15. Juni

Schlaflose … fast durchweg schlaflose Nacht. Vollmondnacht. Weiße Nacht. Seltsame Verbindung von bleierner Schwere und stürmischen Umtrieben. Kein Mittel, keine Lage, letztlich einfach kein Moment zum Einschlafen. Also gibt’s auch keinen Traum, dafür aber ausufernde Träumereien, peinliche Erinnerungen, kleinmütige Zukunftsgedanken, nebensächliche Fragen, fantastische Wünsche, jämmerliche Ängste, vage Hoffnungen, zwei, drei fixe Ideen. Ich denke nach über die gestrige Mailanfrage eines mir unbekannten Lesers: »Großartig – all Ihre Sachen! Eigenes wie Übersetztes! Warum, für wen tun Sie das eigentlich?« Für eine Antwort auf diesen Appell bräuchte es mehr als nur eine schlaflose Nacht. Mein Schreiben ist ohne Warum und Wozu. Ich schreibe … ich schreibe so, wie ich schreibe, und das, was ich schreibe, ganz einfach darum, weil ich nichts anderes kann … weil ich anders nicht kann. Und mein Ziel ist weder das Publikum noch der Erfolg … mein Ziel ist der einzelne Leser, die Leserin als Einzelne, der unbekannte Zeitgenosse irgendwo, der – naturgemäß und notwendigerweise – allein mit meinem Buch konfrontiert ist, ohne jedes Zutun meinerseits als Person, aber doch, wo und wann auch immer, als mein persönlicher Partner … als mein in jedem einzelnen Fall einmaliger Gesprächspartner auf Distanz – hier und jetzt! – Krys meldet sich aus Brüssel, wo sie im Rahmen einer Kunstmesse mehrere Performances mit jungen Tänzern und Improvisationsmusikern aus Polen kuratiert oder organisiert oder inszeniert; eine der Performances war so erfolgreich, dass sie nach der Messe in einem Jazzclub wiederholt werden soll. Krys wird also erst in der Wochenmitte zurück sein. Ich mag es … mir gefällt es, wenn sie allein unterwegs ist und ihre Sache macht; wenn sie erfolgreich ist mit dem, was sie am besten kann und was sie auch gern tut. Nach ihrer Rückkehr ist sie für mich jeweils auch viel deutlicher wahrnehmbar in ihrer Eigenart und aufregender in ihrem Eigensinn. Was noch nicht so recht gelingen will, ist die Umsetzung gemeinsamer Projekte, von denen es zwar eine ganze Reihe schon gibt, keines aber durchgearbeitet und ausgeführt wurde. Schwer zu sagen, weshalb; wenn sie zurück ist, will ich einmal wieder mit ihr darüber reden. Darüber reden, wie wir es mit der Hörspielfassung von ›Alias oder Das wahre Leben‹ halten wollen – sie, Krys, möchte die Dramaturgie und die Regie übernehmen, ich selbst soll den Sprechtext schreiben; aber wie diese Funktionen und Verantwortungen zusammenzulegen und produktiv zu machen sind, ist uns beiden noch unklar. – Heute im Wald ein fiktives Gespräch mit John Potocki, der für mich mehr und mehr zum Double wird und damit auch zum Gegenspieler – ich kann mich als Autor nur halten, wenn es mir gelingt, mich von ihm abzusetzen, zurückzutreten, abzusehen von meinen eigenen Absichten und Wünschen und Erwartungen, so dass er sich ausleben kann. Fast entgehen mir dabei die herrlichen Farb- und Duftnoten, die diesen unangenehm schwülen Tag dekorieren. – Mutters Auf-und-Ab geht nun vielleicht doch auf den Tod zu – gestern ihre Begeisterung für eine kleine Wohnung mit Betreuung (statt des viel zu großen Hauses), heute die völlige Mutlosigkeit, ob ein Wechsel denn überhaupt noch machbar und sinnvoll sein könne usf. »Ihr seid alle schon so groß«, murmelt sie vor sich hin, »und ich bin noch immer da.«

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