Innerhalb von vierundzwanzig Stunden ist die Temperatur um fünfzehn Grad gestiegen. Ein heftiger Wind mit Föhndruck hat eingesetzt, er läuft richtungslos durch die Gegend, bildet da und dort akute Wirbel – nicht zuletzt in meinem Kopf. Konzentration gelingt nur mit Mühe, Gedanken und Zeilen eilen auseinander. Am Abend bin ich bei Simon Morris zum Essen eingeladen, danach kehre ich bei Krys ein, will ihr mein »gordisches« Gedicht aus dem Skript von vergangener Woche vorlesen; hier ein paar Verse daraus: Was an den Sinn rührt ist Ahnung. Ist
aaaaaDunst und dunkleres Wissen. Auf ewig
aaaaableibt nämlich der wogende Rücken des
aaaaaKentauren im Schatten des Mannsbilds.
aaaaaAuf ewig – das heißt auf Lebenszeit –
aaaaaohne Zügel und Sattel. So rafft er auch
aaaaadie fernsten Horizonte mit der flinken
aaaaaHinterhand und lässt sein Stampfen als
aaaaaecholose Lehre verhallen am Rand des
aaaaaGeschehens. Das klingt dann herüber
aaaaains Diesseits etwa so … wie auf jenem
aaaaaLandschaftsbild (von Kuindzhi? Lewitan?)
aaaaader Fluss in die Breite schmilzt mit Donner
aaaaaund Schollen. – Gestern ein weiteres Kapitel zu Potocki abgeschlossen (Ankunft in Gattschina; Aufenthalt in Petersburg; der Affe in der Akademie usf.); bin insgesamt zufrieden, so gut wie nichts ist nach Plan und Vorlage entstanden, alles hat beim Schreiben … hat in der Schreibbewegung seinen eigenen Verlauf genommen, seine eigene Richtigkeit gewonnen; fehlen nun noch die Hazaren und Tulczyn und der dramatische Schlussakkord. – Ein Überlebender zu sein bedeutet für mich keineswegs, andere überleben zu wollen oder überbieten zu sollen; bedeutet nur, mit dem übrigen – restlichen – Leben einigermaßen vernünftig und sorgsam umzugehn; bedeutet also auch, Leerläufe und Sackgassen zu meiden, sich nicht zu verausgaben für Unerhebliches. Doch da hab ich eine meiner großen Schwachstellen: Ich versuche mich ans Wesentliche zu halten, halte mich dabei dann aber viel zu oft und viel zu lang bei ärgerlichen Trivialitäten auf, investiere Zeit und Energie, um sie abzuweisen, wissend, dass sie unabweisbar sind. Habe heute bei großer Müdigkeit manches erledigt, über manches nachgedacht, mich an manchem gestoßen, bin auch zwei, drei Mal über mich selbst gestolpert. Seither übe ich vermehrt den aufrechten Gang. Auch und gerade auf der Waage sollte ich ja aufrecht stehn; der Blick nach unten zwischen die nackten Füße offenbart mir – ich habe seit Monatsfrist rund sieben Kilo an Körperschwere verloren, bin erstaunt und erfreut über diesen Verlust, der für mich ein Gewinn ist; auch das Schwinden ist Entwicklung, auch das Geringer- und Leichterwerden gehört zur Vollendung und ist ja oft tatsächlich der Anfang vom Ende. – Auf TVORF wird Friederike Mayröcker, die jetzt Mitte achtzig ist, kurz und respektvoll interviewt. Mit leiser, etwas wehleidiger Stimme beteuert sie, dass ihre Schreibarbeit mit ihrem Leben eins sei. Zum Schreiben, bekennt sie, müsse sie »immer ein wenig traurig« sein. «Ließe man mich nicht schreiben«, betont sie, »wäre ich längst verrückt geworden« – womit sie ihr poetisches Tun als Selbsttherapie bloßstellt. Im Gedicht wird die Welt sichtbar wie in einem zerbrochenen Spiegel – alles ist hier »wie« oder »als ob«, alles nur halb bewusst und halb verdaut, Ausdruck einer egozentrischen Grafomanie, die sich selbstkritiklos auslebt. Was wäre aus dieser Autorin geworden, wenn sie für jedes Buch einen neuen Verleger hätte suchen müssen? Über achtzig Einzeltitel hat sie publiziert, mithin fast ebenso viele, wie sie an Lebensjahren zählt – echt ein Lebenswerk. – »Nimm dir, was dir gehört, und was dir gehört, ist alles, was dein Leben von dir will.« So monumental, so überwältigend und unabweisbar kann die Wahrheit in einem Satz sein – dann, wenn der Satz von Kafka, von Beckett oder, wie hier, von Clarice Lispector zu dir überspringt. – Krys lebt auf ihre Art im Extrem und krankt aber am Leben, sie ist wie gebannt von ihrer Vergangenheit und schwer behindert in ihrer Gegenwart, und doch sieht sie aus, als wäre sie zu haben, als wollte sie (im doppelten Wortverständnis) »besessen« sein. – Ich habe in den vergangenen drei Feiertagen (Nächte inbegriffen) rund dreißig Stunden verschlafen und verträumt, was ein Verlust an bewusster Lebenszeit sein mag, in Wirklichkeit aber ein Gewinn ist – insofern, als die weitläufigen Traumereignisse, in die ich involviert gewesen bin, als mögliche Welten vorübergehend vollkommen real waren. An mir unbekannten, nie gesehenen Orten bin ich mit mir unbekannten Menschen ins Gespräch oder auch in die Intimität gekommen, es gab intensive visuelle und emotionale Wahrnehmungen, die mir auch diesseits der Träume präsent bleiben … die ich aus dem Gedächtnis abrufen und beschreiben kann, als wären sie Teil meines hiesigen Lebens gewesen. Der Traum macht Möglichkeiten als Wirklichkeit erlebbar und gilt dennoch, ihr gegenüber, als sekundär, als illusorisch, als Hirngespinst. Diese Einschätzung … diese Unterschätzung betrifft ja auch die erzählerische Fiktion, egal, ob sie realistisch inszeniert oder fantastisch überhöht ist – aber Don Quijote oder Peter Schlehmil oder Josef K. haben doch als fiktive Gestalten einen Wirklichkeitsstatus erreicht, der unserer sogenannten Wirklichkeit nicht nachsteht, auch wenn er anders geartet ist als sie. Die Möglichkeit als eine spezifische Wirklichkeitsform zu begreifen und zu akzeptieren, statt sie, wie üblich, von ihr abzusetzen, sie qualitativ abzuwerten, das könnte ein neues Weltbild begründen, in dem Realität und Fiktion gleichrangig koexistieren. Neu? Ist diese Koexistenz nicht schon weitgehend verwirklicht in den elektronischen Medien? Im permanenten Surfen zwischen konkreten und inszenierten Realien, im fluktuierenden Übergang zwischen Info und Soap! – Es gibt Momente, in denen man die größte Verantwortung sich selbst gegenüber hat; es sind häufige Momente, zu häufig, als dass man ihnen gerecht werden könnte. – Clarice Lispector brieflich an Tania Kaufman (1948): »Ich habe in mir die Kraft unterdrückt, die den andern und mir selbst hätte wehtun können, und damit habe ich meine Kraft aufgegeben. – Respektiere dich selbst mehr als die andern, respektiere deine Bedürfnisse, respektiere auch das Schlechte in dir. – Halte dich nicht an eine ideale Person, halte dich an dich selbst – einzige Möglichkeit, das Leben zu bestehen.« Sätze wie gemeisselt, und doch flimmern sie – zwischen Wunsch und Gebot. – Nach einer fahrigen Weltreise sitze ich vor einem dunklen Bildschirm, auf dem Grau auf Schwarz (kaum sichtbar) in unregelmäßiger Verteilung sieben oder acht schmale Rechtecke zu sehen sind – sie stellen die Schiffe dar, die ich nun noch in meine Flotte integrieren muss; oder soll ich sie versenken? – ›La double vie de Véronique‹ gestern im Studio 4, einer der schönsten Filme überhaupt, zu schön vielleicht, um ganz große Kunst zu sein. Irène Jacob, geführt von Krzysztof Kieślowski, trägt als auratische Hauptdarstellerin zu dieser Schönheit bei – makelloser Körper, tänzerischer Schritt, unvergleichlich inniger Blick, der Heiterkeit und tiefste Trauer, Lockung und Neugier in sich versammelt; sie hat … sie bietet das schönste Profil, die schönste Stimme, die schönsten Beine, die schönsten Brüste, die schönsten Augen, den schönste Mund. Doch das ist zu viel des Guten. Für diese Rolle ist die Jacob zu perfekt … wie ein Engel, wie eine wundersame Zumutung schwebt sie durch eine dürftige Welt, vollkommen abgehoben von der Normalität – das war vor genau zwanzig Jahren, und heute ist sie, wie ein Blick in ihr Internetfotoalbum zeigt, eine ganz gewöhnliche, schon deutlich vom mittleren Alter gezeichnete Frau, verheiratet mit einem Allerweltstypen, der sich widerwillig neben sie hinstellt. Mag sein, dass jenes Engagement bei Kieślowski (wo sie aus Zufall die Binoche ersetzte) ihr erstes und – bei aller Unwahrscheinlichkeit – ihr einzig wahres gewesen sein wird. – Ich absolviere meinen militärischen Wiederholungskurs. Die Truppe – auffallend wenig Leute sind mit von der Partie – hat eine unscheinbare Baracke bezogen, in der Runde erstreckt sich eine karge Hügellandschaft. Der Dienst soll nur fünf Tage dauern, es gibt nichts zu tun, keine Befehle, keine Aufträge. Man macht sich selbständig, um die Zeit hinter sich zu bringen – Ausflüge, Erkundung der Gegend; man trifft sich an langen Tischen im Freien, führt unergiebige Gespräche. Ich streife durch die Landschaft, die bei gleichbleibend hellem Licht immer nördlicher, unwirtlicher, kälter wird; erreiche einen breiten, mäandrisch sich ausbreitenden Fluss, an dessen Ufer ein paar krüppelhafte Bäume aufgestellt sind. Setze mich im löchrigen Schatten eines kahlen Strauchs nieder, mit Blick aufs Wasser, das kaum Bewegung erkennen lässt. Weit drüben sperrt sich ein Stauwerk. Neben mir spielt Simon Morris, ein Bubi noch, fast kahl, er turnt erst herum, wirft sich dann ins eiskalte Wasser, schwimmt eine Runde, kehrt zurück, bietet mir eine Fahrt auf seinem Floss an. Ja, doch, wir fahren hinaus, befahren einen endlos breiten Fluss ohne erkennbare Strömung, vielleicht befinden wir uns bereits auf dem Meer. An einem kleinen Steg legen wir an, Simon will oder muss nun eine längere Runde allein zurücklegen, ich warte derweil in einer Imbissbude nah der Anlegestelle, wo auch schon Ilma Rakusa vor einer Batterie leerer Teller und Gläser sitzt; nein, es gibt keine Begrüßung zwischen uns, ich überlasse sie wortlos einem unabsehbaren, zweifellos erhabenen Schicksal, wende mich ab, geh langsam zum Steg zurück, um Simon auf seinem Floss zu begrüßen. Doch es dauert. Ich lasse mich nun, nackt ausgezogen, ins Wasser gleiten, schwimme eine Runde, bin erstaunt, dass die Kälte mich nicht schaudern lässt. Ich weiß, ich muss rechtzeitig im Camp zurück sein, bin schon etwas ungeduldig, ohne Simon Morris würde ich nicht zum Camp zurückfinden. Doch gerade noch rechtzeitig legt er an, ich reiche ihm unter der Hand fünfhundert (oder zweihundert?) Rubel (oder Euro?), er steckt das Geld kommentarlos ein. Wir starten, fahren durch die Schleifen des Stroms; zu Fuß steige ich, wieder allein, zur Militärbaracke hoch, treffe unterwegs Marcus Martin, in der Baracke ist grade eine Pressekonferenz im Gang, eine Lektorin von Suhrkamp liest aus einer Spesenliste vor, mich überrascht, wie viel der von Querelen gebeutelte Verlag an Reise- und Hotelspesen für seine Autoren nach wie vor aufbringen kann. – Billionen von Bazillen aller Art enthält ein normal ausgewachsener Darm, das macht pro Mensch (lese ich in der Wissenschaftsbeilage der NZZ) zwei bis drei Kilo aus – lebensnotwendiger Dreck, um den täglichen Grundumsatz zu sichern. Seltsame Flora. Aber ein natürlicher und notwendiger Zustand, der einem nur dann bewusst wird, wenn die Bazillenhorden überborden oder, umgekehrt, wenn sie überfordert sind durch militante Erreger, die von außen dazustoßen.
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