3. November

[weiter:] »Anknüpfen wo auch immer! Und zwar spontan, und zwar mit Köpfchen. Das ist meine ganze Kunst. Dass es dabei zu Übertreibungen kommen kann, liegt doch auf der Hand, aber nur so lässt sich die lästige Wahrheit umgehn, die ohnehin niemand wissen will. Ohnehin sind Lüge und Fake die klügern Wahrheiten, und womit denn sonst sollte ich mein Publikum unterhalten! Allerdings gibt’s für mich auch noch anderes im Leben als das Wahrmachen von Schwindeleien und das Provozieren von Lachern. Aber was denn eigentlich? Das Fragen ist meine Sache nicht. Als Unterhalter darf ich außer dummen Fragen oder Fragen an mich selbst keine Fragen stellen. Das Publikum erwartet Antworten von mir, Dreistigkeit und Trost, dafür bezahlt es ja auch. Nur eben keine Fragen, nichts Ernstgemeintes, nichts Unwiderlegbares. Schein und Trug gehn vor, sie haben das Gewinnende, das allem Wesentlichen fehlt. Die meisten meiner Leute geben sich mit Wünschen und Vorstellungen zufrieden, nur ganz wenige werden zu Serienmördern oder kommen in die Psychiatrie. Und das Erstaunliche ist, dass sich keiner über den alltäglichen Horror beschwert, die stickige Luft im Wartesaal, die stinkenden Pelze im Flur, die obszönen Graffiti an der Südnordwand, die ständig juckenden Lichthasen in der Stoa oder (im Hochsommer) die quietschenden Straßenbahnschienen. Milch oder Mädchen? Egal doch, Milchmädchen ist Label genug. Alice, Belice, Celice … Ja. Doch. Aber gleich beginnt nun meine Show«, sagt der Master, und schon schlägt ihm – er hat noch nicht mal das Studio betreten – der nie nicht verdiente Applaus entgegen. – Gegen Mittag meldet sich noch einmal der Altweibersommer, doch diese Wärme ist schöner … ist viel schöner, weil sie aus der Kälte kommt. Gut zwanzig Grad Temperaturunterschied seit gestern, ein veritabler Sturz nach oben! Ich hole das Auto von meinem Standplatz in Envy, fahre mit offenem Dach über Vaulion hierher nach Le Pont. Cabrio fahren, die einzige Affinität, die ich mit Thomas Bernhard teile, ein Vergnügen, das ich mir in dieser abgelegenen Weltgegend mit den schmalen, kurvenreichen, kaum befahrenen Straßen gerne gönne, sobald das Thermometer – wie jetzt – auf achtzehn, neunzehn Grad steht. Der See liegt als flimmerndes Amulett im gekrümmten Hochtal von Joux, das Wasser unter der lauen Luft ist leicht gekräuselt, sieht aus, als wär’s kurz vorm Aufkochen. Nun sind wir bereits bei einundzwanzig Grad, ich bestelle mir einen Seefisch mit gekochten Karotten und Kartoffelpüree, bleibe bis gegen sechzehn Uhr beim Rosé Gamay, notiere dies und anderes auf den letzten Seiten meines Hefts. (Muss mir bald ein neues besorgen.) Schreibe weiter, bis es plötzlich und doch kaum merklich zu nieseln, dann zu regnen beginnt – mir ist völlig entgangen, dass sich der Himmel inzwischen mit einer miesen Grisaille überzogen hat und nun aus Südwesten eine diffuse Gewitterfront aufzieht. Ich zahle, haste zum Auto, das Armaturenbrett, die Sitze sind bestäubt vom feinen Regen, ich schließe das Faltdach. Schon auf der Talfahrt nach Vaulion holt mich wieder die Migräne ein, bei der Ankunft in Romainmôtier prasselt heftiger Regen durch die Gassen. Die Dachrinne überm Hauseingang ist offenbar vom Herbstlaub verstopft, das Wasser klatscht wie aus Kübeln herab. Nur hinein jetzt, und gleich der Griff zum Medikament, dann Feuer gemacht; doch der Kamin zieht heute nicht. – Noch eine Reminiszenz an E. M. Cioran. Wo er keinen Grund zur Anklage oder gar zur Klage hat, ist er nicht besonders gesprächig. Einfach über etwas zu berichten, etwas zu beschreiben fällt ihm schwer, am schwersten lastet auf ihm, das war mein Eindruck nach jedem Gespräch, die Erinnerung, er entzieht sich ihr durch lyrischen Zynismus und blendende, also blind machende Ironie. Fragen, auch etwas speziellere, auch persönliche Fragen beantwortet er, ruhig und desinteressiert, mit Sätzen, die er fast wörtlich in seinen Büchern stehen hat. Er scheint, nach einem Blick auf mein Vierfünftelprofil, in mir einen Juden zu vermuten, gibt sich zerknirscht über seine Jugendsünden, lobt schuldbewusst seine weniger glücklichen Landsleute Benjamin Fondane und Ghérasim Luca, spricht mit zärtlicher Missgunst vom alten Ceronetti, der auf rheumatischen Knien unter diesen Tisch – da! – gekrochen sei, um die Jeans seiner blutjungen Geliebten im Schritt zu beschnüffeln. Doch nun bestellt Cioran bei seiner Haushälterin mit einem knappen Kopfnicken das Abendbrot für sich und den Gast. Der alte Mann kommt mir viel leichter, viel gebrechlicher vor, als die Bilder ihn zeigen, mit seinem Löwenhaupt, mit der voluminösen Mähne; er ist jungen- und mädchenhaft zugleich, das Erstaunlichste, das Vergänglichste an ihm wird seine Stimme gewesen sein – sie klingt nicht, sie verlautet nur, und dennoch bleibt sie haften. Am meisten beneide er seine Kollegen Henri Michaux und Maurice Blanchot, sagt Cioran später beim Grüntee, sie allein hätten es geschafft, dass man sich von ihnen kein Bild machen könne, nur zwei, drei Fotos von den beiden seien in Umlauf gekommen, »und auf allen sehn sie genau so aus, wie niemand sie gekannt hat«. – Mit Krys zu Fuß durchs flache Gelände von Praël Richtung Croy, vorm Dorfrand nach rechts in weiter Kurve durch den Wald, dann eine halbe Stunde weiter auf dem Höhenweg, der genau über den Scheitel des prallen Hügels führt und die Sicht über den See zu den Alpen hin freigibt. Das heute grau verhängte Panorama reicht von Genf im Westen über das Massiv des Montblanc bis in die Zentralschweiz, ist aber nur ausschnittweise überblickbar. Auf einer Bank – daneben ein urtümlicher, von Moos überzogener Findling mit aufgeschraubtem, in Latein und Französisch graviertem Informationsschild – berichtet mir Krys von einem neuen Theaterprojekt, das dem Verschwinden gewidmet sein soll … dem unerklärten und nicht erklärbaren Verschwinden von Menschen aus ihrer Lebens- und Arbeitswelt, wie es täglich vielfach vorkommt und wozu es tonnenweise Polizeiakten gibt. Verschwinden! Ich verschwinde, du verschwindest, er verschwindet, wir alle verschwinden – wo ist das Problem? Und was daran ist theatralisch? Wir geraten ins Debattieren. Das Gespräch geht beim Abstieg nach Envy weiter und dauert fort, bis wir zu Hause sind. Also was war das nun – ein Spaziergang? Eine Arbeitssitzung? Tatsache ist, dass man mit vier Augen nicht doppelt so viel sieht wie mit zweien, ja, nein, man sieht ziemlich exakt halb so viel. Und das ist wenig genug im Vergleich mit dem, was ich zu sehen und zu hören bekomme, wenn ich allein unterwegs bin und nur mit mir selbst rede. – Ein trostloser Novembersonntagmorgen ist das heute! Alles mit Grau zugemalt, von langsam – wie in Zeitlupe – wehenden Rauch- und Nebelschwaden überstrichen. Selbst der Himmel ist … der Himmel scheint für immer asphaltiert zu sein. Das Licht ist grau, die Stimmung ist grau, die dumpfen Schlagschatten sind grau; graue Aussichten. Nur da und dort ein geparkter PKW in den verwinkelten Straßen am Zürichberg. Bin zu Fuß unterwegs zu Büchners Grab beim Rigiblick. Der Eindruck von Grau wird verstärkt durch die seltsame Leere, in der ich mich bewege – es sind keine Geräusche zu vernehmen, es sind keine Menschen zu sehn, alles scheint eingestellt zu sein, scheint gestundet, verlassen, vergessen, auf sanfte Weise erstarrt zu sein. Der Einzige, der … das Einzige, was sich hier noch bewegt, was Geräusche und Wärme erzeugt, was einen Willen und eine Richtung zu erkennen gibt, ist … bin ich. Unterwegs durch diese gespenstische und aber irgendwie gemütliche Menschenleere … hin zum Grab! Und plötzlich ein hochfahrender heiserer Meisenschrei, gleich danach der Stundenschlag vom Kirchturm, ich bin wieder da, wo ich hingehöre und wohin ich eigentlich gar nicht wollte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00