Dorothea von Törne (Hrsg.): komm lies geh sprich

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Dorothea von Törne (Hrsg.): komm lies geh sprich

Törne (Hrsg.)/Bodecker-komm lies geh sprich

DER GEGENWERT DER GEGENWART

vergangenschaftler zunftkünftler
des ständigen todaussaufens flaschenpfänder
zünftig und geschäftig all ihr
wegwärter vom leitfaden zur richtschnur
so der nase lang dass ihr euch nicht riecht
verwest ihr hinkend ins komm und geh ende
handel mit zeit der gegenwert der gegenwart
zeitfirmen schildern den weg vertreiben zeit
klingeln an deiner tür fernsehn dir zu
bieten sich an booten dich aus
(rückgabe der gegenwart nur
gegen entsprechende zeitabschnitte)
kaufen die gegenwart auf für ein gut haben
all deine zugkunft und verlangenheit nach jetzt:
erst heute das morgen schon heute das gestern
heutmorgestern
liebe mitverbürger eifriger geschicklichkeit
begreift begeifert dies wunder zeit
das in der mitte zusammenfliesst
in unser aller mitte liebe mitwürger der gegenwart
und hochschnellt als springwasser zeit
und der tod ist ein hut obenauf

Stefan Döring 

 

 

 

Unter der Liebhaberfunzel – Gedanken zum Lesen

Komm lies −
ist eine Einladung an den Leser, ein Spiel mitzuspielen, bei dem er seine Sinne gebrauchen muß. Nicht nur das Denken, auch Sehen, Hören und Fühlen sind gefragt. „Wilder als je und / milder als sonst“ gehe es hier zu, behauptet einer. Die dreizehn Autoren dieser Lyrikanthologie werfen einander die Ideen wie Bälle zu. Nur wer mitmacht: die Tretmühle des Alltags betätigt oder den Fuß aus der Angel der Konventionen zieht, wird Auskünfte über Ideale und Wertmaßstäbe einer Generation erfahren, die – mehr als Geburtsdaten – eine Schreibhaltung vereint. Da geht es manchmal gar nicht sittsam zu: Fußtritte werden verteilt und Versfüße verballhornt; die Unfälle und Ausfälle mehren sich. Aber genüßlich am Verdruß hängen sollen sie nicht, die Mitspieler, sondern zusehen, daß sie fortkommen.

Geh sprich −
empfiehlt Stefan Döring. Die Aufforderung zum Dialog bringt Bewegung. Die Spannungen zwischen der Realität, wie sie die Akteure wahrnehmen, und den vorgefundenen Sprech- und Sprachformen eröffnen ein ganzes Feld von Möglichkeiten, Widersprüche transparent zu machen. Sprechen als Ausdruck des Bewußtseins – von manchen Autoren wird Umgangssprache so zu einer eigenen Kunstsprache entwickelt, daß Sinnerhellung lustvoll erlebt werden kann. Assoziativ wird mit lautlichen Verknüpfungen gearbeitet, mit einer bewußt vom Duden abweichenden Orthographie oder einer unüblichen Grammatik. Das Wort ist nicht mehr nur Träger von Mitteilungen. Der geformte Text hat ästhetischen Wert über den semantischen Gehalt hinaus, als sei er „zum AnSchauen / zum AnFassen / zum BeGreifen“, wie die Klavierplastik des Malers Willy Wolf, die Thomas Günther beschreibt. Die neu entstandenen Gebilde signalisieren – wenn auch nicht alle – Verschleiß von Sprachgebrauch, zeigen ein anderes, reicheres sprachliches Universum als das gewohnte. Gewöhnung führt zum Verflachen, letztlich zum Verlust an Bedeutung.

Das leben beim tod genommen −
das Spiel ist nicht unverbindlich. In ihm erschließen sich Sinngehalte; es geht um „das los zu sein“. Jeder hat seine eigene Art, sich mitzuteilen, auch im Klartext:

Ich habe den Tod überlebt.

Jeder, der hier zu Wort kommt, ist sensibel für Begegnungen, auf der Suche nach Weite, die keinen beschrifteten Eingang hat, sondern selbst gesucht und geschaffen werden muß: in den Dimensionen des Gedichts. Tritt ein, und du siehst deine Welt neu. Aber auch Weltentwurf findet statt auf der

Landkarte, die Sternenhimmel heißt.
Auf den Blickwinkel kommt es an. Ob man mit Jens Sparschuh in die himmlischen Visionen der Luftschiffer aufsteigt, Johannes Jansen über die Pflastersteine der Berliner Schönhauser Allee begleitet oder gar mit Bert Papenfuß eulenspiegelhaft den Galgenpfosten erklimmt, um der „spontanen wahrheit in’s aug’ zu spähen“, liegt ganz im Ermessen des Lesers. Ein Lesevergnügen aber soll es sein, deshalb wird kräftig im

vers-pott
gerührt. Dankbar ist Eberhard Häfner dem barmherzigen koch, der es gut mit ihm meint, denn: fast fünfhundert Jahre schon wohnt er in Mitteleuropa als Raupe. Rätselhaftes bleibt da zu ent- und versiegeln. Karpfen und Tropenmilch, wuchtige Melonen und Bonbons am Stiel werden serviert, alles „unter der liebhaberfunzel“ – eine erlesene Speisekarte, „vom grobian brauchbar verdeutscht“. Andere nennen es Zettelweg,

ohne das genormte netz.
Wird ihnen bang? Denn Akrobaten sind sie manchmal schon, gehen auf Händen und entkommen doch nicht der Angst, gegen die sie ja anschreiben: Angst, daß die Liebe, der Glaube, die Hoffnung getötet werden könnten von uns selbst und der Tod schließlich ein Hut obenauf sei im Springwasser Zeit. Von der Arche ist zu lesen und von Abel und Kain…
Christa Wolf fragt in ihrer Erzählung Störfall:

… unterscheiden nicht die Objekte ihrer Angst die Generationen mehr als alles andere?

Die Lyriker artikulieren nicht nur die Freuden, sondern auch die Ängste der heute jüngeren Generation, Ängste, die nicht nur unser Land betreffen, sondern DIE Weite.
Die Tragfähigkeit des „zwischen schmerz & hoffnung / Seins“ probiert eine Frau aus. Sie macht Mut zum „Jetzt… Sein… Dasein“.

Die Lyrikerinnen in dieser Anthologie sind zumeist weniger akrobatisch und vertrauen mehr den eigenen Kräften, die der Liebe, der Trauer und dem Zorn entwachsen. In Spiel und Tanz versuchen sie Schritte: „Der sechste Schritt bleibt lange aus / ist scheu ist leise Angekommensein“, sagt Elisabeth Lüdde. Auch Miriam Margraf beginnt mit behutsamen Tönen; um so stärker wird dann ihr wildes Brennen. Den Widrigkeiten will eine andere ganz untradiert mit Scharfkantigem und mit Säure begegnen und fordert:

machen wir uns
die bewohnbare
stadt.

Die Eva des Paradieses ist es schon lange nicht mehr. Das Paradies bleibt ein Problem: ironisches Nahziel bei Thomas Günther:

Nur wohlüberlegt
erreicht das Herz
sein Paradies.

Peter Gehrisch dagegen benutzt das Wort im ursprünglichen Sinne: als Metapher eines menschheitlichen Zustandes, als verlorengegangene oder wiederzugewinnende Utopie, zu der der Mensch unterwegs ist:

Das Wort auf den Richtungsschildern
Im immer
Größeren Bogen
Ums Paradies.

Vielleicht sollten wir weniger den Wegweisern folgen, sondern uns, wie eine junge Frau aus Weimar vorschlägt, zusammen auseinandersetzen.

Dorothea von Törne, Vorwort

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin + Kalliope

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