8. Oktober

In der NZZ (Beilage »Literatur und Kunst«) lässt auf anderthalb Seiten László Földényi seinen Freund und Kollegen Péter Nádas hochleben. Es geht, wie denn anders, um dessen angebliches Jahrhundertwerk ›Parallelgeschichten‹, einen siebzehnhundertvierundzwanzig Seiten starken Roman, der in Deutschland nach einhellig positiver, teilweise enthusiastischer Rezeption zu einem saisonalen Erfolg geworden ist und zur Zeit in diverse Fremdsprachen übersetzt wird. Földényi gibt an (oder bekennt), er habe das Buch bereits dreimal gelesen, und mehr als das – er habe es jedes Mal wieder anders und deshalb mit umso größerem Gewinn gelesen. Insgesamt also weit über fünftausend Seiten – eine solche Lektüre aufzunehmen, sie kritisch zu bedenken und zu kommentieren, ist ein intellektueller und lebenszeitlicher Einsatz, den heute kaum noch jemand zu erbringen vermag. Földényi tut’s, doch die Lesefrüchte, die sein Großeinsatz ihm wie uns beschert, hätten vermutlich auch mit minderem Aufwand gewonnen werden können. Ich selbst muss gestehen, dass ich trotz mehreren Anläufen und trotz meiner langjährigen Devise, kein Buch vor abgeschlossener Lektüre wegzulegen, über Seite achthundertzweiundsiebzig und zwei, drei vorgeblätterte Kapitel aus dem Schlussteil nicht hinausgekommen bin. Ich bin ein toleranter, grundsätzlich interessierter und ziemlich kompetenter Leser, der keineswegs auf Spannung, aktuelle Thematik oder gar Tabubrüche angewiesen ist, um einen Text nicht langweilig, nicht überflüssig zu finden. Was ich – mit Verlaub – gelesen habe, ist ein offenkundig pornografischer Fließtext, der in der Darstellung ebenso krud wie in der stilistischen Ausarbeitung diskret und schlicht ist. Nádas schreibt eine geschmeidige, durchweg konventionelle Prosa, die sich mehrheitlich als Beschreibung von alltagsweltlichen Sachverhalten und sexuellen Praktiken bewährt, der aber die entwerfende dynamische Einbildungskraft weitgehend fehlt. Die deutsche Kritik hat jeglichen Pornografieverdacht gegenüber dem Autor gleich vorsorglich abgewiesen, hat statt dessen auf den angeblich rezenten historischen Hintergrund und die politische Relevanz des Plots verwiesen, der die ›Parallelgeschichten‹ zu einem Erzählwerk und einem Zeitzeugnis von epochalem Rang mache. Was hier verdrängt wird, nämlich gerade der militante Pornografismus der Nádas’schen Prosa, ist das eigentlich Epochale daran – die rund einhundert Seiten umfassende detailscharfe Beschreibung einer schier unaufhörlichen orgiastischen Vereinigung von Frau und Mann ist eine singuläre literarische Meisterleistung, die als solche, herausgelöst aus dem Gesamtkontext des Romans, bestehen und auch genügen könnte. Die politische und historische Dimension des Werkganzen ist mir, wie ich nach vorzeitig abgebrochener Lektüre zugeben muss, weitgehend verborgen geblieben, und wenn ich sie gleichwohl da und dort wahrnehme, wirkt sie auf mich eher als Verbrämung denn als integraler Erzählraum. Gelegentliche Vermerke und Hinweise auf geschichtliche Ereignisse vermögen die ›Parallelgeschichten‹ jedenfalls nicht als Panoramadarstellung des 20. Jahrhunderts auszuweisen, so wie das zahllose Allerweltspersonal, eine Mischung aus Familienclan und namhaften Zeitgestalten, nie in eine eigens perspektivierte Aufstellung gebracht wird, die repräsentativ zu nennen wäre. Gegenüber dem Dreifachleser Földényi fehlt mir eingestandenermaßen die Kompetenz, das Werk gesamthaft zu beurteilen oder gar zu kritisieren. Doch darum geht es mir nicht. Auch würde ich sagen, dass das, was der Laudator zu sagen hat, auch ohne mehrfache Lektüre zu sagen gewesen wäre. Tatsächlich geht er, wie in heutiger Literaturkritik üblich, auf den Text als Sprachwerk nicht ein, er resümiert knapp den Inhalt, erwähnt einige der handelnden Personen und geht dann rasch dazu über, das Werk in einen weltliterarischen Zusammenhang zu versetzen, den er anscheinend speziell dafür abgesteckt hat. Die ›Parallelgeschichten‹ werden damit faktisch der kritischen Lektüre entzogen, evidente Schwächen sind als bewusste Kunstgriffe legitimiert, und ich als interessierter Leser soll mich im Weitern mit den Behauptungen und Vermutungen und hochgemuten Vergleichen Földényis begnügen, der mir weismacht, dass bei Nádas »die dunklen Abgründe der Aborte« als »Abgründe der Kultur« zu gelten haben und dass in jenen Tiefen, wo »alle zivilisatorischen Hüllen fallen, der Mensch des Erlebnisses des Heiligen teilhaftig wird«. Das ist eine etwas leichtfertige, aber ganz und gar ernst gemeinte Anspielung auf Georges Bataille, der man folgen kann, aber nicht folgen muss, um Hunderte von Seiten äußerst präziser, alle Sinne umgreifender Vergegenwärtigung menschlicher Leiblichkeit und Sexualität zu verstehen. Dass ich Kristóf, wenn er von seinen schwulen Kumpanen in den Armen gehalten wird, als Christusfigur und das ganze heruntergekommene Trio als eine Pietà erkennen soll, will mir nicht einleuchten, auch wenn ich Földényi gern zugestehe, dass man eine derartige Assoziation haben kann, obwohl der Kontext eher dagegen spricht. Wenn der wohlmeinende Kritiker die ›Parallelgeschichten‹ dann auch noch dezidiert und weit ausholend mit der mittelalterlichen Großepik, mit Dante Alighieris ›Göttlicher Komödie‹ und, nicht ganz unerwartet, mit Honoré de Balzacs ›Menschlicher Komödie‹ in einen gemeinsamen Kontext versetzt, darf dieses Gegenwartswerk doch eigentlich bereits als kanonisiert gelten? Und wenn er schließlich zum Fazit kommt, dass Nádas’ Roman »ungefähr so« wie das Leben und das Leben »ungefähr so« wie der Roman »funktioniert«, dann sitzt er definitiv in der Realismusfalle fest und … und ich bin definitiv außen vor. – Der Herbst bestätigt heute seine Herrlichkeit durch Entsprechung – der gemeinsame Anlaut Her-Her steht dafür. Licht und Luft und Temperatur halten sich … halten einander in vollkommener, in vollkommen ausgeglichener Schwebe. Die abgefallenen Blätter bleiben nun nicht mehr feucht an den Schuhsohlen hängen, sie sind verdorrt, sehen aus wie verrostet, und sie rascheln blechern zwischen meinen Schritten. Von fern vernehme ich, mitten im Wald, das Glockengeläut aus Romainmôtier, und gleich verwandeln sich die hochragenden Stämme in gotische Säulen, ihr Geäst in Strebe- und Schwibbögen und der Wald insgesamt in eine naturhafte Kathedrale. Beim Waldausgang erwartet mich diesmal – was für ein schlagender Kontrast! – ein Dutzend braungescheckter Kühe, die ihre schweren Häupter bereits erhoben haben und nun die stumpfen Augen auf meine Wenigkeit richten. Im Hintergrund steht unter der stahlblauen Kuppel der Goldberg, der jetzt schon merklich mit Braun und Gelb gesprenkelt ist, darüber kreuzen sich drei Kondensstreifen, die langsam sich auflösend wie eine riesige qualmende Häkelei durch den Himmel segeln und …

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