19. Juli

Pelziger Nebel hockt in den triefenden Wipfeln des Walds, aus dem Moosgrund steigt dampfend die Wärme – ungute, unschöne Treibhausatmosphäre; dazu der Gedanke, dass die angebliche Erderwärmung, tatsächlich aus der Erde kommt, und nicht von irgendwo oben. Die Sonne zeigt sich in diesen Hochsommertagen, falls überhaupt, nur noch sporadisch und verbreitet einen milchigen Dunst, der eher an Kunstlicht erinnert denn an natürliche Strahlung. Das Licht ist so diffus, dass es kaum noch Schatten wirft; dass ich mir selbst – auf dem heutigen Rundgang durch den Wald – als Schattengestalt vorkomme. – Weiter nun aber mit Arthur Schopenhauers ›Senilia‹; der Philosoph als Misanthrop und Tierfreund – er liebt und beobachtet Insekten, sieht, wie ein Falter in die Kerzenflamme stürzt, dann ein nächster und weiter so ad libitum. Wie ist es möglich, überlegt er, wie ist es zu erklären, dass Tiere, die mit so vielen Sensoren ausgestattet sind, massenhaft den Tod im Feuer suchen? Antwort: Die Falter sind physiologisch für den Umgang in und mit der Natur ausgestattet, nicht aber mit künstlichen Objekten wie Kerzen oder Lampen – sie werden sich, meint Schopenhauer, nie an »menschliche« (vom Menschen erfundene, geschaffene) Realien gewöhnen. Die Natur, so müsste man daraus wohl schließen, wird gegenüber der technischen Welt stets im Hintertreffen bleiben. Technik, Wirtschaft und Zivilisation insgesamt ermöglichen und betreiben das Vernichtungswerk des Menschen am Tier – die Schwalbe, die auf die Glaswand platzt; Kröte und Frosch, die zermatscht auf Autostraßen enden; der Lachs, die Forelle, die im Stauwehr hängen bleiben; das Huhn, das in der Batterie gemästet oder zum permanenten Eierlegen abgerichtet wird; Zoo und Zirkus als gemütliche KZ-Betriebe für Tiere aller Art. Nur eins kann, nach Schopenhauer, an der Normalität solcher Missstände als natürlich gelten – dass das Tier ihr und ihnen gegenüber ohne Chance ist. – »Wir sehen einander an und verkehren mit einander wie Masken mit Masken; wir wissen nicht, wer wir sind – aber wie Masken, die nicht einmal sich selber kennen. Und eben so sehn die Tiere uns an; wie wir.« Allein, dass es diesen Satz, so wie er gebaut ist und dasteht, zu lesen gibt, ist – unabhängig von seiner Aussage – ein Glück. Zwar habe ich die Schopenhauerschen ›Senilia‹ erst bis zur Mitte gelesen, aber schon jetzt ist der Erkenntnisgewinn reichlich genug. Angesichts der Weltlage und meiner eigenen Miserabilität wird mir die Lektüre zum Trost. Tröstlich nicht zuletzt die Tatsache, dass ein Autor von höchster Intelligenz und Sensibilität so albern und gemein und eitel sein kann wie Schopenhauer. Bis zur S. 149 zähle ich dreiundzwanzig Stellen, an denen er sich darüber beklagt, während sechsunddreißig (?!) Jahren nicht wahrgenommen worden zu sein von den Kollegen … von jenen Universitätskollegen, die er ohnehin verachtet! Eher untröstlich bin ich demgegenüber dort, wo Schopenhauer vom »Recht der Zeit« redet, das heißt davon, dass die Zeit – die Zukunft – alle Missverständnisse und Versäumnisse berichtigen werde. Was sie in seinem Fall zwar getan hat, was sie aber heute und künftig sicherlich nicht mehr tun wird. Heute und in Zukunft werden wertvollste Werke ohne Halbwertzeit verrotten, es gibt jene »Zeitgerechtigkeit« nicht mehr, die den Nachruhm (oder auch bloß die Nachlese) eines Hölderlin, einer Dickinson, eines Kafka ermöglichte. Noch Michail Bulgakow konnte, als Verfemter und Gejagter, davon überzeugt sein, dass »Manuskripte nicht brennen« – der hochgemute, heute unhaltbare Satz ist zum meistzitierten Diktum der sowjetischen Dissidenz geworden, und seine prekäre »Richtigkeit« hat sich an manchen verkannten oder verdammten Autoren des vorigen Jahrhunderts – Artaud, Platonow, Mandelstam, Dylan Thomas – erwiesen. Das war einmal! Dass nur einfach die Zeit verstreichen musste, bis Unverständliches verstanden und Unbekanntes erkannt werden konnte. »Das Abendrot meines Lebens«, davon ist Schopenhauer überzeugt, »wird das Morgenrot meines Ruhms« – wie sollte man so etwas noch ernstlich hoffen, sogar sagen können? Leider sind auch in meinem Fall »die, welche Beistand leisten sollten, Gegner und Feinde« – wir Wenigen, die schreiben, die schreibend Ähnliches umsetzen und vertreten, sind einander in aller Regel gram. – Bemerkenswert, finde ich, sind auch Arthur Schopenhauers Notate zur Mathematik und Physik (sein Respekt vor Euler!), die klare Feststellung zum Beispiel, dass Mathematik wenig mit Rechnen zu tun habe, vielmehr eine pure Denk- und Verstehensleistung sei, mithin eher zur »Vorstellung« denn zum »Willen« gehöre. Auch hier ergeben sich die tiefsten Einsichten aus vordergründigen Beobachtungen – bei Schopenhauer gehört sinnliche Wahrnehmung unmittelbar zum Akt des Philosophierens. Im Umgang mit Mediokrität, Arroganz, Borniertheit empfiehlt er Verzicht auf Zorn, privilegiert statt dessen – Leichtigkeit, Heiterkeit, Darüberstehn … Wer’s könnte! Ich kann’s nicht. Schopenhauer selbst kann’s auch nicht, was durch seine unentwegten, oftmals wiederholten Ausfälle (verächtlich, vernichtend, selbstgerecht) gegen seine zahllosen »Feinde« belegt ist. – Seit Monaten hat sich bei mir kein Gedicht mehr ergeben; das ist besonders alarmierend deshalb, weil das Gedicht die einzige Textsorte ist, die sich mir beim Schreiben mit all ihren formalen Möglichkeiten erschließt und der ich auf unverwechselbare Weise gerecht werden kann … zu der ich auch Unerhörtes, bisher nicht Gelesenes beizutragen vermag. Eigentlich sollte ich mich auf das Gedichteschreiben viel mehr konzentrieren als auf das, was ich sonst noch mache – Publizistik, Essayistik, Sachbuch, literarische Prosa, Übersetzung – und was andere auf ihre Weise ebenfalls machen oder machen könnten. Mein Pech ist nur, dass ich gerade mit dem, was ich am besten kann, am wenigsten ankomme. Das zeitgenössische Gedicht ist das zeitgemäße Gedicht … das angepasste, das an außerliterarischen Realien orientierte Gedicht, das sich mit der Alltagssprache und mit aktuellen Allerweltsthemen gemein macht. Da kann ich … da will ich nicht mitreden, das zeitgemäße Gedicht ist und hat für mich kein Interesse, mein Interesse besteht vielmehr darin, das Gedicht – statt es mit Werbe- und Wiki- und SMS-Texten zu vernetzen – zu exponieren als etwas Erratisches, Anstößiges, Herausforderndes, das sich insgesamt als Widerrede zu erkennen gibt … als Rede wider fahrlässigen, appellierenden, werbenden, behauptenden, automatisierten, sentimentalen, schnoddrigen oder gewollt poetischen Sprachgebrauch. Meine dichterische Praxis ist insofern asozial zu nennen, als sie nicht publikumsorientiert und schon gar nicht mehrheitsorientiert ist, sondern immer den einzelnen Leser … immer einen Einzelleser im Sinn hat, der nicht bloß angesprochen, sondern auch zum Sprechen gebracht … zu eigener Sinnbildung angeregt werden soll. Ein Unbekannter, eine Unbekannte irgendwo dort draußen beim Lesen … im fragenden, zweifelnden, zustimmenden, skeptischen, begeisterten Umgang mit einem Gedicht von mir, jemand, der anhand des Gedichts nicht mich oder etwas von mir Gemeintes verstehen will, der vielmehr, sich einlassend auf das, was dasteht, zum Meister meines Gedichts wird, indem er es sich eigensinnig vornimmt, ihm also einen Sinn gibt, den allein er, der unbekannte Leser, sie, die unbekannte Leserin, aufbringen kann – das ist die Vorstellung, die ich mit meinem Schreiben und meinem Geschriebenen am liebsten verbinde. Eins meiner letzten (jüngsten) Gedichte rücke ich an dieser Stelle beispielshalber ein: RastDas Desaster ist das
aaaaawas heute drastisch aus der fernen Zukunft ragt.
aaaaaUnd ragt. Ragt und
aaaaaist aber nie nicht im Kommen. Strahlt noch
aaaaavor jedem Sinn. Vor jeder Hast
aaaaa(zum Beispiel gestern
aaaaawird es so gewesen sein) rastet’s
aaaaaunter andern Sternen. Erst
aaaaamal harmlos und vollkommen unerhört.
aaaaaEtwa so wie ein Knistern.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDann
aaaaader Knall
aaaaaden ein dreister Blitz bewohnt. Und
aaaaaumgekehrt. All das (und noch
aaaaaviel mehr) ist seit eh
aaaaaund je der Fall und macht
aaaaadass selbst das festgestellte Tier urplötzlich
aaaaarast – die Rast im Glück. – Ich fürchte, ich werde, wenn ich über die siebzig hinaus fortlebe, nur noch mich selbst überleben, derweil die Geschichte mich hinter sich lässt; wie all mein Geschriebenes auch. – Vom Volk gewählt zu sein ist das Letzte, was ich mir wünschte … ist allerdings auch das Letzte, was mir hienieden passieren könnte. – Im Halbschlaf neue Konzeptidee für Potocki – statt den Roman in Wirform zu erzählen, könnte ich mir nun auch denken, für jedes Kapitel einen andern Icherzähler zu benennen, der als marginaler Beobachter das Geschehen vergegenwärtigt. Nachteil: Alles bisher Geschriebene müsste entsprechend umgeschrieben, teilweise wohl gestrichen werden. Die Wirerzählung ist gegenüber der Icherzählung in fast jeder Hinsicht eingeschränkt; statt »wir« könnte auch »man« als Erzählinstanz fungieren – schon klar, dass das Man sehr viel mehr weiß … sehr viel mehr wissen kann (und wissen muss) als irgendein Ich, dafür geht ihm (dem kollektiven oder neutralen Erzähler) die individuelle sinnliche Erfahrung ab, das persönliche Interesse, das persönliche Profil, der eigene Wille, die eigene Vorstellung usf. – Wille und Vorstellung sind gleichermaßen dürftig, die Welt entsprechend überbordend. Das Paradoxon: Von allem gibt es zu viel – zu viel Arme und zu viel Reiche, zu viel Hunger und zu viel Übersättigung, zu viel Freidenkerei und zu viel Religiosität, zu viele Alte hier, zu viele Junge in Afrika, Asien. Zu viele Menschen allenthalben. Die Schweiz war vor einem halben Jahrhundert noch so etwas wie ein ländliches Idyll, heute bleibt als einzige gesicherte Grünfläche die Rütliwiese, wo einst vor mehr als siebenhundert Jahren die Eidgenossenschaft beschworen worden sein soll – der begehbarer Beweis dafür, dass es die Schweiz vor Zeiten mal gegeben hat. Gleichwohl gilt die längst überbevölkerte Schweiz – noch ein Paradoxon – als unterbevölkert; kommt bloß auf die Optik und auf den Vergleich an. Die Optik wird (und das gilt für heutige Problembewältigung allgemein) nach Belieben und je nach Interesse gewechselt, so dass sich nie nicht die gewollte Sicht ergibt und der sprechende Vergleich sich einstellt. Drittes Paradoxon – wo alles möglich ist, tritt unweigerlich das Patt ein. – Neue Terrorgefahr: Selbstmordattentäter lassen sich Bomben implantieren, die von den heute verwendeten Detektoren nicht ausgemacht werden können. Gegenmaßnahme: Sämtliche Flugpassagiere müssen vor Reiseantritt durch den Magnetresonanztunnel gefahren werden. Das Verfahren würde für jeden Passagier mindestens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen und wäre so kostenaufwendig, dass außer Spitzendiplomaten und Spitzenmanagern kaum noch jemand einchecken würde. Dreht man die Optik in den grünen Bereich, so ließe sich damit die Luftverschmutzung durch den Flugverkehr auf ein umweltfreundliches Minimum reduzieren und … aber Hunderttausende von Flugangestellten müssten weltweit entlassen werden. Usf.

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