18. Juni

Seit rund drei Wochen wird in Zug nach einer jungen Dänin gesucht, die am Montag in der Früh die Wohnung verlassen hat und zum Bahnhof fuhr (soviel ist nachweisbar), danach aber abtauchte und verschwunden blieb. Weder Zeugen noch Überwachungskameras haben irgendwelche Hinweise über den Verbleib der Frau erbracht; ihr Handy ist abgeschaltet, kann also nicht geortet werden; ihr Bankkonto bleibt unangetastet, so dass ihr Aufenthalt beziehungsweise ihr Itinerar auch nicht auf Grund von ambulanten Geldbezügen eruiert werden kann. Seither wird täglich »in allen Richtungen«, wie es heißt, nach Spuren gesucht – mit Polizeitrupps, Spür- und Leichenhunden, ortskundigen Privatpersonen, Detektoren, Infrarotkameras, Schlauchbooten usf.; sogar Wahrsager und Geisterseher kommen zum Zug. Ohne Ergebnis. Die Polizei steht unter Druck; die internationale Presse ist vor Ort. Offiziell scheint man von einem Freitod auszugehen, doch Gründe dafür werden nicht genannt (die Frau studierte in Zürich, arbeitete nebenbei als Model); dem steht die Vermutung gegenüber, die Vermisste sei entführt, womöglich umgebracht worden. Wie auch immer. Ein ambivalenter Fall. Geht man von Selbstmord aus, wäre das Suchgebiet wohl drastisch einzuschränken (See, umliegender Wald, abgelegenes Gebäude usf.); doch dazu steht die Tatsache in Widerspruch, dass man die Leiche trotz allseitiger intensiver Suche bisher nicht gefunden hat. Dies wiederum könnte aber auch darauf hinweisen, dass die Vermisste ihr Verschwinden minuziös geplant und durchgeführt hat – was allerdings von ihren nächsten Freunden und Bekannten klar in Abrede gestellt wird, da sich die Frau bis zuletzt völlig normal verhalten, keinerlei Andeutungen gemacht und auch keinen vorstellbaren Grund dazu gehabt habe. Ich verfolge die täglichen Pressemeldungen mit Interesse, weil ich mir ein unangekündigtes, spurloses und definitives Verschwinden aus der Alltagswelt als einen souveränen Willensakt und ein adäquates Lebensende vorstellen kann, nicht aber – bei der heute in Permanenz praktizierten Überwachung der Lebenswelt – als eine reale Möglichkeit. Falls die junge Frau nicht doch entführt worden ist, wie hat sie … wie hätte sie es geschafft, einen Abgang von solcher … von solch heroischer Radikalität zu verwirklichen? Einerseits hätte sie ihre Freunde perfekt täuschen und die natürliche Neugier von Nachbarn und ferneren Bekannten unterlaufen müssen; anderseits hätte sie sich physisch so vollständig vernichten oder so sorgfältig verstecken müssen, dass ihre Leiche auch mit modernsten kriminalistischen Mitteln und Methoden nicht hätte ausfindig gemacht werden können. Wer das kann! Was mich angeht – schon als Kind war mir klar, dass ich einst ohne Ankündigung, ohne Abschied abhauen würde; doch dazu hätte ich – damals wie heute – eine Tarnkappe gebraucht. – Bin heute um halb sechs aufgestanden, um halb sieben aus dem Haus gegangen … hinaus in einen frühen bleichen Tag, den der nächtliche Landregen noch nicht ganz freigegeben hat. Die bewegte Luft ist schwer und kühl, das Laubgrün, verschmiert von feuchtem Blütenstaub, hat einen neutralen grauen Farbton angenommen und lässt mich bereits an den Herbst denken. Obwohl es in der Region keine Gewitter gab, ist der Nozon über Nacht zu einem reißenden Bach angeschwollen, der da und dort über die Ufer … über die Verbauungen hinausschießt – massives Rundholz und voll belaubtes Astwerk treiben vorbei oder verfangen sich an hochragenden Steinblöcken. Das Rauschen der Flut vereint sich mit dem Rauschen das Walds und des Regens zu ohrenbetäubendem Lärm, der dem Straßenlärm einer Großstadt gar nicht so unähnlich ist. Regen! Von allen Varianten, die das Wetter zu bieten hat, ist mir Regen am liebsten … noch lieber Regen im Verein mit Sturm. Das hat einerseits mit der sinnlichen Erfahrung des Regens zu tun, mit der Empfindung des Nieselns und Rieselns im Gesicht, auf Armen und Händen, anderseits mit den Geräuschen des Regenfalls, die allein schon akustisch Kühlung bringen – ein Gießen, Stieben, Strömen, Prasseln, Sprinkeln, Fluten, aus dem sich immer wieder neue symphonische Klangereignisse ergeben. Auch wenn der Regen optisch wenig zu bieten hat … keine Farben, keine fassbaren Formen, so kann er mich doch faszinieren durch seine glitzernde Transparenz, sein Schillern zwischen Schwarz und Silber. Zwar tut der Regen nichts als fallen … unabwendbar fällt er mir zu, doch er kennt keineswegs nur die Bewegung von oben nach unten, er kann auch seitlich heranwehen, kann sich in Schauern heben und senken. Nie ist Regen kein Ganzes … immer besteht er, solang die Luft ihn hält, aus unzähligen, unterschiedlich großen Teilchen … Schlieren, Tropfen, Tröpfchen, Stäubchen, Strähnen, Fäden, die als lockere, durchlässige, ständig sich verändernde Formation unentwegt der Schwerkraft folgen, bis sie – wo auch immer – aufschlagen und der Regen sich sogleich zu gewöhnlichem Wasser zusammenschließt, als Rinnsal, als Pfütze, als zeitweiliger Teich. Nur im Flug, im Fall behauptet der Regen seine Eigenart, etwas Vielfaches und zugleich eins zu sein; und diese Eigenart beweist er – im Deutschen – auf bemerkenswerte Weise auch als Wort. Das Wort »Regen« (Substantiv) ist gleichlautend mit dem Verb »regen« (für »rühren« usf.) – beides verbindet sich mit der Vorstellung von Beweglichkeit, Regsamkeit. »Regen« ist außerdem die genaue anagrammatische Entsprechung zu »gerne«, scheint mithin auf der Lautebene das Wohlgefühl zu bestätigen, das man bei Regen empfinden kann. Schließlich ist »Regen«, rückwärts gelesen, das Palindrom zu »Neger«, was freilich auf der Bedeutungsebene keine weiteren Schlüsse zulässt. Die vielfältige Erscheinungsform des Regens findet also im vielfältig permutierbaren Wort »Regen« eine staunenswerte Entsprechung. Ob diese Entsprechung auf innersprachliche Impulse zurückzuführen ist oder auf lautliche Zufallskonstellationen, bleibe dahingestellt. Aber Regen ist nun einmal »Regen«!

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