Thomas Kling: Zu H.C. Artmanns Gedicht „interior …“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu H.C. Artmanns Gedicht „interior …“ aus H.C. Artmann: ein lilienweißer brief aus lincolnshire. –

 

 

 

 

H.C. ARTMANN

interior …

zuerst ist es ein sternbild
im inneren einer grausamen hirtenlegende
der machandelbaum blüht noch
und die mädchen gehen zum fluß hinunter baden.
dann ist es der mond in teppiche gewirkt
oder in den wind
oder im scheuen gewort der alraune
ein rätselnder würzsamen am geflügel des abends.
im anblick der schwestergalgen weckt euch vollends
das goldblättrige lot fliegender tauben.
dann kommt ein sanfteres wähnen
und ein abendgeläut über dem seedunkeln haff
ein zauberknöchelchen schließlich
das ich zu schmücken vergaß…

 

Ein frühes Artmann-Gedicht

ein lilienweißer brief aus lincolnshire, überhaupt eine der reichhaltigsten Gedichtsammlungen in deutscher Sprache des vergangenen Jahrhunderts, enthält dieses „interior …“ getitelte Gedicht. Es stammt aus der Vor-Wiener-Gruppen-Zeit, von circa 1950. Wir bekommen es nicht mit einer gemütlichen Innenausstattung, einem „Interieur“, zu tun – dies wäre ein Hörfehler, ein (T)error möglicherweise im Verständnis – bei Artmann heißt es, interior, lateinisch: mehr nach innen gelegen, tiefer innen, innerer; innerer auch im räumlichen Sinn von tiefer im Land gelegen, inländisch  binnenländisch; seelisch gesehen bedeutet es enger, vertrauter und je enger-vertrauter, desto geheimer – diese Bedeutung schwingt auch mit.

interior …

zuerst ist es ein sternbild
im inneren einer grausamen hirtenlegende
der machandelbaum blüht noch
und die mädchen gehen zum fluß hinunter baden.
dann ist es der mond in teppiche gewirkt
oder in den wind
oder im scheuen gewort der alraune
ein rätselnder würzsamen am geflügel des abends.
im anblick der schwestergalgen weckt euch vollends
das goldblättrige lot fliegender tauben.
dann kommt ein sanfteres wähnen
und ein abendgeläut über dem seedunkeln haff
ein zauberknöchelchen schließlich
das ich zu schmücken vergaß…

Ich weiß nun nicht, ob „interior …“, mit diesen comicmäßigen, sprechblasenhaften Moskitostich-Punkten, ein sogenanntes großes Gedicht ist; ich weiß aber, seit ich fünfzehn, sechzehn bin, daß H.C. Artmann ein großer Dichter ist. „interior …“ läßt sich auf jeden Fall – programmatisch lesen. Programmatisch in Hinblick auf Artmanns Sprachsicht, auf Dichtung, im Hinblick gewiß auch auf spätere Artmann-Tricksterei (der Verlarvungs-Installationen des Dichters, die ja in verschiedenste Richtungen gegangen sind). Ich spreche von Stil-Aneignungen: seien sie klanglich-akstrakt in Ball-Nachfolge oder, ein zweites Beispiel, als Anti-Enzensberger, popmäßig der Poesie des volksverslichen Schunds (heute: Trash) zugewandt – der spruchhaften Volks-Poesie, die von der nationalsozialistischen Doktrin eigentlich vollständig verunmöglicht, späteren Dichtergenerationen deutscher Zunge entfremdet wurde. Programmatisch, würde Artmann fragen?, um listig sich auf seine phantasmagorischen Modelle zu beziehen. „Wo bist du geboren?“ – „Du weißt doch: in St. Achatzam Walde“, Punkt-Punkt-Punkt.
Sagen wir so:
In „interior …“ blüht – binnenländisch, geheimer – der Grimmsche Machandelbaum noch; der schamanistische Baum, der Mord, Wiederzusammensetzung und Auferstehung miterlebt – der dichterischen deutschen Sprache nämlich, nach 1945, nach den Kriegs- und Terrorjahren. Während in Westdeutschland die Kriegsheimkehrer der Gruppe 47 die didaktischen, volksbildnerischen, teils wirklich treudoofen Modelle der Weimarer Vorhitlerjahre wieder aufgriffen, hat Artmann im windschattigen Wien an seinen Texten gewirkt, nicht nur rein lunar-konnotierten Gespinsten, sondern sehr wohl der „schwestergalgen“ und „grausamer hirtenlegenden“ eingedenk. Ich will im einzelnen gar nicht wissen, was am „seedunkeln haff“, in ostpreußischen, in russischen Gegenden dem Dichter während des 2. Weltkriegs begegnet ist, den er im berüchtigten Strafbatallion hinter sich gebracht hat. Artmann schweigt über den Krieg – im Gegensatz zum mainstream der deutschen Nachkriegsliteratur; er schweigt bis auf wenige Ausnahmen, eingestreut beispielsweise in seine Nachrichten aus Nord und Süd, wo seine Kriegs- und Verwundungserlebnisse, knapp nur angerissen, in der Interpunktionslosigkeit der Prosa sowieso untergehen. In seinen Dichtungen, bekanntermaßen anthropophagie-gespickt, läßt er Kinderspielzeug oder Küchenwerkzeuge Krieg führen, verlacht den Tod und wendet sich seinem interior zu. Während für weite Teile der deutschen Lyrikerschaft ab 1968 der Weg nur noch nach innen wies (nach was für einem leeren Innen!), war Artmann, wie sonst nur wenige – Jandl, Friederike Mayröcker, Reinhard Priessnitz –, immer wieder für Überraschungen gut. Für Überraschungen, wie diese frühe, in der eine Transmutation von ungewöhnlichen, durchaus surrealen Bildern durchgeführt wird. Trakl – Barock – Surrealismus können, sehr grob umrissen, als Paten aufgerufen werden.
„im scheuen gewort der alraune“: einer Zauberpflanze, die – ethnologisch gesehen – mit einem Schrei stirbt und deren Entstehung mit dem Sperma eines Erhängten verbunden ist; auch hier wieder ein Hinweis auf den „schwestergalgen“, der ein Doppelgalgen sein kann… An diesem „scheuen gewort“ ist Artmanns innersprachliches Arbeitsvorgehen zu beobachten; der Sprach(en)fachmann, ein Liebhaber zeitlich wie räumlich abgelegener Sprachschichten, serviert, mit „gewort“, englisch „whort“, ein altes Wortwurzelgemüse, zu dem natürlich der „würzsamen“ gehört  und den läßt er mit sich selbst rätseln. Er jagt die Sprache, wie nebenbei und in genau dosierten Bildern, auf sich selbst zu! Wirft die „zauberknöchelchen“, seine getöteten, abgestorbenen Sprachgeschwister, sich selbst zu und wartet, was sie (gewissermaßen als System kommunizierender Röhren) mit sich zu treiben verstehen. Der Dichter braucht eigentlich nur die Transmutation zu steuern.
Im Sinne der Lust am Text des Roland Barthes kann er „einen neuen alchemistischen Zustand der Sprachmaterie in Erscheinung treten… lassen.“
Und so geschieht’s, in Wien, daß der zaubrische Machandelbaum der deutschsprachigen Moderne nach 1945 wieder zu blühen beginnen kann.

Thomas Kling, aus Thomas Kling: Botenstoffe, Du Mont Verlag, 2001

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