9. März

Habe heute beim Mittagslunch … habe neben meinem Teller Baruch Spinozas ›Ethik‹ aufgeschnitten, die schöne gelbe Ausgabe von Garnier, zweisprachig in zwei broschierten Bänden, die ich kürzlich in der hiesigen Brockenstube der Heilsarmee fand – eine »geometrisch« geordnete Ethik, wie Spinoza im Untertitel sagt. Was für ein Projekt! Welch ein Beitrag zur Poetik! Ganz zu schweigen von der Poesie! »Poethik« – das wäre der passendere Titel für dieses Versöhnungswerk zwischen Moral und Mathematik. – Nochmals viel Schnee über Nacht, bin mit Krys allein zu zweit; sie hat eingeheizt, mit dem Rücken zum Feuer hört sie angestrengt den ›Hammer ohne Meister‹ von Pierre Boulez – ich höre aus der Ferne meines Schreibzimmers mit, arbeite weiter am Verszyklus zum hebräischen Alephbet, mit möglichst ausgewogener Berücksichtigung der Laut- und Zahlenwerte, aber auch (und mehr noch) der Wortbedeutungen der einzelnen Schriftzeichen. Ich möchte den Zyklus beim Empfang des Basler Lyrikpreises statt einer bloßen Dankesrede »zum Besten« geben – besser kann ich’s nicht: Nûn. – Tut der große gelbe Blick plö-lötzlich
aaaaasein Aug auf. Raubt
aaaaaLandschaften und sonstige Gesichter aus.
aaaaaGlaubt Mond zu sein. Aber
aaaaaist auch diesmal bloß eine Sonne. Zu einem
aaaaaNu gerundet alles.
aaaaa(Fisch. 50)

aaaaaMem. – Memme ist Memoria verglichen mit
aaaaadem Leben danach. Eben noch
aaaaaMors und lautlos Jein
aaaaazu dem was war. Was kommt
aaaaaist ewige Geburt und
aaaaaaber ohne Brut. Nur einfach
aaaaaso. Der Quell der blutig weiterperlt.
aaaaa(Wasser. 40)

aaaaaLámed. – Vom Lachen erst geschüttelt. Jetzt
aaaaagelähmt. Hängt einer
aaaaa– noch immer ist es der Bruder der Schwester
aaaaades traurigsten Narren –
aaaaaam Hals des Hengsts der schräg
aaaaaim Rennen liegt. (Ein
aaaaalanger Vers!) Ein mörderischer Trab. Und
aaaaahochgemut über der tobenden
aaaaaMeute kreist das Fäustchen des Jockeys.
aaaaaWer’s sieht. Was meint’s.
aaaaa(Ochsenpike? 30)

aaaaaKaph. – Ein andrer Durst ist der
aaaaades Feuers. Und wie
aaaaasie prasseln beide! Ein Zerknülltes
aaaaadas sich auslebt
aaaaabis zum Kap der guuu- der gutt- der
aaaaaakuten Hoffnung. Allein
aaaaazu zweit im wilden Aug des Fiebers. Also
aaaaadort wo das Feuer selbst
aaaaader Durst ist.
aaaaa(Innenhand. 20) – (Zum Gedicht:) Ich schreibe die zweiundzwanzig lyrischen Stücke als Divagationen zum hebräischen Alephbeth, jeweils ausgehend von einer Auslegeordnung von beiläufig notierten Einzelwörtern oder Wortwendungen, die ich teils von den Lauten, teils von deren symbolischer Bedeutung ableite. Diese Versatzstücke liegen auf Zetteln verstreut vor mir auf dem Tisch und wollen zusammengeführt werden. Die Zusammenführung geschieht (in alphabetischer Reihenfolge) am Leitfaden klanglicher Verwandtschaften, die entweder aus dem vorliegenden Material gefügt oder durch neu hinzugezogene Elemente kombiniert oder ergänzt werden. So bauen sich mehr und mehr Sätze, also Aussagen auf, und irgendwann stellt sich der Kippmoment ein, von dem aus die Semantik dominant wird. Damit das Gedicht nicht zum reinen Klangereignis ohne jeden Aussagewert gerät, muss sich das Selbst-Redende der Sprache mit meinem Sagen-Wollen zum Gedicht verbinden und sich so, als Gedicht, behaupten. – Krys? Wie sie ihr schönstes Lächeln zwischen den Knien hält und sich dabei in den Hüften wiegt! – Die Migräne von heute fühlt sich wie eine glühende Strumpfmaske an, mit scharfen Falten quer an beiden Schläfen, mit vernähten Augenschlitzen und mit offenem Nacken für die Handkantenschläge. – Beim Abbauen und Umräumen meiner Bibliothek bin ich heute hinter dem breiten Schuber mit Robert Walsers gesammelten Werken auf einen unansehnlichen, stark angegilbten Band mit Dichtungen und kritischen Schriften von Eugen Gottlob Winkler gestoßen. Der Band ist 1956 bei Neske in Pfullingen erschienen, ich selbst habe ihn vor Jahrzehnten handschriftlich mit »1966« datiert, muss die Texte damals auch gelesen haben – Unterstreichungen und Anmerkungen bezeugen es. Ich weiß nicht … erinnere mich nicht, ob ich zwischendurch jemals auf Winkler zurückgekommen bin. Geblieben ist mir aber sein Name, der sich für mich noch heute mit den Namen Wolfgang Borchert und Felix Hartlaub verbindet – alle drei gehörten zu den ersten zeitgenössischen Autoren, die mich nachhaltig beeindruckten. Als ich ihre Bücher zu lesen bekam, war ich ungefähr so alt … ungefähr so jung wie sie, als sie starben: Winkler hatte sich vierundzwanzigjährig das Leben genommen, Hartlaub war mit zweiunddreißig spurlos verschwunden, Borchert mit sechsundzwanzig an einer schweren Krankheit gestorben. Sofort kommt nun, was Winkler betrifft, das Faszinosum von damals wieder auf: Ich habe den wiedergefundenen Band über Nacht in einem Zug noch einmal durchgelesen und bin erneut überzeugt, dass die Winklersche Prosa – erzählerische und essayistische Texte zusammengenommen – zum Stärksten gehört, was im Dritten Reich geschrieben worden ist. Man muss wohl zu Novalis, zu Büchner zurückblättern, um in Verbindung mit höchster künstlerischer Intelligenz ein vergleichbar luzides Deutsch vorzufinden. Nach wie vor ist mir unbegreiflich, dass – und mit welcher Souveränität – ein so junger Autor so vieles auf so hohem Niveau in eins zu setzen vermag: Sinnliche Wahrnehmung, philosophische Reflexion, intellektuelle Durchdringung, skeptische Nachdenklichkeit, und all dies vergegenwärtigt und vermittelt er durch eine schnörkellose literarische Rhetorik, wie man sie sonst nur von den Franzosen – Valéry, Breton, Camus – kennt. Was ihn angeht, herausfordert, bedrängt, bedroht, selbst den Schmerz vermag er, nach eigenem Bekunden, »zu sich zu bekehren«. Das schmale Gesamtwerk, das er hinterlassen hat, ist eine ganze Kunst, eine ganze Wissenschaft und eine ganze Philosophie, alles mit beispielloser Intensität auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht, derart intensiv, dass nichts mehr sich resümieren lässt und dass man alles, um eine adäquate Vorstellung davon zu vermitteln, wörtlich nachschreiben müsste; etwa diese ungemein eindringliche, geradezu dramatisch sich auslebende Beschreibung einer weißen Blüte, die ich Eugen Gottlob Winklers Erzählung ›Im Gewächshaus‹ entnehme: »Ich schaue, ohne die Menge an Zeit noch ermessen zu können, die darüber vergeht. Die Blüte vollbringt ihr Entfalten. Ich sehe, wie im Laufe einer gleichgültigen Zeitdauer sie mit fest aneinandergedrängten Spitzen die dunkle Knospe der Kapsel zerbricht. Ihr Weiß ist anfangs noch morgenrötlich, an den Rändern behaucht von einem ephemeren Rosa, das erst allmählich mit dem zuckenden Sich-Ablösen des einzelnen Blütenblattes vom Blütenkern nach unten entschwindet. An das Licht, an den Blick, an das Insekt wendet sich das blendend leuchtende Weiß der Oberseite: ein Weiß von einer Dichte, als hätten sich alle Töne von Farben in ihm versammeln müssen, damit es erklang, als habe es selbst die undurchdringlichsten Dunkelheiten in sich aufgenommen, – und zugleich ein Weiß von einer Unwirklichkeit, als sei es übriggeblieben nach der Aufhebung aller denkbaren Fälle von Farbe, ein vollkommenes Weiß, das mich denken lässt, es hätten sich in ihm die mystischen Dunkelheiten von Herkunft und Tod nach einer völligen Mischung gegenseitig behoben.« Usf. Einzigartig, wie Winkler – erzählend! – Schauen und Denken zusammenführt, wie er das, was er als organischen Prozess beobachtet, in den Schreibprozess übernimmt und rhythmisch in der Abfolge seiner Sätze realisiert: »Ein Strahl nach dem anderen biegt sich an der Blüte auf, lanzenspitzenähnlich, zu einem sich langsam vollendenden Kranz von weißen starrenden Schneiden. Das bewusstlose Leben des Pflanzlichen, das sonst seine gewaltige Brunst nur versteckt und heimlich erhebt, das, jedem Zusehen entzogen, sich hinter Starre und Stille birgt, stellt nun sich nackt und sichtbar, im Übermaße erregt, in diesem Vorgang dar, mit hastig überstürztem Eifer das erzitternde Gestirn der Blüte gestaltend. Und um so befremdlicher wirkt diese Bewegung, als nirgendwo in diesem gläsernen Hause eine gewohnte Kraft erscheint, der man sie, bestürzt, wie man ist, zuschreiben könnte. Kein Wind, kein Hauch, keine Welle. Die Bewegung rührt rein aus der Blüte selbst: eine handelnde Moles, ein beseeltes Weiß, das sich äußert.« Usf. So wird die Beschreibung tatsächlich zur Erzählung, die Nahsicht eröffnet zugleich eine kosmische Perspektive (die Blüte wird zum Gestirn), das Sich-Ausleben der blühenden Pflanze vollzieht gleichsam in Zeitlupe die Intensitäten, die Orgasmen, die Katastrophen jeglicher Lebensbewegung, bis sie erschlafft, sich einrollt und »die Tönung des Welkens« sie überkommt. Ja. Doch. Einhundert Seiten dieses vergessenen Autors wiegen für mich den ganzen Walser auf – ich rücke die große sperrige Kassette auf dem Regal zur Wand hin in die zweite Reihe, ganz vorn aufgestellt bleibt der nun vom Staub befreite Band von Eugen Gottlob Winkler, den ich auch künftig zur Hand haben möchte. – Umfrage in der NZZ nach dem prägenden Lehrer – launige Antworten, auch traurige, die meisten bewundernd; was ich von mir … von meinen Lehrern nicht sagen könnte. Keiner meiner Lehrer ist mein Lehrer gewesen, manche von ihnen haben mich beeindruckt, gelernt hab ich alles selbst, vielleicht weil ich so schwer zu belehren bin. Mit einem Nichts an Wissen im Rucksack bin ich damals auf die Reise gegangen, mich stetig selbst mit Proviant versorgend. Ich weiß alles über Fug und Unfug der Autodidaktik, kenne den damit verbundenen Zeitverlust, die Sackgassen, die Umwege, die Irrgänge, die Enttäuschungen und Ernüchterungen, die Risiko- und Entdeckungsfreude, das Interesse am Diversen, das permanente Ungenügen an sich selbst kraft übersteigerter Selbstkritik. – Im Land Kratylien, wo ungebremst die Wörter blühn, ist Jacques Derrida König. Kein anderer Autor spürt mit soviel Sprachvertrauen der Wahrheit nach und überlässt sie, wenn er sie gefunden hat, dem Wort. Da er das Wort als Wortding gelten lässt, als Klangleib und als Schriftbild, braucht er sich nicht darum zu kümmern, ob es repräsentiert, was als Bedeutung hinter ihm steht, oder ob es präsent macht, was es – das Wort als solches – ist. Ob das Wort »Name« irgendetwas mit dem Wort »Amen« zu schaffen hat, nur weil beide Wörter den selben Letternbestand aufweisen, ist eine Frage oder … oder ist keine Frage, je nachdem, wie man die Prioritäten setzt; je nachdem, ob man das Wort als konventionellen Bedeutungsträger einsetzt oder, umgekehrt, als Sinngenerator. Derrida hat bekanntlich (nach dem Vorbild von Martin Heideggers »Sein« / »Seyn«) mit eigenen Wortbildungen … hat mit gleichlautenden Wortpaaren wie »différence« / »différance« oder »abîme« / »abyme« Unterschiede beziehungsweise Übereinstimmungen markiert, die weithin zu Kontroversen Anlass gegeben haben, Wörter, die allein kraft ihrer Homophonie oder Assonanz einen Sinn generieren, den es als Bedeutung zuvor noch nicht gab. Derridas Romanessay ›Glas‹ von 1974 entfaltet sich als eine großangelegte Textur anagrammatischer Versetzungen, aus denen auf der Bedeutungsebene immer wieder staunenswerte »Verwandtschaften « hervorgehen, die einzig durch Lautähnlichkeiten beglaubigt sind. So kann Derrida diesseits formaler Logik Dinge wie Ringe (bagues), auf- oder ausgerichtet (braqué), Hosenschlitz (braguette), Dolche (dagues), Witze (blagues), Algen (algues) und Krätze (gales) anstandslos zusammendenken, allein deshalb, weil die disparaten Bedeutungen auf der Lautebene zusammenklingen – also müssen sie wohl auch zusammenstimmen! Das könnte zu kurz gedacht sein, könnte aber auch Folge eines ludistisch ausschweifenden, im Paradoxon sich selbst einholenden Denkens sein. Ich weiß es nicht, will es nicht beurteilen, lasse es gut sein, denn bei all seiner grafomanischen Fahrigkeit und seiner alogischen Begrifflichkeit bietet mir Jacques Derrida doch weit mehr Sinnbildungsmögichkeiten als die deutsche Schulphilosophie zwischen Lübbe und Tugendhat. – Man kann wohl sagen, dass bei Derrida – wie bei manchen starken Dichtern – das Wort im Anfang steht und dass anderseits dort, »wo das Wort gebricht«, auch »kein Ding« zu haben, keine Bedeutung zu fassen ist. Auch wenn die Begriffe »Roma« und »Amor« (oder der Flussname »Rhein« und das Adjektiv »rein«) bedeutungsmäßig völlig different sind, können sie durchaus, zusammengedacht auf Grund ihrer buchstäblichen oder lautlichen Übereinstimmung, einen Sinn freisetzen – nicht weil sie ihn in sich tragen, sondern, im Gegenteil, weil er ihnen zugesprochen werden kann und übrigens auch zugesprochen werden muss, um sich zu behaupten.

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