29. August

Wach um sechs. Fast noch Nacht. Die Dämmerung beginnt sich zu heben, lässt allmählich den Tag durchscheinen, der Morgen steigt aus dem tiefliegenden, wie Gaze ausgebreiteten Dunst. Ich absolviere meine kleine Runde zum Friedhof, von dort zur Bäckerei und durch den Klosterhof zurück nach Haus. Es herbstelt merklich. Der Sommer ist abgebrannt, die schwindende Hitze wird kompensiert … scheint kompensiert zu werden durch die nun zunehmende Wärme der Farben – das üppige Grün schlafft ab, nimmt gelbe, braune, rote Töne an … sieht aus, als würde es ganz langsam mit einer feinen Rostschicht überzogen. Doch das ist erst der Anfang des großen Übergangs in den Verfall – noch ist vieles zu ernten, die Reben strotzen, sind aber weiterhin auf Wärme und Trockenheit angewiesen, der Herbst kann plötzlich Schluss machen damit, er kann aber auch dauern und sein gewichtsloses Gold in der Runde spendieren. – Nach vielen Jahren, vielleicht Jahrzehnten komme ich auf Hans Erich Nossack zurück, der mich in meiner Frühzeit stark beeindruckt, vermutlich auch geprägt hat mit seinen seltsam verrätselten Geschichten und Romanen, die mehrheitlich ins »Unversicherbare« führen, utopisch perspektiviert sind oder zum Apokalyptischen tendieren. Ich hielt Nossack damals für den einzigen adäquaten Nachfolger Franz Kafkas, mit dem er, wie ich fand, die Fähigkeit teilte, große Themen und Probleme (Schicksal, Schuld, Vergeltung, Tod usf.) mit parabelhafter Prägnanz und … aber in schlichter, bisweilen fast kolloquialer Sprache auszuführen. Heute kommt mir sein Erzählen (ich lese ›Die Begnadigung‹, ›Das Mal‹, ›Ameisen! Ameisen!‹, ›Der Neugierige‹ usf.) etwas altväterlich vor, aber noch immer bin ich eingenommen von der sorgfältigen, oft überraschenden Handlungs- und Gedankenführung, die immer wieder staunenswerte Einsichten eröffnet und in eigensinnige Formulierungen mündet, die manches zu denken geben, und mehr als das – sie regen an zum Weiterdenken … zum Selbstdenken: »Sie haben, Madame, etwas gesehen, was ich nicht bin, aber was ich sein könnte und darum sein müsste.« – »Es war nicht das richtige Wort, ich weiß. Ich habe es an deiner Stirn gesehen; an diesen Falten da. Woher soll ich die richtigen Worte kennen?« – »Durch die Kritik, die sein Anderssein an mir übte, obwohl das nicht seine Absicht war, durch die Beschämung, die ich deswegen empfand, und die Abwehr, die ich notgedrungen ergreifen musste, bekam ich mich wieder in die Hand.« – Auch ich fühle mich dem Kreis jener Wenigen zugehörig, die außerhalb des Kreises der Vielen kauern und … und die flüstern, zischen, murmeln, reimen, was drüben keiner hören mag: »Doch immer«, schreibt Nossack, »sind da auch ein paar ganz Widerspenstige. Sie bleiben zornig am Rand des Kreises hocken, die Schlinge um den Hals, und erheben Geschrei. Wie Hunde den Mond anheulen, und der Mond hört sie nicht, so schreien diese nach außen, wo niemand sie hört.« Was mich nachträglich am meisten erstaunt – ich habe diese Prosa (und manches andere von Hans Erich Nossack) im Alter von neunzehn, zwanzig Jahren gelesen; hier auf dem Tisch liegt der Auswahlband ›Begegnung im Vorraum‹, datiert von 1963, signiert vom Autor nach einer Lesung in Basel. Ich war damals Studienanfänger an der Universität, belegte Allgemeine Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie, Germanistik; unter den zeitgenössischen Autoren schätzte ich, neben Nossack, besonders Günter Eich, Ilse Aichinger, Paul Celan. Möchte ich … sollte ich wissen, was Zwanzigjährige heute mit besonderem Interesse, vielleicht gar mit Begeisterung lesen? – Ich bin eingeladen zu einer theatralischen Improvisation, die bereits in der Presse und auf Plakaten annonciert ist, sage meine Teilnahme zu, bespreche mich mit dem Regisseur, der als mein wichtigster Partner ebenfalls auf der Bühne sein wird. Es gibt umfangreiche Vorbereitungen, Beleuchtungsproben usf., bis ich unmittelbar vor der Premiere erfahre, dass der Auftritt in schweizermittelländischem Dialekt stattfinden soll, was mich sofort in Rage bringt: Der Dialekt – meine Muttersprache – ist mir längst völlig fremd … ist mir fast schon verhasst geworden in seiner Schludrigkeit, seiner rechthaberischen Intonation, seiner Impertinenz gegenüber Anderssprachigen bei gleichzeitiger kritikloser Übernahme fremdsprachiger Versatzstücke. Also verweigere ich meine Teilnahme an der Veranstaltung, schimpfe in meinem altväterlichen Hochdeutsch mit den Theaterleuten herum, derweil bereits das Publikum in den Saal strömt – lauter junge Leute in T-Shirts mit aufgedruckten Smileys, Hakenkreuzen, Popikonen oder englischen Werbesprüchen in kyrillischen Schriftzeichen. Nur in Fremdsprachen (wozu auch das Deutsche gehört) fühle ich mich einigermaßen zu Hause.

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