30. August

Nach dunstigem Tagesanbruch – graue Strähnen hängen an Büschen und Hecken – steigt die Wärme rasch, wird gegen Mittag zur Hitze und lastet bis in den Abend. Belastet mich. Macht müde. Bemühe mich vergeblich um Konzentration und merke plötzlich – ich konzentriere mich auf den hochkommenden Schmerz, den sich vorbereitenden Krampf. Doch der Krampf kommt ganz unvorbereitet, es ist das immer gleiche, langsam sich intensivierende Walken hinter der Stirn und unter dem Magen, das wehenartig drängt. Bin zu spät mit den Medikamenten, es nimmt seinen Lauf, es dauert wie üblich … es dauert diesmal länger als üblich – bald werden es fünf Stunden gewesen sein. Noch ein Tag im späten August. – Und noch eine traumstarke Nacht. In jüngster Zeit setzt sich in meinen Träumen eine neuartige Dramaturgie mit ungewohnter Besetzung durch: Statt niedrigen, von fremden Menschen besetzten Innenräumen dominieren nun nach oben offene weitläufige Welten (heute eine voll erleuchtete chinesische Metropole, gestern eine von Ungeziefer sirrende Steppe); statt gesichts- und namenlosen Komparsen – klar erkennbare Protagonisten aus meiner nächsten Umgebung, auch aus ferneren Zeiten (heute Božena Kebrlová, James Haefely, Claire Brambach, Felix Bosonnet). Woher, wozu dieser auffallende Wandel? Holt mich der Traum ins Freie? Soll ich … darf ich mich unter lauter Bekannten verlieren? – Merkwürdiges Wechselspiel zwischen Erinnern und Vergessen! Ich kann’s beispielhaft beobachten bei meinem täglichen TV- und DVD-Konsum, wenn ich mir alte Filme anschaue. Auch wenn ich in vielen Fällen positiv weiß, dass ich die Filme vor zwei oder vor zwanzig Jahren bereits gesehen habe, braucht es oft sehr lange, bis sich der Wiedererkennungseffekt einstellt. Meistens sehe ich die Filme wie zum ersten Mal, habe keine Ahnung mehr vom Handlungsverlauf, kann mich an die Schauspieler, die Szenen, die Dialoge überhaupt nicht erinnern – bis irgendein Detail auftaucht, das den Aha!-Effekt auslöst und mir die ganze Geschichte wieder vergegenwärtigt. Oft handelt es sich bei solchen Details um völlig unbedeutende, für den Plot irrelevante Gegenstände oder Kameraeinstellungen – Blick aus einem Fenster in den herbstlichen Garten mit herumliegendem Kinderspielzeug; Blick aus dem fahrenden Auto in eine flach vorüberziehende Landschaft; Blick in eine U-Bahnstation, ein Schlafzimmer, eine unaufgeräumte Küche. Aber auch: Schmerzsituationen … stumme Szenen, in denen Schmerz zugefügt wird, Momente der Gewalt, die dramaturgisch ohne Bedeutung, als Bilder aber einprägsam sind und unvergesslich bleiben; so bei Ingmar Bergman (›Schlangenei‹), der die Erstürmung eines jüdischen Kabaretts in Berlin durch einen Polizeitrupp zeigt, bei der einer der Schergen den Besitzer des Lokals bei den Haaren packt und ihm das Gesicht an der Tischkante zerschlägt – man hört das Knacken der Knochen und Zähne und wird sich … ich werde mich daran immer wieder erinnern. – Im Zusammenhang mit Lew Schestow komme ich, unvermeidlich, auf Benjamin Fondane zurück, dessen Erinnerungen und Briefe an den Exilrussen in biografischer wie in philosophischer Hinsicht bedeutsam sind. Ich hatte Fondane schon in meiner frühen Studienzeit für mich entdeckt, kannte aber bis vor kurzem nur sein schmales fulminantes Buch über Arthur Rimbaud und seinen ›Falschen Traktat über Ästhetik‹. Dass er auch ein bemerkenswerter Dichter war, sehe ich erst jetzt, da ich die jüngsten Nachdrucke seiner Poesiebände unter der Hand habe und hin und wieder eine Strophe übersetze. Hier drei Texte aus einer längeren Sequenz: (I) Ich sehe etwas ohne Gesicht
im Dunkel wo ich mich rege
meine Zunge kann’s nicht sagen
mein Ohr verschweigt es nicht.

(II) Finsternis! Du hast gesiegt
ich will mit diesen Vögeln reden
in der Sprache der Unschuld
weißer als der Schnee aus Nord.

(III) Nie wieder hatte ich die Erde gesehn
– wer drängte mich zum Reisen?
Mich riefen die Lebenden, die Toten
ich konnte sie nicht unterscheiden.
Es gab so viele Gesichter
und die Länder schliefen im Stehn –
Erde, immer noch mehr Erde
– niemals hatte ich genug davon!

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