4. November

Die freundliche tantenhafte Dame hat mich zu einer Dreierausstellung in ihre Galerie eingeladen. Die Vorbesprechung – von wegen Werbung, Hängung, Preisliste, Terminen – findet in ihrer Privatstube statt. Ich figuriere zwischen zwei jungen Künstlerinnen, wir sitzen um einen ovalen Tisch mit Klöppeldecke, reden beim Tee über alles und noch viel mehr, nicht aber über die geplante Ausstellung. Bis Robert Kopp vorbeischaut und mir anbietet, mich im Auto nach Winterthur zu fahren. Ich lehne dankend ab, da ich bereits ein Bahnticket habe und unbedingt im Zug sein will, wenn er zum ersten Mal den neu aufgeschütteten, von Calatrava verstrebten Damm befahren wird. Allerdings muss ich schon jetzt befürchten, dass ich’s nicht rechtzeitig bis zum Bahnhof, bis zur Abfahrt schaffe. Breche ziemlich abrupt auf, lasse die Damen mit kurzem Dank sitzen, werde aber in der Haustür vom Zimmermädchen aufgehalten mit der Frage, wie sich denn die Bioenergie auf den Vers von Marina Zwetajewa auswirke und wie lange noch. Auf der Schwelle halte ich dazu, derweil immer mehr Leute um uns herum stehen bleiben, meinen üblichen Vortrag, und wie immer, wenn ich auf dem Bahnsteig eintreffe, fährt mein Zug langsam und lautlos aus der dämmrigen Halle ins Freie. Wie immer ohne mich.Hinterlassenschaft! Lassen? Schaffen? Die Frage – diesseits des Testaments – ist doch, was kann ich … was werde ich von mir hinterlassen, wie und wodurch werde ich präsent bleiben? Ich als Person kann nach meinem Ableben nicht in meiner materiellen Hinterlassenschaft präsent bleiben, nicht in Wertgegenständen, Immobilien, Geldanlagen, nicht in einer Firma, auch nicht in meiner Bibliothek oder in meinem Sohn. All dies mag von mir kommen, von mir geprägt sein, mich irgendwie repräsentieren; doch anwesend bin ich darin nicht. Um nach dem eignen Verschwinden in irgendeiner Weise anwesend zu bleiben, muss ich eine authentische Spur hinterlassen; etwas »geschafft« zu haben, reicht dafür nicht aus. Kein Millionenvermögen, kein Land- und Hausbesitz, keine Erfolgsmarke, kein Qualitätslabel, kein Ehrentitel. Was dafür – zumindest als Beispiel – ausreicht, ist jener zerknüllte Handzettel, auf dem ein längst im Straflager verstorbener Häftling nur einfach notierte: »Beweis, dass ich da war. Euer N.« Was da ein Unbekannter mit krakeliger Schrift und ohne Adressierung festgehalten hat, ist ein lebendiges Zeugnis … ist eine authentische, einzigartige, unwiederholbare Lebensspur. Diese Authentizität fehlt dem Bauwerk, dem technischen Objekt, dem handwerklichen Produkt, auch dem Buch. Als Lebensspur hat die Schriftspur ihren Ursprung im Körper, sie ist dessen Hervorbringung, wird bewerkstelligt durch willentlichen Krafteinsatz und gelenkte Bewegung, durch Einsatz der Finger oder eines Stifts, eines Kiels, einer Feder. Die Schreibbewegung nimmt die Körperlichkeit des Verfassers in sich auf, den Druck und das Vorrücken der Hand, den Rhythmus des Atmens, die geistige Anspannung, die Hoffnung, den Zweifel. Ein derartiges Papier ist als Spur weit verlässlicher als ein Foto, eine hinterlassene Uhr oder die Lagerklamotten des Verstorbenen. Jede Schreibbewegung ist eine Lebensbewegung, die sich in einer unverwechselbaren Spur niederschlägt. Einzig die Schrift, der Schriftzug, die gezeichnete Linie kann als authentisches Lebensdokument gelten. Von daher sind vermutlich auch jene abstrusen, oft wiederholten Selbstaussagen zu verstehen, mit denen gewisse Literaten darauf beharren, dass ihr Leben und ihr Schreiben eins seien, dass sie ohne zu schreiben nicht leben könnten oder gar, dass ihnen das Schreiben wichtiger sei als das Leben. Usf. Die Lineatur der Schrift ist ebenso einzigartig wie die Linien der Hand. Diese Einzigartigkeit erhält sich zumindest teilweise auch im gedruckten Text, der die Handschrift zwar ausblendet, den Rhythmus der Sätze und Absätze, der Verse und Strophen aber ebenso beibehält wie deren Klanggestalt, und gerade diese sinnlich erfahrbaren Qualitäten – Rhythmus, Klang – sind es, die den unverwechselbaren Personalstil eines Autors wesentlich ausmachen. In solchem Verständnis kann der Stil tatsächlich mit dem Menschen gleichgesetzt werden, und von daher nimmt sich denn auch Vilém Flussers Paradox – »das Schreiben hat seine Notwendigkeit, das Leben hat sie nicht« – schon weniger abstrus aus. Das mag mit ein Grund dafür sein, dass auch heute noch – den dominanten audiovisuellen Medien zum Trotz – so viele Menschen sich darum reißen, gedruckt und publiziert zu werden, und dies selbst dann, wenn sie dafür bezahlen oder ungünstige Verlagsverträge abschließen müssen. Für die Mehrheit aller Autoren ist das Schreiben und Publizieren ein Gratisakt oder gar ein Verlustgeschäft. Wenn sie sich dennoch nicht davon abbringen lassen, dann wohl eben deshalb, weil sie bewusst oder unbewusst davon ausgehen, einzig in der Schrift … einzig in dem, was sie geschrieben haben, das eigene Leben überdauern zu können und für die Nachwelt als Person präsent zu bleiben.

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