20. Januar

Schwerer Schnee, von scharfer Brise überstrichen. Die Autos liegen wie weiß gehöhte Grabhügel zwischen den kahlen Platanen, ganz unmöglich, sie freizuschaufeln. Der Tag kommt strahlend hoch, verblasst aber rasch; am frühen Nachmittag wird es bereits wieder dunkel. Migräne, beidseitig zerreißt sie mir die Schläfen, beruhigt sich erst gegen Abend. Bin enttäuscht, muss mir eingestehen, dass die Massagen von Beate Hanfeld ebenso wenig bringen wie die gewohnten Medikamente oder das eiskalte Fußbad. Für gut drei Wochen war ich fast störungsfrei, nun dieser Rückfall, von neuem das übliche Spiel, die üblen Schmerzen; kurz gesagt – die Normalität. Dennoch weiter mit ›Alias‹, das Projekt wird immer differenzierter, anspruchsvoller, auch einengender, so dass ich fürchte, ich muss sehr vieles wieder über Bord werfen. Man sollte … ich sollte all die Ideen beim Schreiben nicht schon haben, sie sollten beim Schreiben entstehen. – In diesen Tagen, Nächten häufen sich die Träume von Desorientierung und Unsicherheit. Ich bin als Stipendiat im Ausland, lebe unter scharfer Bewachung in einer völlig überbevölkerten Stadt, verstehe die Alltagssprache nicht, verbringe die meiste Zeit in Warteschlangen, Kontrollräumen, Untersuchungszimmern; alle Lokale und Verkehrsmittel sind überfüllt, keine Ahnung, wo ich mich befinde, wie ich mich wohin bewegen soll, treffe zufällig Krys in einem Straßencafé, sie ist hier heimisch, kennt sich aus, telefoniert unentwegt vom Handy aus mit ihrem Mann, nennt laut vernehmlich, fast marktschreierisch Termine, Adressen, Kontonummern, Kennwörter usf., die mir irgendwie bekannt vorkommen – es sind meine Daten, und wer hier fremd ist, das bin ich. – Kleine Wanderung via Croy nach Envy und zurück, die dünne vereiste Schneeschicht knarrt unter den Sohlen wie ein morsch gewordenes Parkett. Eigentlich ist man ja … eigentlich bin ich ja nie wirklich draußen, trage immer un- oder unterbewusst das Haus mit mir herum, denke immer gleichsam in vier Wänden, gleichsam hinter Fenstern, hinter Gittern, gar im Keller, auch dann wenn ich im Wald bin oder in der Wüste. – Undank sei, heißt’s, der Welt Lohn; vielleicht sollte man … sollte ich diese simple Erfahrungstatsache einfach in Evidenz halten und als ein Faktum der Normalität begreifen; anderseits, sag ich mir, ist Dank die ethisch elementarste Geste überhaupt, eine Regung, die jedermann zuzumuten und die in jeder Situation möglich ist, ein Gratisakt gewissermaßen. Die Stoa empfiehlt, sich durch Undankbarkeit nicht beirren zu lassen; ich selbst empfinde Undankbarkeit (verursacht durch Nachlässigkeit oder Verachtung) als eine negative Provokation – mit ihr muss ich rechnen, auf sie kann ich zählen. – Im Monatsmagazin ›Folio‹ ist ein Pressefoto aus dem Kreml abgedruckt. Das Bild zeigt (in der Mitte) einen schweren schwarzen Hund mit gerecktem Schwanz und gereckter Schnauze. Die Schnauze hält er dicht vor die zusammengepressten Knie der deutschen Bundeskanzlerin, die ihre Hände auf dem Schoss zusammenpresst und den Kopf, Kinn nach oben, starr nach hinten biegt, wobei ihr Blick gesenkt bleibt, auf den Hund fixiert. Rechts neben ihr (im Vordergrund) sitzt mit locker übereinander gelegten Beinen der russische Präsident, lehnt sich entspannt zurück, hält die linke Hand in der Luft, als wollte er seinem Hund gleich das Zeichen geben: Fass! Sitz! Links im Hintergrund steht zwischen den Falten des bodenlangen Vorhangs eine bildhübsche Stenografin, ihr üppiges Haar fällt über ihre Schulter nach vorn und verdeckt einen Teil ihres Gesichts, sie trägt ein elegantes Deuxpièces, Stil Business, dazu Highheels, ihren Block hält sie eng vor die Brust, sie scheint angestrengt zu notieren, was der Präsident eben grade sagt. Oder ist sie vielleicht ein als Stenografin verkleideter Bodyguard? – Mutters Traum (von ihr am Telefon berichtet): Sie müsse einen Kinderwagen (»denselben, in dem ich vor vierundachtzig Jahren meine Nichte Heidi spazierenfuhr«) auf einen gewaltigen schwarzen Berg bringen; im Wägelchen liege ein granitenes Grabkreuz. Sie zweifle daran, ob sie mit ihrem schwachen Herzen die Fracht nach oben hieven kann, reiße sich aber zusammen, erreiche endlich die kahle Kuppe und kippe das Granitkreuz sofort weg – da kollert es, begleitet von einer wabernden Aschewolke, in komischen Sprüngen bergab. Sie richte sich erleichtert auf, sehe neben sich Simon Morris, etwa siebenjährig, und ein gleichaltriges, ihr unbekanntes Mädchen. Ihre Schwester Grit wolle die Kinder mit dem leeren Wagen auf der andern Bergseite allein absteigen lassen mit der Begründung, die beiden seien nun alt genug, um sich selbständig zu behaupten, und der Weg nach unten sei ja immer kein Problem. Sie wende sich um, stehe vor einem alten, offenkundig verlassenen Haus, betrete es; es sei völlig leer – keine Bewohner, keine Möbel oder sonstigen Gegenstände. Sie steige auf den Dachboden, der unter einer dicken Schicht von Staub und Ruß liegt, beginne gleich mit dem Putzen, sie wolle doch unbedingt wissen, was unter all dem Dreck verborgen … was da versteckt ist. Die Schmutzschicht kratze und schabe sie in schwerer Arbeit von den rohen Planken, schaufle die schwarze bröselige Masse in einen Eimer, um dann alles aus dem Fenster in den darunter vorbeifließenden Bach zu schütten. Doch schrecke sie davor plötzlich zurück im Gedanken, sie dürfe doch das silberklare Quellgewässer nicht verschmutzen. Also trage sie den überschwappenden Eimer treppab durch die Ruine und auf langem Weg nach Hause, um ihn im elterlichen Hof in die Jauchegrube zu kippen. Dann gehe sie zurück zu dem fremden Haus, fülle den Eimer mit Wasser aus dem klaren Bach und beginne erneut auf dem Dachboden zu schrubben. Dabei komme allmählich ein wertvoller, offenbar handgefertigter Kachelboden zum Vorschein, jede Kachel eigens signiert und nun wieder funkelnd in neuem … im alten Glanz. »Du siehst«, fügt Mutter hinzu: »Ich schaffe es noch immer aus eigener Kraft, und zwischen uns gibt es nichts Unklares mehr.« Was hat der Traum mit mir zu tun? Was habe ich mit dem Traum zu tun? Warum erzählt sie ihn mir? – Habe mir zum Roman ein paar Sätze notiert, von denen ich denke, sie könnten im Arbeitslager unterm ständigen Diktat des Hungers (nach mehr Fleisch, mehr Frauen, mehr Information, mehr Freizeit, mehr Seife, mehr Lektüre, mehr Ruhe) ausgesprochen worden sein; Sätze wie diese: »Keine Angst, Genossen, ich trage die Verantwortung nicht.« – »Hier im Lager ist Frau und ist Geld das Unsichtbarste.« – »Recht ist, wenn der Staat tötet. Und nicht etwa ich oder du.« – »Aber Gott hat ja auch Südamerika von Afrika abgetrieben! Was willst du mir da noch vorwerfen?« – »Was heißt schon Stil! Schießen kannst du damit jedenfalls nicht.« – »Wissen möchte ich mal, von wem die Harmonie die Tochter ist. Oder die Witwe.« – »Schaut! Schon wieder kriecht uns die Dämmerung auf den Leim. Schön! Nicht?« – »Besser noch, wenn alles falsch ist, so bleibt’s wenigstens einheitlich.« – »Für’s Glück braucht’s eine Glucke. Das war früher die Kirche. Jetzt ist es die Partei.« – »Der Staat erlaubt uns die Sünde, damit er uns bestrafen kann.« – »Wenigstens müssen wir in dieser Hölle nicht auch noch entscheiden.« – »Meine Briefe sind ins Hintertreffen geraten. Die Zeit ist nicht danach und auch nicht die Zensur.« – »Mann und Weib! Was meinst du? Krieg oder Mai?« – »Der dort … der Kapo dort könnte jetzt ein Kader sein. Schade um seinen abgeschossen Arm.« – »Mann ist eigentlich genug. Kommt Frau als drittes Aug dazu. Oder dann halt nicht.« – »Über mir ist alles schon vollbracht. Nur darunter brodelt’s noch ein bisschen weiter.« – »Warum bloß schicken sie uns immer am liebsten nach Sibirien. Nach Serbien nie.«

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