12. Oktober

Gestern bei Bernhard S. in Richterswil. S. ist ein alter … ist ein mit mir alt und noch älter gewordener Freund, dem ich längst nichts mehr erklären muss – positives Wissen ist ihm egal, er hat sich gänzlich aufs Denken verlegt, auf seine Nachdenklichkeit und Langsamkeit. Hingegen lasse ich mir von ihm, dem genialischen Kunsthandwerker, Bogenschützen, Nachtwandler, immer mal wieder erläutern und demonstrieren, was jeweils grade unter seiner Hand entsteht. Diesmal ist es ein schlichter Daumenring, den er vor meinen Augen aus einem schon halb verglühten Blitzableiter schmieden wird. Das von diversen Einschlägen flambierte Teilstück hat er in einem leerstehenden Abbruchhaus gefunden, hat es in Einzelteile von unterschiedlicher Größe zertrennt, um aus dem schon vielfach gehärteten Material Schmuck- und andere Gegenstände herzustellen. Dazu verwendet er einen alten Armeeschmiedeofen, der mit einem fußbetriebenen Blasebalg bis auf anderthalbtausend Hitzegrade gebracht werden kann. Langsamkeit und Aufmerksamkeit sind unabdingbare Voraussetzung für den Schmelz- und Formungsprozess – während fast zwei Stunden sehe ich dem Schmied bei der Arbeit zu und bin am Schluss verblüfft, dass nach dem langwierigen Durchgang durch Flammen und Glut unter so schweren Händen und Hämmern ein so vollkommenes, in sich geschlossenes Objekt entstehen kann, das seine Form, sein Gewicht, seine Funktion, seine Symbolik für Jahrhunderte unverändert behalten wird. – In der nahen Stadt, im historischen Zentrum, kommt es zu einer großen Explosion, dann zu einer Feuersbrunst. Zwei alte Reihenhäuser sind völlig zerstört. Bereits sind zahlreiche Gaffer angereist, ein Busfahrer kümmert sich um deren Disziplinierung, die Ruinen können besichtigt werden wie ein archäologisches Provinzmuseum. Mit einem unabsehbaren Besucherstrom – die Leute haben Verpflegung dabei – dränge auch ich mich durch den fast völlig eingebrochenen Gebäudekomplex. Meine Wohnung ist offenbar durch ihren Fußboden in die Wohnung darunter gestürzt. Angesengte Möbel und andere Gegenstände stapeln sich zu einem Trümmerhaufen. Von mir und Krys fehlt jede Spur. Als ich aus der Ruine zurück auf die Straße komme, werden eben zwei menschliche … zwei tote Körper mit einer Motorwinde aus dem Löschwasser gezogen. Noch liegen die Leichen, kopfunter, wie große schmale Fische halbwegs im verdreckten Wasser, um ihre Flanken wogen die durchsichtig gewordenen Kleider. Wer soll denn nun, frage ich mich, meine Nachfolge regeln? Und überhaupt – wer wird mich, da auch Krys zu den Opfern gehört und nicht mehr befragt werden kann, identifizieren? – Im Moskauer Kremlbezirk ist täglich ein Double Stalins unterwegs. Pfeiferauchend hockt der Mann, in seine schlichte Uniform gepackt, auf einer Parkbank, lehnt sich an die zerbrochene Riesenglocke vor dem Großen Iwan oder schlendert nachdenklich auf und ab unter Tausenden von Blicken. »Stalin« lässt sich gern fotografieren und filmen, nimmt hin und wieder ein Kind aufs Knie, kassiert dafür hin und wieder ein Trinkgeld, erweckt bei den Touristen durchweg Heiterkeit, wenn nicht Begeisterung.

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