10. Februar

Wer auf seiner Tastatur (wo A und S unmittelbar benachbart sind) statt »passiert« paaiert eintippt, erliegt nicht einem Irrtum, er macht vielmehr einen Fehler oder lässt einen solchen »passieren«. Das fehlerhaft ausgeschriebene Wort – paaiert – ist im übrigen poetisch produktiver als dessen korrekte Schreibweise; denn paaiert, von keinerlei vorgegebener Bedeutung belastet, löst im Unterschied zu »passiert« sogleich assoziative Sprünge aus, Gedankensprünge, die zu »paaren«, »parieren«, »therapieren«, auch zu »irren« (-iert / irrt) hinführen, wodurch eine alogische Mehrdeutigkeit und zugleich eine lyrische Disposition sich einstellen. Wenn Jandl in der Folge den Fehler als »eine falsche« bestimmt, bleibt – wegen der Kleinschreibung – offen, ob damit substantivisch »eine Falsche« gemeint sein soll oder, nicht zu Ende gesprochen, »eine falsche …«. Aber was? Die Antwort folgt mit der Leichtigkeit einer Vermutung: daraus wird leicht eine flasche. – Mit »leicht« kann hier durchaus vielleicht gemeint sein, und »vielleicht« eröffnet zumindest die Möglichkeit, dass aus etwas Falschem etwas Richtiges, aus der »falschen« also eine richtige »flasche« gemacht werden kann. Jandl tut’s, indem er einem vermeintlichen Tippfehler zu offenkundiger Richtigkeit und Relevanz verhilft, und was er dabei tut, tut er des öftern, man weiß es, auch in andern seiner Gedichte – er bildet ein Anagramm. Im Anagramm, einem rein skripturalen, mündlich also nicht realisierbaren Phänomen, wird der »Fehler« – die Versetzung, die Vertauschung, die Umkehrung einzelner Schriftzeichen – zum Prinzip dichterischer Produktivität; er wird, um es so zu sagen, zum einzigen, in der Buchstäblichkeit der Wörter sich verkörpernden lyrischen Helden. Man erinnere sich an Jandlsche Gedichte wie fortschreitende räude (»him anflang war das wort … schim schanflang war das wort schund …«), lichtung (»lechts und rinks | kann man nicht | velwechsern«) oder kurskorrektur (»ostnotost | notnotost«), die nichts anderes und nicht weniger sind als anagrammatische Wortentfaltungen, bei denen der »Fehler« – nie aber der »Irrtum«! – bewusst eingesetzt wird, um aus noch so »Falschem« immer wieder eine richtige Flasche zu machen, eine dichte, rein dichterische Flasche, die nicht primär »Flasche« zu bedeuten hat, die vielmehr – als schlichtes Letterngebilde – mit dem Wort »Flasche« identisch ist: buchstäblich und unzerbrechlich, weder Fehler noch Irrtum. Denn das Wort als solches kann nie nicht richtig sein. – Ich bin … das Ich ist gleichzeitig so etwas wie ein Berg und ein später Hahnenschrei: I-i-i-íiich; i-i-i-íiich! – Habe von Joseph Berger ›Shipwreck of a Generation‹ gelesen, laut Untertitel seine Memoiren, in Wirklichkeit die Darstellung und Analyse des Scheiterns einer ganzen Generation, ein in jeder Hinsicht mörderisches Lebensdokument, luzid und distanziert vorgetragen, mehr für andere als für sich selber sprechend, Zeugnis kaum vorstellbarer menschlicher Niedertracht, Güte, Gier und Leidensfähigkeit in der stalinistischen Lagerwelt; das Ungeheuerlichste daran: Der Autor, als Kommunist selbst ein Opfer des Systems, verzichtet auf Klage und Anklage, beschränkt sich auf Erfahrungstatsachen, Faktenbeschreibung, Situationsanalyse, ohne urteilen oder werten zu wollen, und versucht statt dessen den Mechanismus des Staatsterrors und dessen Antriebskräfte zu ergründen. Im Vergleich mit den weit bekannteren Gulagtexten von Solschenizyn, Schalamow, Rasgon oder Jewegenija Ginsburg erweist sich Berger als der souveränste Berichterstatter und als ein besonders scharfsinniger Analytiker; doch auch ihm bleibt die Einsicht in den Systemzwang einerseits, in die persönlichen Beweggründe von Opfern und Tätern anderseits letztlich verschlossen. Wichtig für ›Alias‹, nur kommt diese Lektüre fast schon zu spät, als dass ich sie für den Roman noch nutzbar machen könnte; ich überlege nun, ob ich Berger wenigstens dem Namen nach … ob ich einem meiner Protagonisten Bergers Namen verleihen sollte? – Das einst von Paul Valéry evozierte Mysterium einer gedankenleeren … einer ideenlosen Existenz, wie sie den Tieren eignet, bleibt dem Menschen verschlossen, und vollends versagt ist ihm ein »Leben ohne Phrasen«, ohne Vergangenheit, ohne Geschichte, ohne Projekte, ohne Zukunft, aber auch ohne Freiheit, ohne Fehlübersetzungen und Fehlinterpretationen, kurz – versagt bleibt ihm das Leben als Überraschung. Reinheit, Einfachheit und Fatalität sind nach Valéry die »Eigenschaften des absoluten Lebewesens« (qualités du type vivant absolu): »Lauterkeit der vitalen Funktionen. Jener Funktionen, die Verbindung mit der Außenwelt erfordern. Anpassungen durch ›willensfreie‹ Aktion. Schicksalhaftigkeit statt Freiheit –« Das Tier rührt an die Freiheit nur dort, wo es zögert oder leidet, und eben diese existentiellen Koordinaten scheint es mit dem Menschen zu teilen, der seinerseits in der Unwillkürlichkeit des Leidens und Zögerns dem Animalischen sich annähert. »Sinnliches Erkennen – Agieren und Sehen nicht getrennt – Keine unnütze Wahrnehmung; sondern nichts oder der unmittelbare Akt.« – Zwölf Grad unter dem Gefrierpunkt heute, gefühlt als »Affenkälte«, obwohl ja Affen mit Kälte kaum etwas zu schaffen haben, so wenig wie Hunde mit Hitze oder Katzen mit siebenfachem Leben. Begriffe und Redewendungen, die dem, was sie bedeuten, vorgreifen? Die ihre Bedeutung also nach sich ziehen? Gilt das nicht insgesamt für die Namen von Menschen, von Göttern? Bei Ortsnamen wiederum ist es wohl mehrheitlich umgekehrt – sie benennen, was bereits da ist; sich das Wort im Anfang zu denken … zu sagen, zu meinen, »kein Ding sei, wo das Wort gebricht«, mag als produktive Versuchsanordnung gelten, widerspricht aber alltäglicher Erfahrung. Es sei denn, man lasse sich auf das geifernde Brabbeln von Kleinkindern ein, auf ekstatisches Zungenreden oder auf die sprachschöpferische Rede der Poesie. – Die Hypersexualisierung der Medien, der Alltags- und Berufswelt, auch der Politik, des Sports, der Kunst scheint einherzugehn mit dem Schwinden der erotischen Kultur, mit dem Verlust von Intimität und Intensität zu Gunsten geteilter Vergnügungen in transparenten gesellschaftlichen Räumen. Spielerisches Risiko, wie etwa der frontale Flirt es mit sich bringt, wird weitgehend vermieden durch cybersexuelle Distanznahme, durch automatisiertes und optimiertes Dating, durch stereotype Rollenspiele – kurz: durch die weitgehende Karnevalisierung sexuellen Verhaltens und sexueller Praktiken. Dass nun unter solchen Voraussetzungen eine weitläufige, zur Protestbewegung mutierende, vor allem von Frauen geführte Debatte über sexuelle Belästigung in Gang kommt, ist bemerkenswert. Man beschwert sich über den geilen männlichen Blick ins Dekolleté, den unbedarften sexistischen Spruch, den spontanen Griff ans Knie, an den Hintern, während gleichzeitig – im Sexkino, im Swingerclub, im Internet – harte Pornografie bis zum Gehtnichtmehr konsumiert wird, und dies im Wissen, zumindest in der Ahnung, dass deren Produktion auf Ausbeutung und vielfach auf kriminellem Missbrauch beruht. Der Karneval, einst als verkehrte Welt ein saisonales Spektakel zur Transzendierung bedrückender Normalität, ist selbst zur Normalität geworden, mithin zu etwas, das überwunden werden muss.

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