Heinz Politzer: Zu Sarah Kirschs Gedicht „Nachricht aus Lesbos“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

Zu Sarah Kirschs Gedicht „Nachricht aus Lesbos“ aus dem Band Sarah Kirsch: Zaubersprüche. –

 

 

 

 

SARAH KIRSCH

Nachricht aus Lesbos

Ich weiche ab und kann mich den Gesetzen
Die hierorts walten länger nicht ergeben:
Durch einen Zufall oder starren Regen
Trat Wandlung ein in meinen grauen Zellen
Ich kann nicht wie die Schwestern wollen leben.

Nicht liebe ich das Nichts das bei uns herrscht
Ich sah den Ast gehalten mich zu halten
An anderes Geschlecht ich lieb hinfort
Die runden Wangen nicht wie ehegestern
Nachts ruht ein Bärtiger auf meinem Bett.

Und wenn die Schwestern erst entdecken werden
Daß ich leibhaft bin der Taten meines Nachbilds
Täterin und ich nicht meine Schranke
Muß Feuer mich verzehren und verberg ichs
Verrät mich bald die Plumpheit meines Leibs.

 

Verhohlene Leidenschaft als politische Metapher

Genossen unserer Zeitläufte werden nicht umhin können, zu den drei ersten Wörtern dieses Gedichts das Wort „Parteilinie“ zu assoziieren. Politische Links- oder Rechtsabweichungen haben sich in den monolithischen Gesellschaften der Moderne für die Abweichenden als ebenso schicksalsträchtig erwiesen wie für die Berichterstatterin die Hinwendung vom weiblichen zum männlichen Geschlecht.
Der Grundkonflikt, mit dem sich diese konfrontiert sieht, liegt in der inneren Widersprüchlichkeit ihrer Erfahrung. Den Wechsel von Frauen- zu Männerliebe verteidigt sie als intellektuelles Abenteuer, das sich in den „grauen Zellen“ ihres Gehirns vollzogen hat, als einen Willensakt, als Willkür im eigentlichen Verstande.
Von Seele oder Gefühl ist zunächst nicht die Rede. In der Inversion „wollen leben“, den beiden letzten Wörtern der ersten Strophe, führt nicht das Leben, sondern das Wollen, obgleich das Leben das einzige Reimwort des Gedichtes bildet. Es reimt mit dem „nicht ergeben“, das den „hierorts“ (welches Amtsdeutsch!) waltenden Gesetzen gilt. Bewußt zweideutig wird die Phrase von den „grauen Zellen“ ihres Hirns hingesetzt; sie verweist unterschwellig auf den Kerker, in dem sich die Schreiberin unter ihren „Schwestern“ schon lange gefühlt haben mag. Diese aber, die „Schwestern“, die zweimal im Innern der Verse auftreten, verschränken sich in einer Art von ausgedehntem Binnenreim mit dem „ehegestern“ am Ende der vorletzten Zeile in der zweiten Strophe. Zumindest andeutungsweise gehören die Schwestern schon der Vergangenheit an.
Der „Bärtige“, der all dieses Wandels Anlaß war, bleibt anonym; er hat nichts zu melden; lediglich der unbestimmte Artikel „ein“ ist ihm gegönnt. Nur sie, die Frau, ist leibhaft; leibhaft in einem Ausmaß, das den sonst kühlen und ebenmäßigen Fluß der Verse in den Zeilen „Daß ich leibhaft bin der Taten meines Nachbilds / Täterin“ unterbricht, eine Stockung erzeugt und den Vers selbst stolpern läßt. Der „Bärtige“ ist dazu verurteilt, ein schattenhaftes „Nachbild“ zu bleiben, dessen Tat, die Umarmung, die Abgewichene allein unternommen zu haben behauptet.
Sie allein übernimmt auch die Verantwortung für die Folgen der Tat, die sie über sich herabgerufenhat. Das „muß“ in „Muß Feuer mich verzehren“ hat normativen Charakter: Noch immer untersteht sie den Gesetzen, denen sie mit vollem Wissen und Willen zuwidergehandelt hat, und nennt noch jene, die die Fackel an den Scheiterhaufen legt, „Schwester“. Daß sie jedoch mit einem Kinde schwanger geht, will besagen, daß sie sich ebenso wissentlich wie willentlich einem anderen Gesetz unterstellt hat, dem Gesetz der Natur.
„Durch einen Zufall oder starren Regen“ ist die Wandlung ausgelöst worden, die Entscheidung eingetreten. Wieder verrät jedoch die Zweideutigkeit ihrer Sprache das Unbewußte der Frau: „Ich sah den Ast gehalten mich zu halten.“ Der Ast ist ein anthropologisches Sexualsymbol und steht für das primäre männliche Geschlechtsmerkmal, wie die Bezeichnung des Mannes als „Bärtiger“ für das sekundäre steht.
„Ich [bin] nicht meine Schranke.“ Intellektuelle Entscheidungen sind ihrer Natur nach selten schrankenlos, Gefühle sind es oft. Hier bricht die Berichterstatterin das Schweigen, unter dem sie ihre Leidenschaft verborgen hat. Die Schrankenlose ist mitgenommen. Die politische Metapher, der hochbewußte Bruch eines Gemeinschaftsprinzips, das aber, so gesteht’s die Übeltäterin, wider die Natur geht, und, wie die Welt nun einmal beschaffen ist, nicht ausschließlich ihre Natur, tritt zurück hinter diesem unwillkürlichen Bekenntnis zu einem Umschwung des Gefühls, das die Abgewichene buchstäblich bis zum letzten Wort ihres Gedichtes wahrzunehmen sich nicht gestattet. Von diesem Widerspruch, diesem Konflikt, will das ganze Gebilde zum Bersten gespannt erscheinen, wie eine Saite.

Heinz Politzer, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Über die Liebe, Insel Verlag, 1985

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