, dessen Traum/Alptraum in den ersten Versen vorgeführt werden könnte.
Der Sprechende beobachtet, wie Einer, der Trauernde, dieser Szene beiwohnt und sich vielleicht an der Erinnerung an die Möglichkeit eines goldenen Zeitalters labt.
Schlägt man nun gleich den Bogen zum Ende des Gedichts, so stellt man fest, dass die mythische Erinnerung nichts gebracht hat, zu einer rein männlichen und restlos verweltlichten Pieta (der tote Vater harrt des toten Sohnes) und zu einem Bild der totalen Schwärze führt, die den Schluss von Baudelaires Gedicht an inszenierter Verzweiflung übertrifft.
Die Asche (im Märchen die Asche der Mutter) scheint noch im Sinne des romantischen, alten Wunders von Ufer zu Ufer zu wandeln, aber das Fazit ist Ausdruck eines alles übertönenden Unheils:

o aschefall o leise
von ufer zu ufer langsam wandelt
der schwarze nachen der verbrannten wolke
in des verstummten kehle löscht arktur sein licht
(V. 22–25)

 

2. Historisierende Lektüre

Wie im novalisschen Märchen erfolgt der Prozess der Dämmerung bei Hilbig über „historisch“ bewährte Stationen. Bei Novalis spielt die Französische Revolution, die durch die erste Scheiterhaufenszene allegorisiert wird, diese Rolle. Während in Baudelaires „Das Unlösbare“ in jeder Strophe eine Figur auftritt, die auch gewisse Züge der Zeit darstellt, werden hier (in den Strophen 2, 3 und 4), verschiedene Stasen, die die kontemporäre Zeit emblematisieren, aneinandergereiht. Eine erste oberflächlichere Lektüre könnte den Eindruck entstehen lassen, es ginge hier um die Zeit Baudelaires, die Zeit des Second Empire in Paris. Ganz im Sinne von Benjamins Notizen zu Baudelaire38 erscheint der hilbigsche Flaneur ebenso als Figur, die genealogisch gesehen noch an die antike Form des Austauschs erinnern könnte:

Im Flaneur, so könnte man sagen, kehrt der Müßiggänger wieder, wie ihn sich Sokrates als Gesprächspartner auf dem athenischen Markte auflas.39

Jedoch kann diese Form nicht mehr eingelöst werden:

Nur gibt es keinen Sokrates mehr, und so bleibt er unangesprochen. Und auch die Sklavenarbeit hat aufgehört, die ihm seinen Müßiggang garantiert.40

Der Flaneur ist somit genealogisch gesehen das Negativbild zu einer früheren „Idealität“ des Gesprächs, dessen Kehrseite jedoch die Versachlichung und Entfremdung einer gewissen Kategorie von Menschen gewesen ist. Er ist auch kontemporär gesehen (aufgrund der baudelaireschen Kontemporaneität) eng mit der politischen Reaktion und mit der Zensur verbunden. In diesem Fall ist der Flaneur die Kehrseite der politischen Reaktion. In der Tat entsteht die Figur des Flaneurs laut Benjamin aufgrund der durch die politische Reaktion verschärften Zensurmaßnahmen von 1836, die die Künstler sich von der Politik abwenden lassen, die wiederum mit Physiologisten einerseits und Flaneuren andererseits verglichen werden: „,Die Reaktion ist also die Voraussetzung, aus der sich die kolossale Revue des bürgerlichen Lebens erklärt.‘“41 schreibt Benjamin, der Eduard Fuchs zitiert. Vor diesem Hintergrund erwähnt er den Habitus des Flaneurs:

Die Gemächlichkeit dieser Schildereien passt zu dem Habitus des Flaneurs, der auf dem Asphalt botanisieren geht.42

Dabei entdeckt er die Kehrseite des städtischen Lebens:

[W]elche Spur der Flaneur auch verfolgen mag, jede wird ihn auf ein Verbrechen führen.43

Bei Hilbig wird die Zeit Baudelaires metonymisch dargestellt und gleichzeitig entlarvt: So in Strophe 2: die Gegenüberstellung von „Mystik“ und von „geschlossenen grenzen“ (V. 8), die durch diese „küsten mystischer wetter“ (V. 6) verborgen werden und denen „der park einer sprache“ (V. 9) noch eine Bedeutung abzuringen versucht.
So in Strophe 3, erste Hälfte: die Gegenüberstellung von kranken „Fliegen“ („eintagsschwärmer lebenskrank“, V. 12) – vielleicht eine Erinnerung an die watteausche Strophe aus dem Gedicht „Die Leuchttürme“44 (Charles Baudelaire: Ausgewählte Werke in 3 Bänden. Bd. I: Die Blumen des Bösen, hg. v. Franz Blei, München 1925, S. 11–13) und „somnambule(r) Elektrizität“ (V. 13) – Elektrizität als Mittel zur positiven Auslösung einer Verwandlung bei Novalis, als Bezug zwischen Künstler und Menge bei Baudelaire und von Benjamin als eine schockartige Errungenschaft der Zeit Baudelaires ausdrücklich erwähnt –; so in Strophe 4: die Errichtung von neuen Gebäuden („zu gehirnen erlöste architektur“, V. 14) wie vielleicht die haussmannischen Straßen, die aus der Stadt eine künstliche, wenn auch signifikante Welt machten und die Orientierung der berüchtigten Naturnachahmung umkehrten: nach dieser grundsätzlichen Veränderung kann Kunst nur noch Nachahmung dieses Künstlichen und Barbarischen gleichzeitig sein.
In Strophe 4 wird dies wieder durch eine elegische Gegenüberstellung stilisiert: „o asche rann“, „o stahlglas stieg / aus babylon“. Babylon, ein anderes Wort für die Großstadt (in diesem Rahmen namentlich Paris in der Literatur des Fin de Siècle), deren Verwandlungen ins Monströse weiteren barbarischen Verheerungen den Weg ebnen.

 

3. Aktualisierende Lektüre

Selbstverständlich steckt auch in diesen Bildern, die der Berliner Flaneur gesammelt hat, eine Deutung seiner „deutschen“ Gegenwart. Ihm folgend kann eine Grammatik der getarnten Darstellung der grauen und grausamen DDR-Gegenwart nachvollzogen werden:
Das „wüstengelbe […] wasser“ der ersten Strophe (V. 1) wäre das verschmutzte Wasser der Flüsse in der DDR; der Ausdruck „in des sommers schneefall“ (V. 2) könnte den Kalten Krieg und die eingefrorenen Beziehungen zwischen Ost und West sowie die eisige Kulturpolitik der SED andeuten. Arktur (statt Arctur bei Novalis) wäre somit der Name des Diktators.
„die nähergetürmten küsten mystischer wetter“ der zweiten Strophe (V. 6), die „das licht“ „verbergen“ und denen sich der „park […] einer sprache / der das handwerk gelegt ist“ optisch (durch Zeileneinrücken) und semantisch entziehen, könnten den besonderen Bezug der DDR-„Bonzen“ zu den Mythen ins Spiel bringen, wodurch sie bekanntlich einerseits das Aufklärerische für sich beanspruchen und andererseits die eigene Gewalt unter dieser Maske des Aufklärerischen verbergen. Sie erinnern auch gleichzeitig an den Versuch der DDR-Dichter, sich der mythischen Sprache zu bemächtigen und die Spitze des Speers umzudrehen, aus dieser für ihren eigenen Gebrauch Profit zu schlagen und eine Gegensprache zu entwickeln. Nicht zufällig wird diese andere Sprache als „park“ bezeichnet, einer hilbigschen Gewohnheit entsprechend aber vielleicht auch in diesem Kontext den Ausdruck Benjamins aufgreifend, der eines der Kapitel seiner Untersuchung zu Baudelaires Ästhetik bekanntlich mit „Zentralpark“ betitelte.45 Dennoch hat sich das lyrische Ich diesen „Park“ angeeignet, handwerklich bearbeitet.
In den ersten drei Versen der dritten Strophe wird die Rhetorik der Ankunft entblößt: Orientierungslosigkeit herrscht vor; eine zeitliche oder örtliche Einordnung scheint nicht mehr möglich für die einst überzeugten Anhänger des Kommunismus (die Hilbig mit dem Begriff „eintagsschwärmer“46 bezeichnet). Dementsprechend erweist sich der am Anfang der Gründung der DDR kulturpolitisch gepriesene Sozialistische Realismus als eine künstliche Konstruktion, die Hilbig in den Versen 4 bis 6 derselben Strophe anspricht. Diesem Regime geht es keineswegs um Nachahmung von „Wirklichkeit“, sondern um eine künstliche Auffassung des Menschen selbst als Nachahmung eines ideologischen Hirngespinstes („zu gehirnen erlöste architektur“), um eine künstliche „Erleuchtung“, die sich auf die Natur überträgt, um eine Verdinglichung des Daseins, deren Spiegel die Namen sind.
Die vierte Strophe, die sich der nahen Vergangenheit stellt (siehe den Tempuswechsel) und zwischen den geschichtlichen und eigenen Erinnerungen vermittelt, zeigt, wie eine Ästhetik des Flüchtigen Verschiedenes zusammenhält (genauso wie das Wort „flaschenpost“ im gleichnamigen Gedicht eine solche Schichtung bedeutete): Asche ist das Zeichen für Hilbigs Lyrik selbst, die im Entstehen begriffen ist (Hilbig wohnte ja im Viertel „Asche“);47 Asche, die an der Mauer entlangrieselt, ist mit der Errichtung der Mauer und der damit verbundenen Diktatur,48 aber auch mit der Ästhetik nach Auschwitz verbunden („asche rann vom gemäuer“, V. 17). Als ein Zeichen, das diese Aspekte kryptisch bündelt, setzt es sich einem wahnwitzigen System entgegen („stahlglas stieg / aus babylon“, V. 18–19): zwei Parteien entstehen (zwei Teile Deutschlands), die jeweils das eigene verdrängen, die über das Verdrängen des anderen Urteile fällen. Dieser Verschwiegenheit entgegenwirkend, aus der „stillen hölle“ tretend erscheint in der fünften Strophe das Bild der männlichen Pieta: „der tote vater harrt des toten sohns“. Dieses Bild ist seinerseits wieder vielfältig: es greift eine autobiographische Vorlage wieder auf,49 andererseits erinnert es allgemein an die Aufopferung der Väter und der Söhne anlässlich der angedeuteten Ereignisse. Diese Pieta schließt die Kette der geschichtlichen Katastrophen vorübergehend ab.

 

4. Synthetisierende nach dem Wahrheitsgehalt fragende Lektüre

Das erste Bild („o wüstengelbes wasser / des flusses in des sommers schneefall“) könnte man als ein dialektisches Bild im benjaminschen Sinn auffassen. In diesem Bild sind die systeminhärenten Widersprüche kondensiert und in gesteigerter Form wiedergegeben, was der Vers zeigt, der das Fazit aus der ersten Strophe metapoetisch und metapolitisch reflektiert:

nur die Nacht noch ist widerspruchswarm.

Nur die Kehrseite dieser Aussage bietet einen Wahrheitsgehalt an: die nächtliche Seite, was soviel heißen mag, als dass die Nacht (auch metaphorisch verstanden als die Negativität) noch Wahrheit bergen kann im Sinne einer dialektisch geprägten Wahrheit (und im Unterschied zu einer romantisch synkretischen Auffassung der Nacht).
Der Flaneur, der diese geschichtlichen Bilder sammelt und sich selbst auf der Grenzlinie zwischen Mythos und Geschichte, aber auch zwischen dem Einst (Paris des Second Empire) und dem Jetzt (Zeit nach Auschwitz, in der DDR) bewegt, kann diesen (als Allegorien) eine erkennende Dimension abgewinnen, nachdem er den Durchgang durch die tiefen Schichten des kollektiven Gedächtnisses (des unbewusst Memorierten, der hieroglyphischen Allegorien) verkraftet und das Durcharbeiten des Gedächtnisses geleistet hat. Dies erlaubt es ihm, in der letzten Szene dieses Bild des absoluten Schreckens und Verstummens zu produzieren, das aber die Reihenfolge der Katastrophen zusammenhält, engführt und da  durch in der Art des benjaminschen Engels der Geschichte dessen schrecklichen Verlauf aufhalten sollte.
In diesem Gedicht fällt auf, dass Hilbig dasselbe Gefälle wie in „flaschenpost“ verwendet,die Opposition von genealogischem und anthropologischem Blick an der Neubelebung der Opposition von Ideal und Wirklichkeit festmacht, jedoch wird diese Opposition ästhetisch um die anamorphotische und kontrapunktische Dimension erweitert (dies übrigens auch im baudelaireschen Stil). Die Abenddämmerungsszenen sind in diesem Gedicht wie in anderen auch die Vorderseite der bereits genannten Untersuchung (historisch-genetisch), die mit narrativen und hieroglyphischen Allegorien spielt. Die Aktualisierung derselben führt zu einer gnadenlosen Darstellung der Situation in der DDR, die als Zuspitzung dieser schrecklichen Entwicklung erscheint. Zudem wirkt die Haltung des Sprechenden als Radikalisierung der typischen modernen Oppositionen. Allerdings löst diese Radikalität, über jede Schwärze hinaus, eine neue Energie durch seine menschlich-handwerklich erzeugte Auflehnung aus.
„flaschenpost“ und „berlin, flaneur de la nuit“ eröffnen, jedes auf seine Weise, ein in sich uneinheitliches Gelände der Enigmatisierung. In ihnen wird das für Baudelaires Poetik typische Gefälle (das er selber in seinen Formeln zu Constantin Guys pointiert zum Ausdruck brachte) produktiv gemacht. Hilbig übernimmt insbesondere den schwebenden Perspektivenwechsel, der dieses Spannungsverhältnis anschaulich macht, und radikalisiert es: Subjekt/Objekt; Ich/Nicht-Ich bzw. Man; Verewigung/Transitivität; présence/absence; Bildträger/Bedeutungsträger; Hieroglyphe/Narrativ werden gegeneinander ausgespielt bzw. überlagern sich. Dieses Spiel erfährt in „berlin: flaneur de la nuit“ durch die Verwendung des anamorphotischen Prinzips eine Steigerung.
Innerhalb dieses enigmatischen Raums wird der Durchbruch einer eigenen Ästhetik erlebbar: Ästhetik der Radikalität einerseits, denn die Gedichte erscheinen als Schaukasten, in denen moderne Schemen zusammengepresst ausgestellt werden, und Ästhetik des Erinnerns und des Zeugens andererseits, denn deren Erkenntniswert ist durch den Perspektivenwechsel zwischen Archäologie, Genealogie und Anthropologie, Historisierung und Aktualisierung (bis zur Erkenntnis der Schwärze der menschlichen Seele und Geschichte) geprägt.
Darin ist Baudelaire, einer unter mehreren, zwischen der Romantik, Poe einerseits, Celan andererseits eingeklemmt. Die ästhetisch vermittelten Erkenntnisse teilen gewisse Merkmale mit den Thesen der Vertreter der kritischen Theorie. Adornos und Horkheimers Geschichtsphilosophie und Benjamins geschichtsphilosophisch geprägte Auffassung von Ästhetik, die er auch an Baudelaire geschult hatte, erscheinen als mögliche Wegbegleiter Hilbigs oder als Notbehelf, um dessen Einklammern von verschiedenen Ereignissen, Ästhetiken und Zeiten formell und gehaltlich zu verstehen. Außerdem entsteht eindeutig die Vorstellung einer Schicksalsgemeinschaft zwischen den Modernen (hier Baudelaire) und dem Ich aufgrund einer Erkenntnis der Todesverbundenheit des Zeugenden, der als Zuschauer und Archivist dieser Bewegung zugleich erscheint, womit Hilbig auch an der imaginären Welt von Baudelaire, wie sie sonst Bonnefoy kennzeichnet, weiterdichtet. Schließlich entsteht auch der Eindruck, dass die dichterische Einbildungskraft über eine Erkundung des „Mythisch“-Anmutenden eine gattungspoetisch untermalte Geschichtsphilosophie in die Wege leitet (auf die Hilbig dann in seiner letzten lyrischen Schreibphase zurückgreifen wird).50
Damit schließt Hilbig an das Umfunktionieren der normativen Lektüre eines Baudelaire und der Moderne überhaupt an, das sonst in den 1950er- und 1960er-Jahren (in der DDR und BRD) verbreitet war, und das Schreiben des Meuselwitzer Dichters konstituiert sich in dieser Zeit als ein geschichtsphilosophischer und imaginärer Schmelztiegel, in dem Bilder und Rhythmen der modernen Kunst auf ihren substantiellen Kern zurückgeführt werden und in eine von dem lyrischen Subjekt verantwortete Wortplastik (hier in der Form einer Flaschenpost oder eines städtischen Sonnenuntergangs) gepresst werden; insofern eine (P)ost-moderne erfindend.

Françoise Lartillot, aus Bernard Banoun, Bénédicte Terrisse, Sylvie Arlaud und Stephan Pabst (Hrsg.): Wolfgang Hilbigs Lyrik. Eine Werkexpedition, Verbrecher Verlag, 2021

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