2. September

Also: »Das Geschriebene, ein Verbrauchsgut. Gedrucktes hergestellt, schnell verbraucht, damit Neues hergestellt werde. Das Schreiben: Futter für die Neuigkeiten-Maschine; Buch, eine Ware wie andere. Auf einmal sollte das Schreiben ein Umsatz sein; Ruhm wurde jetzt nach dem Umsatz bemessen. Auf einmal fühlten sich die Schreiber zum Immerschreiben gezwungen, eine Sklaverei ohnegleichen … Das Neue ist immer das Bessere, neu ist gut, neu ist unerlässlich, wer wird zurücklesen, wer wird etwas zum zweiten Mal lesen. So dass das Schwächere den größeren Ruhm macht, und das heißt in der Sprache der Neuzeit: den größeren Umsatz … Wichtiger als alles: recht oft auf dem Bildschirm erscheinen und das auch noch für eine Pflicht halten … Sich in recht vielen Mündern wälzen.« Das ist nicht von mir … das könnte (nicht vom Stil, nur von der Aussage her) von mir sein, ist aber von Erhart Kästner und wurde vor einem halben Jahrhundert notiert. Seither ist Literatur als Sprach-, als Erzählkunst vollends zur Ausnahme geworden, gilt als elitär, wird nur noch am Rand oder außerhalb des Betriebs von vereinzelten Autoren praktiziert. Auch das ist in Ordnung. Ich selbst bin noch so froh, auf den Großteil heutiger Literaturproduktion verzichten zu können in der Gewissheit, dass ich nicht zu lesen brauche, was ich bereits verstanden habe, und mit dem Privileg, mich auf das Wenige zu beschränken, was mich angehen und anregen (oder auch aufhalten) könnte. Was? Wer? Zum Beispiel – um bei den Zeitgenossen zu bleiben – Pierre Michon; Magdalena Tulli; Robert Kelly; Christoph Ransmayr; Roger Munier; Jonathan Littell. »Was fehlt«, ich knüpfe noch einmal bei Kästner an und schließe damit meine unzeitgemäße Klage, »ist Einübung in ein Verlieren, wie man es noch niemals gekannt hat. Was fehlt, ist Begreifen, dass wir uns einließen mit einer Großmacht und Weltmacht, mit der Herstellung, und dass die nicht sein kann ohne eine andere Großmacht und Weltmacht, die Verbrauch heißt. Welt-Müll. Da denkt man immer noch, die seien gute Haustiere, zähmbar. Es wird gut sein, sich einzuüben in ein Verlieren für immer.« – Ich habe bei Henning Helbling einen Beitrag für die Rubrik ›Bilder und Weiten‹ über Malewitsch eingereicht. Nun sitzen wir – er hat mich herzitiert – in seinem Büro und prüfen gemeinsam jeden Satz, verifizieren die Quellenangaben, begutachten die Reprovorlagen. Helbling kichert unentwegt, um mir bewusst zu machen, wie ernst er die Sache nimmt und wie sehr ihm an der Publikation gelegen ist. Zwischendurch – jetzt – hält er seine übergroße, auffallend schön geformte Hand vors Gesicht und flüstert durch die schlanken, leicht gespreizten Finger, er könne meine Abhandlung nicht in der Beilage bringen, Frau Lowenstern und Frau Williger hätten sich dagegen ausgesprochen, der Text werde nun halt – Helbling lässt die Hand sinken und kichert schon wieder – am Mittwoch im Tagesfeuilleton erscheinen, müsse allerdings massiv gekürzt werden. Wo sind denn aber die Originale? Die großartigen Zeichnungen und Aquarelle aus der Frühzeit Malewitschs! Da muss ich nun selbst noch einmal recherchieren. Steige mit aufgesetzter Stirnlampe auf den Dachboden, treffe schon bald auf den jungen, noch immer von seiner Krankheit gezeichneten Künstler, der sich hier eingerichtet hat und im Halbdunkel – nur durch ein paar Fugen in der Ziegelbedachung dringt tropfenweise Licht herein – an seinen Bildern arbeitet. Arbeiten ist nicht das richtige Wort. Eher ist es so, dass Malewitsch totenblass in seinem Sessel lehnt und mit geschlossenen Lidern seine Bilder betrachtet oder … oder jedenfalls über die Bilder wacht, die hier ausgelegt sind. Im matten Schein meiner Stirnlampe sieht die Szene aus wie jene von David mit dem toten Marat in der Badewanne. Kasimir Malewitsch hat seine Leinwände nicht auf Keilrahmen gespannt, sondern sorgsam um dicke Walzen aus Wachs oder Unschlitt oder Paraffin gelegt. Soweit ich’s erkennen kann, sind auf den Walzen lauter Gesichter aufgetragen, und all diese Gesichter tragen unverkennbar meine Züge, auch wenn ihre Münder mit faserigen blauen Flicken zugenäht sind. Ich höre hinter mir ein Kichern, wende mich um, der Lampenschein fällt auf einen alten Schrank, in dessen offenstehender Spiegeltür ich mich in leicht gebückter Gestalt sehen kann – ich bin für den Auftritt bereit und folge Helblings Kichern durch die Kulissen bis zur Rampe. Der Saal steht schwarz und schweigt. Die Souffleuse lässt auf sich warten. – Seit vielen Jahren sehe ich mir täglich einen, manchmal auch zwei TV- oder Kinofilme an, ausschließlich vom Genre Drama, Thriller oder Krimi, ausschließlich deutschsprachige (also nicht synchronisierte) und zeitgenössische Produktionen, also keine Kostümfilme, keine Komödien, nichts Historisches, kaum Klassiker. Mich interessieren keineswegs die Stoffe; bei der meist banalen, oft schwach inszenierten Handlung halte ich mich nicht auf, kann sie mir auch gar nicht merken – beobachte einzig die Schauspieler, immer wieder dieselben Schauspieler und Schauspielerinnen in immer wieder andern kleinen Szenen oder großen Rollen. Hose, Rock, Hemd, Mantel überziehen; stehend frühstücken; das Haus verlassen, das Auto besteigen; zum Büro, zum Rendezvous, zum Tatort fahren; laufen, stolpern, Treppe steigen, duschen; auf die Uhr, auf die Wolken, in den Garten des Nachbarn schauen; sich zunicken, zuwinken, zuzwinkern, zulächeln; herumtoben, sich anschreien, sich anschweigen, weinen, Scheiße oder Gott sagen; flirten, anmachen, Sex haben; telefonieren, fragen, loben, lügen, schmeicheln; Gegenstände anfassen, betrachten, verschieben, wegschmeißen, verstecken, zerstören; husten, gähnen, kichern (Götz George!), flüstern, blödeln; Krawatte, Bluse, Jeans, Schuhe, Strumpfhose, Slip ausziehen; sich auf die Tisch- oder Bettkante setzen, sich hinlegen, sich im Bett wälzen, die Decke übern Kopf ziehn oder sie wegstrampeln; beim Aufwachen nach dem Partner greifen, das Fehlen der Partnerin bemerken, nochmals aufstehen, zum Kühlschrank gehen usf. Lauter Alltäglichkeiten, wie sie im sogenannten realen Leben ebenfalls vorkommen, hier aber nun gespielt werden, hundertfach, zumeist ziemlich wegwerfend, routinemäßig, vermutlich so, als bewegte man sich …

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