13. August

Im Sommerprogramm von 3sat-TV wird eine Kultursendung über die Kykladen ausgestrahlt. Als Leitfaden dient ein oftmals durch schöne Panoramafahrten unterbrochenes Gespräch mit einem griechisch-orthodoxen Geistlichen, der sonst völlig allein in einem kleinen Kloster mit weißgetünchtem Glockenturm lebt. Das mehrstufige, mit schmalen Terrassen und Treppen versehene Gebäude scheint in den Klippen zu hängen, sieht aus wie eine miniaturisierte Kopie des gewaltigen Klosterkomplexes am Athos. Der Geistliche bestreitet hier sein karges, durch manche Rituale streng geregeltes Eremitendasein, er hält seine Gebets- und Meditationszeiten ein, läutet regelmäßig seine drei Glocken, ernährt sich aus seinem Gemüse- und Kräutergarten, überwacht seine beiden Geißen, beobachtet die Tauben, die Wolken, die Möwen, die Sterne und ist in seiner Steilwand ständig von Steinschlägen bedroht. »Ein Wunder«, sagt er, »dass hier noch keiner getroffen worden ist.« Keiner? Das kann eigentlich nur er selbst sein. Ein Wunder! Kann denn aber, was nicht eintritt, ein Wunder sein? Schwer auszumachen, wer da eben gemeckert hat – der Eremit oder seine Lieblingsziege? – Hadern und Zaudern bei enormer Hitze, täglich gibt’s hier um die dreiunddreißig Grad, nachts bleibt das Thermometer deutlich über zwanzig Grad, was mir viel zu heiß ist, mich aber körperlich einigermaßen stabilisiert – keine Migräne, keine sonstigen Krämpfe, dafür aber Antriebslosigkeit tagsüber, Anfälle von Schläfrigkeit und Zerknirschung. Viele Gratulationen zum Basler Lyrikpreis, auch Rainer Goetz, mein ehemaliger Lektor bei Droschl, meldet sich. Habe heute die Abbildungsvorlagen zu ›Alias‹ an MSB geschickt; will meine russische Anthologie nun bei Reclam anbieten. – Kontrolluntersuchung beim Augenarzt, alles in Ordnung, die Sehkraft ist offenbar besser als noch vor drei Jahren. Den Verkauf meines Elternhauses in R. übernimmt eine Immobilienfirma, die in jener Gegend angeblich erfolgreich zugange ist. Der Tag heute steigert sich hier vor Ort zu einem der heißesten aller Zeiten – aller Zeiten, das heißt entweder »seit Menschengedenken« oder »seit Beginn der offiziellen Messungen«. Abends mit Gerty und Mille Fellmann zum frugalen Mahl, schönes Gespräch, wir tauschen unsre Basler Kindheitserinnerungen, entdecken die eine und andere gemeinsame Bekanntschaft in der Schulzeit, beraten über unsere allfälligen bibliothekarischen Nachlässe – dazu gehören bei Mille Fellmann Erstausgaben von Newton, Euler, Goldbach, Leibniz, bei mir solche von Dostojewskij, Tolstoj, Rosanow, Majakowskij, Mandelstam, Anna Achmatowa. Weit auseinander liegende Interessen! Also kann man sich auf Wesentlicheres konzentrieren. – Jürg Amann, schreibender Kollege in Zürich, publiziert mit Vorliebe Kompilate aus Texten anderer Autoren. Unter seinem eigenen Namen hat er beispielsweise die Aufzeichnungen des Auschwitzkommandanten Rudolf Höss und das Leben Jesu als gekürzte Nachschriften in Ichform vorgelegt. Dabei handelt es sich nun also nicht um Zusammenfassungen oder Variationen, sondern um weitgehend unveränderte, übergangslos aufgereihte Textauszüge. Das Schreiben beschränkt sich in diesen Fällen auf die Geste des Durchstreichens beziehungsweise des Unterstreichens in jeweils vorgegebenen Fremdtexten. Durchgestrichenes entfällt, Unterstrichenes bleibt bestehen und bildet nun einen neuen und eigenständigen Text. Neu? Eigenständig? Das Verfahren entspricht im Wesentlichen dem eines Zensors, der politisch oder moralisch anstößige Texte durch willkürliche Schwärzungen säubert und begradigt. Dass Zensor und Literat in ihrem Geschäft zusammenfinden, ist zwar ungewöhnlich, kann aber als eine mögliche Konsequenz elektronischer Texterzeugung durch Cut-and-paste begriffen werden. Die ursprüngliche Funktion von Autorschaft als Mehrung, Erweiterung, Neuerung wird damit in ihr Gegenteil verkehrt – der Autor ist nun der, welcher durch Minderung, Kürzung, Bereinigung Fremdtexte fragmentiert und eben dadurch seinen »eigenen« Text als ambivalentes »Original« in Stellung bringt. Wenn Amann unter seinem Namen in Ichform als Höss oder Jesus spricht, markiert er allein damit eine Distanz, die seine Identifikation mit der jeweiligen Referenzfigur verunmöglicht und sein quasidokumentarisches Abschreibverfahren als eine subtile Technik der Fiktionalisierung ausweist. – Endlich wieder einmal Regen, über Nacht ist die Temperatur um zwölf Grad gesunken, mit einem neuen Wohligkeitsgefühl bin ich bei Tagesanbruch aufgewacht, war schon um halb sieben beim Dorfbäcker, der sich über den abrupten Wetterwechsel beklagt – sobald das ofenfrische Brot bei dieser Feuchtigkeit Zimmertemperatur annimmt, verschwindet der Knuspereffekt, die Rinde wird ledrig, das luftige Innere sackt zusammen. Der Morgen entwickelt sich ungut zu einem aschgrauen, geradezu endzeitlichen Tag mit wehenden Regenschauern, fernem Donnergrollen, leicht fauligem Geruch. Die Welt bleibt schattenlos oder … oder die Welt selbst ist der einzige verbliebene Schatten. Aus den triefenden Bäumen und Sträuchern fallen die ersten rostigen Blätter herab. – Heute in der Vadiana mit Cornel Dora Einrichtung meiner Ausstellung zum Prager Frühling – Fotos, signierte Erstausgaben der Jahre 1967 bis 1971, Zeitschriften, Plakate; der Katalog ist bereits da, morgen findet die Vernissage statt.

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