20. November

In seinen Lagererinnerungen würdigt Dmitrij Lichatschow einen Mithäftling, Bardygin, von dem er weder den Vor- noch den Vaternamen kannte, der ihm aber als lebendiges Beispiel unvergesslich geblieben ist – der einzige Mann … der einzige Mensch, der im Straf- und Arbeitslager völlig frei geblieben sei, frei von Hass, Bedauern, Reue, Zweifel, Glauben, Neid usf.: »Weder dem, was um ihn vor sich ging, noch denen, die ihn daran hinderten, in seiner inneren Welt zu leben, schenkte er irgendwelche Aufmerksamkeit.« Ein Gleichgültiger also, der Beleidigung, Entbehrung, Schmerz, Ungerechtigkeit klaglos hinnahm, weil er wusste, dass er nicht als Person gemeint war, sondern als Repräsentant (einer verhassten sozialen Klasse, einer sowjetfeindlichen Ideologie, einer angeblichen Verschwörung u. ä. m.); durch seine Gleichgültigkeit gewann er Kraft, überwand er sein Ungemach und auch seine Peiniger. Bei den Lagerbehörden soll Bardygin, obwohl er nie an irgendeiner unerwünschten Aktion beteiligt war, als besonders gefährlich eingestuft gewesen sein. – Morgendlicher Rundgang auf Asphaltpfaden. Die Straßen sind so gut wie menschenleer; nur hin und wieder rauscht ein Lieferwagen, ein Bus oder – am Himmel – ein Düsenjet vorüber und bringt ein wenig Bewegung in das starre Szenenbild. Während dieser halben Stunde begegne ich einzig einer winterlich vermummten jungen Frau mit einem Cellokasten auf dem Rücken und einem weißhaarigen, stramm ausschreitenden Mann mit wehenden Mantelschößen, der links und rechts je eine pralle Plastiktüte schwungvoll schlenkernd in der Hand trägt. Im Postfach finde ich nur Rechnungen und Mahnungen vor, dazwischen eine Ansichtskarte von Krys, vor acht Wochen aufgegeben in Istanbul. Lots of love. – Wieder bei Georges Perros. Wie kommt’s … wie kann es sein, dass ein Autor solcher Qualität zurückstehn muss hinter beliebig vielen Wichten, die sich vorm Publikum erfolgreich spreizen und von der Kritik als »Entdeckungen«, »Aufsteiger«, »Starautoren« gefeiert werden. Perros, der weniger in seinen Gedichten als in zahlreichen Privatbriefen und Notaten große Literatur zu lesen und letzte Fragen zu bedenken gibt, ist ein leiser und langsamer Autor, der zu langsamer intensiver Lektüre einlädt. Alle zehn Jahre ein Buch. Das wäre für ihn das richtige Maß gewesen, künstlerisch vertretbar, nicht aber menschlich. Denn ein Buch, in seinem Verständnis, ist ein Akt … ist eine Gabe der Brüderlichkeit, und da wir heute mehr auf Brüderlichkeit denn auf Kunst angewiesen seien, müsste es eigentlich mehr Bücher geben. Mehr Bücher jedenfalls von der Art, wie er sie schreibt … wie wenige sie schreiben. Doch eben daran fehlt’s zur Zeit fast ganz – an bester Literatur. »Jeder kann gut schreiben heute, und es wird immer besser. Immer trostloser.« – Seit einiger Zeit bemerke ich auf meinen Spaziergängen, dass ich häufiger als früher ins Stolpern gerate, dass mich leichte Schwindelgefühle nicht nur beim Gehen, sondern auch beim Sehen, vor allem bei gezieltem Sehen in die Ferne behindern. Ob das von den ewigen Kopfschmerzen herkommt? Oder ist es eine Nebenwirkung der Medikamente, auf die ich seit vielen Jahren angewiesen bin? Oder fällt es mir nur deshalb auf, weil ich mich stets für schwindelfrei gehalten habe? – Wie kommen die zahlreichen weiblichen und männlichen Vornamen in die Wetterberichte? Warum benennt man Orkane mit »Katrina« oder »Sandy«, ein Tief mit »Herta« oder »Xerxes«, ein Hoch mit beliebigen andern Namen? Wer wählt diese Namen aus? Nach welchen Kriterien? Und warum werden sie weltweit jeweils sofort in die Wetterberichte aufgenommen? Warum sollen es überhaupt Eigennamen sein? Warum nicht Begriffe wie »Kiesel«, »Wiesel«, »Brigg«, »Nabe«, »Rabe«, »Komma« oder »Kuss«? Auch Buchstaben, Zahlen oder eine Kombination von beidem könnten dafür geeignet sein. Durch die Verwendung von Personennamen werden Naturereignisse – die meisten davon bedrohlich oder katastrophal – gleichsam dem menschlichen Willen unterstellt. Man spricht von Katrinas Zerstörungmacht, von den durch Sandy angerichteten Millionenschäden, vom aufziehenden Sturmtief Henry, vom Hoch Gertrude über den Azoren, das uns in Bälde angenehmes Spätsommerwetter bringen wird. Dasselbe Wetter bekämen wir auch dann, wenn sich das Hoch unter der Bezeichnung ELO2 zum Kontinent hin verlagerte. – Endlich – heute – die Zusage von Matthes & Seitz für ›Alias‹; damit entfällt eine große Unsicherheit, eine schwere, lang andauernde Zerknirschung. Doch weshalb sollte ich erleichtert sein? Was allein zählt, ist mein Text, egal, ob er als Buch kommt oder auf dem USB-Stick gespeichert bleibt. Der Verlag könnte aber tatsächlich zu meiner literarischen Heimat werden, eher noch als Suhrkamp, mehr noch als Hanser es war. Es gibt in Deutschland keine Backlist, in die ich mich so familiär einfinden kann wie in die von MSB. Artaud! Bataille! Blanchot! Leiris! Roussel! Roland Barthes! Sogar Lew Schestow! Da könnte ich als Autor tatsächlich aufblühen. Ich könnte auch untergehn. – Die Tarnkappe war schon immer mein bevorzugtes Kleidungsstück, Garant dafür, dass einer wie ich »für sich selbst leben könne, ohne doch von der Art, wie er zu leben dächte, sich etwas anmerken zu lassen.« Das hat sich Anton Reiser gewünscht, doch sein Autor, Karl Philipp Moritz, hat es ihm vermiest.

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