7. November

›Topas‹ gestern war eine Enttäuschung, amüsiert hat mich einzig Alfred Hitchcocks Auftritt im Gedränge eines U-Bahnkorridors. Unvorstellbar, dass ich diesen Film, den ich zuvor schon zweimal gesehen hatte, jemals spannend oder auch nur unterhaltsam finden konnte. Die immer gleichen Schrägschatteneffekte. Die immer gleichen Fensterpuppenfrauen. Die immer gleichen Pokerfaces. Und allzu viele Fehler im Detail, beim Requisiteneinsatz. Das alles gilt übrigens auch für Alfred Hitchcocks kanonisierte Meisterwerke, für ›Vertigo‹, ›Die Vögel‹, die mich heute geradezu peinlich berühren. Wird Hitchcock überschätzt? Unterschätze ich ihn? Nach allzu viel Bewunderung – jetzt die bessere Einsicht? Oder hab ich inzwischen einfach zu viele bessere Filme gesehn? Jean Eustache! Agnès Varda! Claude Sautet! Marguerite Duras! Statt Meister Hitchcock. – Ich tendiere einmal wieder, wie oft in dieser Jahreszeit, zu einer diffusen, miesen Stimmungslage … zu einem privaten, unteilbaren, unmitteilbaren Mauvismus, einer Übellaunigkeit, die mich als mein eigener Seelenmulm übersteigt, mir den Tag vergällt, der Migräne Auftrieb gibt, mich zu lächerlichen Fehlgriffen und Missverständnissen verleitet. – Die Bäckerei bleibt heute »aus Unfallgründen« geschlossen. Von einer Nachbarin erfahre ich, dass der Meister in der Früh schwer gestürzt ist, er sei mit dem Fuß an einer auf Kniehöhe durchhängenden Kette hängen geblieben, die jemand vor seinem Gartentor angebracht habe und die er in der Dunkelheit nicht habe sehen können. Kinderei? Böse Absicht? Wahrscheinlich ein Rippenbruch, ein Schlüsselbein geprellt, die linke Hand verstaucht. Wie noch kneten? Wahrscheinlich muss er für längere Zeit dicht machen. Brot gibt’s auch im Nachbardorf, aber das kommt tiefgekühlt aus der Großbäckerei. – Im Feuilleton der NZZ bespricht ein namhafter Kritiker den »packenden und doch schwebenden« Erstling einer Jungautorin – Fazit: »… mit beherzter Empathie blickt dieser Roman in die Abgründe eines Lebens, das für immer vielleicht entzwei ist.« Ein zweiter Blick des Romans würde das Ungemach vielleicht wieder gutmachen. – Auf demselben Blatt ist die Replik einer Übersetzerin abgedruckt, die sich über eine ungünstige Rezension beschwert, ihre angeblichen Fehler dementiert und darauf hinweist, welch fatale Folgen ein Verriss im heutigen Literaturbetrieb haben kann und in aller Regel auch hat: Rufschädigung der betroffenen Autoren, Übersetzer, Herausgeber und Verlage, Minderung des Verkaufsumsatzes, allenfalls sogar die Stornierung bereits bestehender Projekte oder Aufträge. Alles richtig. Richtig aber nur deshalb, weil das Urteil eines namhaften Kritikers in einem namhaften Literaturblatt bedenkenlos als bare Münze genommen, nicht überprüft, nicht relativiert wird – schon gar nicht dann, wenn das Urteil positiv ausfällt. Positive – vor allem enthusiastische – Besprechungen können aber ebenso unbedarft sein wie kritische Abfertigungen; beides ist im sogenannten Qualitätsfeuilleton gang und gäbe. Die Betroffenen können sich gegen pauschale Kritik oder hochfahrendes Lob gewöhnlich nicht zur Wehr setzen, und nie bleibt kein Geruch hängen von dem »Hund«, der seit Goethes Zeiten der Rezensent nun einmal ist. Der wesentliche Unterschied besteht allerdings darin, dass heutige Fehlurteile – oder Vorverurteilungen – kaum je reversibel sind. Wenn sich verkannte oder verunglimpfte Autoren bis vor einer Generation noch darauf verlassen konnten, dass die Qualität ihrer Arbeit früher oder später, vielleicht überhaupt erst nach ihrem Tod erkannt werden würde, ist es unter den aktuellen Marktbedingungen so, dass kaum noch eine Neuerscheinung über die Saison (das Halbjahr) hinaus virulent und interessant bleibt. Misserfolge und Erfolge sind von diesem Verschleiß gleichermaßen betroffen. Wer erinnert sich an die Bestseller und Preisträger des Vorjahrs, des vorigen Jahrzehnts? Nicht zu reden von den wenigen starken Büchern, die es auch gegeben hat, die aber im Tagesfeuilleton unbemerkt blieben oder sogleich als unzeitgemäß abgeschrieben wurden – unzeitgemäß, weil zu schwierig, zu anspruchsvoll, mithin zu wenig an die heutigen Marktverhältnisse angepasst. Unter solchen Bedingungen hätte selbst ein Franz Kafka oder ein Robert Musil keine Überlebenschance. – Meine Wohnung liegt schräg gegenüber dem Schulhof. Jeweils um zehn Uhr vormittags ist die große Pause. Da dürfen sich die Erst-, Zweit-, Drittklässler tummeln. Der asphaltierte, mit einem »Affenfelsen« möblierte Hof wird zum Jagdgrund, zur Spielhölle. Die Kleinen hetzen und hauen sich, es wird geschrien, gezischt, gekeift, gelacht, gehöhnt, gepfiffen, geflucht – für eine halbe Stunde ist der Teufel los. Das normale kindliche Temperament. Das Wort … die Sprache wird zur Tatwaffe. – Der am wenigsten bekannte, von der Kritik auch am wenigsten geschätzte Roman Vladimir Nabokovs ist ›König Dame Bube‹, ein Frühwerk, das er 1928 innerhalb eines halben Jahrs in Berlin niederschrieb und das unmittelbar danach in russischer Erstausgabe wie auch in deutscher Erstübersetzung veröffentlicht wurde. Dass Nabokov den Urtext sehr viel später, 1968, in einer stark erweiterten englischen Fassung herausbrachte, änderte kaum etwas an dessen mangelnder Rezeption, und weiterhin wurden »Schwächen« beanstandet, die der Autor angeblich nicht zu beheben vermochte. ›König Dame Bube‹ ist, nach ›Maschenka‹, Nabokovs zweites großes Erzählstück, er hat das Buch im Alter von achtundzwanzig Jahren verfasst, mithin als ein unerfahrener Jungautor, dem man ohne nähere Begründung irgendwelche Fehler vorwerfen durfte, wie sie für einen »Anfänger« eben üblich seien. So ist es mitnichten. Ich hatte den Roman schon in meiner Studienzeit in der ursprünglichen Fassung gelesen, bin aber erst seit kurzem auch mit dem überarbeiteten Text vertraut. So oder anders – als kraftvollen Wurf wie als bedächtige Nachschrift und Übersetzung – halte ich ›König Dame Bube‹ für ein Meisterwerk … für ein Werk, in dem alle Interessen, Themen und Stärken Nabokovs gleichermaßen zum Tragen kommen, und dies umso überzeugender, als sie hier, im Unterschied zu den meisten seiner »amerikanischen« Romane, nicht durch langwierige pseudowissenschaftliche und quasipolitische Exkurse beeinträchtigt werden. In ›König Dame Bube‹ ist die Nabokovsche Beschreibungskunst bereits voll ausgebildet und erreicht eine poetische Magie, welche die Gegenstandswelt – egal ob Handschuh, Alleebaum, Straßenbahn – gleichsam aufleben lässt und die anderseits lebendige Wesen – Menschen, Hunde, Insekten – als apparative oder dekorative Kunstobjekte vorführt: eine verkehrte Welt, die sich kraft ihrer Beschreibung in ständiger Metamorphose zu befinden scheint. Ich lese diese Prosa wie ein großes Dinggedicht, lese entsprechend langsam, konzentriere mich auf den Bau der Sätze und Metaphern und überhaupt auf den Verkehr der Wörter untereinander, der die dürftige Handlung perfekt kompensiert. Mag sein, dass Nabokovs Personalstil in seiner Frühzeit noch stärker von der Lyrik geprägt war als in späteren Jahren – jedenfalls führt er poetische und erzählerische Rede in ›König Dame Bube‹ auf höchst gekonnte und zugleich höchst rücksichtslose Weise zusammen. Rücksichtslos insofern, als dabei historische, soziale, psychologische Stringenz vernachlässigt, wenn nicht missachtet wird – hier vor allem dadurch, dass die Dramaturgie der dargebotenen Dreiecksgeschichte auf völlig unwahrscheinlichen, ja absurden Voraussetzungen beruht. Doch bei Nabokov ist das keine »Schwäche«, vielmehr ist es ein genialischer Trick, um den Psychologismus der gängigen Erzählliteratur zu konterkarieren. Bei mir geht das Faszinosum an dieser Prosa so weit, dass ich im Interesse einer möglichst intensiven Lektüre manche Abschnitte einfach abschreibe, um sie auch physisch (im eigentlichen Wortsinn:) zu begreifen; zum Beispiel diese Berliner Straßenszene:

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