Georg Maurer: Werke in zwei Bänden

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Georg Maurer: Werke in zwei Bänden

Maurer-Werke

GRABSPRUCH

Wo blieb mein Kern, wo blieb mein Stern?
Zwischen Kern und Blütenstern das Gestämm.
Sie haben Sessel daraus gemacht, darin zu ruhn.
Sie haben den Kern vergessen, daraus ich wuchs,
den Blütenstern, als die Frucht aufgegangen.
Sie schreiben zwei Zahlen dafür auf den Grabstein –
für das Dazwischen bleibt ein dünner Strich.
Denn sie machten Sessel und Früchte ein für sich.
Sie haben recht! Nur Kern und Stern war ich.

 

 

 

Nachwort

Die vorliegende Ausgabe präsentiert das literarische Lebenswerk Georg Maurers. Zu den von ihm für die siebenbändige Edition des Mitteldeutschen Verlages autorisierten Dichtungen und Essays, die hier nahezu vollständig nachgedruckt werden, konnten Gedichte, Erzählungen, Aufsätze und Schriften aus dem Nachlaß gefügt werden. Zum ersten Mal wird das Werk Georg Maurers der Schaffenschronologie folgend dargeboten und zur Dichtung erkennbarer Phasen die in ihnen entstandene Essayistik gestellt. In einem sparsamen Kommentar werden, der gegenwärtigen Forschungslage entsprechend, Erstdrucke nachgewiesen, verstreut publizierte Aussagen Maurers zu seinen Dichtungen zusammengestellt und Gedichte, die im Umkreis der Zyklen und zyklischen Sammlungen entstanden, aber für den Druck nicht berücksichtigt wurden, bekanntgemacht.
Die dadurch mögliche intensive Begegnung mit dem Werk Georg Maurers korrigiert sicherlich nicht das Bild, das wir uns vom Dichter entworfen hatten, vervollständigt es aber. Durch die chronologische Zusammenstellung von Gedicht und Essay kommt in Sicht, auf welche Weise sich poetische und poetologische Äußerungen verschränken, das Spektrum der Beziehungen zur literatur- und kulturgeschichtlichen Tradition, auffällig zur bildenden Kunst, erhellt, wodurch das Welt- und Kunstverständnis dieses Dichters befördert wurde. Maurer sucht im gedanklichen wie lebendigen Austausch sich selbst zu verständigen – der eigenwillige Zugang zu Phänomenen der Kunst läßt ihn daher auch Erkenntnisse gewinnen, die der traditionellen Kunstwissenschaft womöglich verschlossen blieben. Und obwohl die (zeitaufwendige) Tätigkeit als Lehrer im Institut für Literatur Johannes R. Becher hier nur im Bilddokument festgehalten ist und die zahlreichen Gespräche des Dichters mit Zeitgenossen meist nur aus deren Erinnerungen abrufbar sind, veranlassen uns schon die für diese Ausgabe ausgewählten Vorträge, Pressezuschriften, Vorsprüche zu Lesungen und Publikationen, Notate und Briefe, von einer umfangreichen und intensiven Öffentlichkeits-Aufmerksamkeit und -wirksamkeit Maurers zu sprechen. Der Dichter mischte sich, in einem bislang nicht gekannten Maße, in Debatten ein, baute Vorurteile ab, korrigierte geltende Auffassungen, warb für die literarischen Versuche seiner Schüler, verhalf dem um Bildung und Verstehen bemühten Leser zu Aufschlüssen des Kulturerbes und der gegenwärtigen Kunst. Die vom Dichter sparsam, vor allem in Briefen gegebenen Hinweise auf die persönliche Situation machen zudem darauf aufmerksam, wie ein enormes Arbeitspensum nicht immer günstigen gesundheitlichen und sozialen Umständen abgetrotzt werden mußte: Die in den fünfziger und sechziger Jahren auffällige Konzentration auf Gedicht und Essay in Produktion wie Lektüre, die Abstinenz gegenüber epischen und dramatischen Bemühungen ist sicher auch aus diesen Bedingungen erklärbar.
Der nunmehr möglich gewordene Einblick in den Schaffensprozeß (die Datierung der Texte soll diesen noch vertiefen) läßt die Auffassung zu, daß Georg Maurers Werk auf charakteristische Weise mehr ist als die Summe seiner Teile. Weil der Dichter vom Anbeginn seines künstlerischen Schaffens die Erscheinungen der Welt in den Zusammenhang stellen wollte, diese Absicht kontinuierlich verfolgte, kann das Gesamtwerk Maurers als der in sozialistischer Dichtung des 20. Jahrhunderts einzigartige Versuch gelten, ein „poeto-philosophisches“ (Fühmann) Modell zu entwickeln, das, die wirkenden Welt-Relationen berücksichtigend, durchaus im klassischen Sinne jenes „was die Welt im Innersten zusammenhält“ zu erkennen sucht. Die für das philosophische Erkunden notwendige diskursive Verfahrensweise wird weniger im Einzelgedicht verfolgt, das wesentlich der „radikalen Erhebung des Besonderen ins Allgemeine“ verpflichtet ist, wohl aber in der zyklischen Folge, den „Rendezvous-Ketten“ und in der Folge solcher Zyklen. Im Ganzen des Werkes sind daher nicht nur die künstlerischen Entdeckungen im ausgeformten Gedicht oder im gedanklichen wie bildlichen Gefüge des weitgreifenden Zyklus von Interesse, sondern auch die in der Folge der Zyklen erkennbaren Denk-Ansätze.
Maurer erwirbt sich, die Alltagserfahrung respektierend und nutzend, ein Welt-Bild, eine Welt-Anschauung, deren Zentrum das gleiche bleibt:

Der Dichter ist sein Leben lang auf der Suche, die Welt in ihrer Einheit zu sehen.

Auf Grundthemen eines Schriftstellers war Maurer selbst aufmerksam geworden, als er in einem Aufsatz „Die Funktion des Begriffs in Bechers Lyrik“ untersuchte und zu dem Schluß gelangte:

Kunstperioden heben mit Zentralbegriffen an. Unter vielen Begriffen, überkommenen, neu angenommenen und gewandelten, beginnt einer, beherrschend zu werden. Er ist der die jeweilige Weltwirklichkeit umfassendste und für das Individuum inhaltsreichste. Er ist ebenso allgemein wir fruchtbar. Er drängt zu Wiederholung. Er wird zum Losungswort.

Begreift Maurer als einen solchen Begriff in Bechers Lyrik das „Anderswerden“, in Brechts Dichtung die „Veränderbarkeit“, dann könnte in Entsprechung zu diesen der Maurersche Zentralbegriff eben als „Suche nach der Einheit der Welt“ gefaßt werden. Während Becher die Kämpfe seiner Zeit auf dem „Schlachtfeld“ seine Brust austragen läßt (es entsteht vorrangig eine Lyrik der Selbstgestaltung), Brechts Intention darauf zielt, „die Welt kennenzulernen und jene, mit denen zusammen er sie zu genießen und zu verändern sucht“ (es entwickelt sich eine Dichtung, die im besonderen den sozialen Kausalnexus freilegt), fragt Maurer Grundsituationen des Menschen in Raum und Zeit, des Menschen in der Geschichte nach. Maurers Werk ist nicht schlechthin an dem Bechers oder Brechts zu messen, sondern ist in seiner Eigenart, und daß heißt vom philosophischen Impuls her, zu begreifen. Ein charakteristisches Lyrik-Dokument des 20. Jahrhunderts stellt die Dichtung Maurers insofern dar, als sie gleichermaßen wie die Bechers und Brechts und anderer Autoren die Situation des Menschen im Zeichen der Entfremdung und der möglichen Aufhebung dieser Zerrissenheit und Zwietracht reflektiert. Sie aber erspürt und diskutiert im philosophischen Zusammenhang, was in den literarischen Texten der anderen vielfach nur vermittelt erörtert wird.
Erlebnisse und Erfahrungen in der Kindheit und Jugend, der einzelgängerische Weg, der Maurer zur deutschen Literatur und in sie hineinführt, erklären in vielem, warum in den Spannungen, Belastungen, Erschütterungen, die auszuhalten waren, immer wieder das Begehren nach Ganzheitlichkeit aufbricht. Gehören die Bibel, die Dramen Shakespeares und die Werke der klassischen deutschen Dichtung zu den nachwirkenden Lektüre-Eindrücken, das in alltäglicher Spontaneität entstehende Gemeinschaftsgefühl zwischen Rumänen, Deutschen, Juden und Zigeunern zum selbstverständlich erfahrenen Lebensumkreis, so muß dieses harmonisierende Unterschiede wie nationale Eigentümlichkeiten einebnende Bewußtsein nach seinem Studienbeginn im Jahre 1926 in Leipzig aufgeschreckt werden. Maurer hat die Diskrepanz zwischen den mitgebrachten Idealen und den in der deutschen Großstadt wahrzunehmenden ernüchternden gesellschaftlichen Tatsachen früh geahnt, im Rückblick klarsichtig beschrieben:

In diesem Prozeß wurden mir nicht nur die Menschen, sondern auch die Gegenstände immer fremder, rätselhafter, undurchdringlicher, zusammenhangsloser. So komisch es klingen mag: jahrelang entsetzte mich der Querbalken am Rahmen meiner Zimmertür, auf die mein Blick fiel, wenn ich erwachte. Als ich einmal ein Kaufhaus betrat, sah ich eine Damenhand Geld auf den Tisch zählen. Leicht taumelnd trat ich wieder hinaus. Ich sah die Dinge etwa so, wie sie der Surrealist Salvadore Dali oder bei uns Rudolf Schlichter oder Edgar Ende malen bzw. gemalt haben. Ich litt aufrichtig an dieser Art zu sehen. Ich hielt eine so erlebte Welt auch nicht für darstellenswert. Im Grunde sehnte ich mich nach Harmonie mit Menschen und Dingen.

Entfremdung (Nicht-Einheit) wurde nicht nur in der von ihm empfindlich wahrgenommenen Zwietracht zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft, zwischen Individuum und Gattung erlebt: Des Dichters philosphischer Sinn registrierte das Auseinanderfallen der Realität in starren Gegensatzpaaren, Antinomien – Ich und Gesellschaft, Mensch und Natur, Körper und Geist, Sinnlichkeit und Sinn, Innen und Außen, Gefühl und Verstand, Anschauung und Begriff, Sein und Bewußtsein, Augenblick und Ewigkeit, Vaterland und Welt, Erscheinung und Wesen.
Das Studium der Wissenschaften schien Maurer damals das Auseinanderfallen der Teile zu verewigen, die Aneignung des Wirklichen durch die Kunst eine Synthese zu ermöglichen. Der zu verfolgende gesellschaftliche „Aufbruch“ der national-sozialistischen Bewegung bot sich dann dieser Sicht als eine politische Chance an, Einheit in den Kämpfen der Gegensätze herzustellen. Die Erfahrungen, die mit solchen Vorstellungen in der Realität zu machen waren, sind bitter, aber heilsam.
Kunst und Wissenschaft können zwar insofern konfrontiert werden, als diese primär die Analyse, jene die Synthese verlangen. Damit aber sind zunächst Methoden ausgemacht, jedoch nicht die Inhalte, die zerlegt oder zusammengeführt werden sollen. Wird für den Zusammenhang der Welt kein anderes Zentrum als Gott gesichtet, in der Erdenrealität allerdings immer nur die Distanz zu einem Gott erlitten, der mit den Qualitäten klassischer Dichtung ausgestattet ist, dann ist Ganzheitlichkeit, das dem Menschen Gemäße, auch nur über diesen Gott, über klassische Dichtung als Ideal-Muster, über zeitgenössische Kunst, sofern sie solchen Traditionen verpflichtet bleibt, herstellbar. Der Zwiespalt in der Erfahrung blieb – trotz scheinbarer Einheitsvermittlung durch Rilkes Verse – bestehen: Ganzheit schien nur in der geistigen Anstrengung erreichbar. Die zeitweise intensivere Aufmerksamkeit Maurers für Phänomene der faschistischen Entwicklung ist auf dem Hintergrund dieser weltanschaulich-philosophischen Selbstverständigung zu sehen: als Aufbruch aus jener als tief problematisch empfundenen Geistigkeit (und er sah einen solchen auch im Werk Friedrich Nietzsches versucht), als Aufhebung sozialer Hierarchien in „nationaler Identität“, in der „Volksgemeinschaft“. Gleichzeitig sind den in jenen Jahren entstehenden Texten Abweisungen faschistischer Praktiken, Irritierungen eingeschrieben – die Manipulierung und Degradierung des Menschen wird abgewehrt. So drohte den philosophischen Auffassungen des Dichters, seinem sozialpolitischen Standpunkt Eklektizismus, der beibehaltene hohe Anspruch schien sich zu verflüchtigen, da er nicht in die gesellschaftliche Wirklichkeit „heruntergeholt“ werden konnte.
Maurer wäre womöglich ein beachtenswerter, aber vom geistigen Horizont her begrenzter Autor und Essayist geblieben, hätte nicht der grundsätzliche weltanschauliche Wandel, bedingt durch die Erfahrungen des Krieges und der Gefangenschaft, der Befreiung und des Aufbaus einer neuen Ordnung nach 1945, befördert vor allem durch die Impulse des Marxismus, diesem ursprünglichen Anspruch ein neues geistig-ideologisches und empirisch-praktisches Fundament gegeben. „Wenn Sie mich fragen: Wie war eine so wenig erfreuliche Entwicklung möglich?“ schrieb Maurer aus kritischer Distanz, „so ist die Antwort einfach: aus Unkenntnis des Marxismus“.
Georg Maurer ist ein Dichter des Übergangs. Für Künstler, die im Zeichen epochaler Umwälzungen arbeiten – Maurer hat dies am Schaffensprozeß Bechers, hätte es auch an Brechts Entwicklung studieren können –, ist nicht nur charakteristisch, daß sie neuem Denken zum Durchbruch verhelfen; insbesondere ist für sie als Dichter auffällig, daß sie die ihnen vertrauten, alten Fragen der Menschheit neu beantworten, die schon in Umlauf gebrachten Antworten durch neue Fragen prüfen, neue Fragen also so stellen, daß die alten Fragen und Antworten, im Hegelschen Sinne, aufgehoben werden können. Maurer ist daher – auch unter diesem Aspekt ist das nun übersehbare Gesamtschaffen mehr als die Summe seiner Teile – Kritiker und Vermittler überkommenen Welt-Bewußtseins der Menschheit zugleich. Er sieht sich zunächst zur klarsichtigen und scharfsinnigen Kritik des deutschen Faschismus veranlaßt: Er ruft – die bislang unveröffentlichten Texte des „Deutschen Tagelied“, des „Gesprächs mit dem Teufel“ korrespondieren mit den bekannten Versen der „Hymnen“ – in einer beschwörend-intensiven Weise zu nationaler Selbstkritik auf, die diese Dichtungen in geistige Nachbarschaft zu Gedichten Johannes R. Bechers in der Emigrations- und ersten Nachkriegszeit stellen. Der von Klage und Anklage heftig bewegte Aufruf zur Selbstanalyse der Nation ist bereits vom beginnenden Studium marxistischer Schriften beeinflußt – nicht zufällig ist dem „Deutschen Tagelied“ von 1947 das Marx-Motto vorangestellt:

Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen.

Offensichtlich haben schon wenige Kernsätze der Marxschen Auffassungen ausgereicht, Maurers Denken in höchst produktive Bewegung zu bringen. Und sie konnten genügen, weil Maurer – so überraschend es scheinen mag – auf den Marxismus vorbereitet war. Das, was dieser wissenschaftlich begründete, in historischen Behinderungen erforschte wie als historische Projektion entwarf, hatte Maurer jahrzehntelang begehrt, in destruktiven „Aufbrüchen“ fälschlicherweise verfolgt gesehen oder nur in und über Idealgestalten (in Gott oder künstlerischer Figuration) als möglich erachtet: die Einheit der Welt. Der frühzeitig gebildete, in das Studienland schon „mitgebrachte“ Lebens-Anspruch dieses Dichters, sein Programm mußten nur vom „Kopf auf die Füße“ – von Gottes Region auf die Welt, vom Gedanken auf die Tat – gestellt werden. Die Erkenntnisse des Marxismus, zunächst über die Ansichten von Schriftstellerkollegen. über die des Philosophen Ernst Bloch, auch über die Lifschitz-Ausgabe „Marx über Kunst und Literatur“ (aus dem Jahre 1948) an Maurer vermittelt, bewirkten, daß der Dichter, im Jahre 1945 fast vierzigjährig, ungewöhnlich rasch und beredt im Gedicht die eigenen Erfahrungen verarbeiten konnte. Da Maurer die neuen Auffassungen ständig auf die überkommenen, von ihm selbst vertretenen, bezieht, hat es „den eigentümlichen Anschein, als ob sein Weg zum Marxismus die klassische Stufenfolge der Entwicklung vormarxistischen Denkens bis hin zum Marxismus wiederholt hat. Genannt wurden bereits die verschiedenen Phasen seines Verhältnisses zur Religion und der Kritik an ihr: Protestantismus (Erziehung im Elternhaus), Pantheismus, Spinozismus (,weniger zu einem deistischem Gott… als zum spinozistischen und Goethes deus sive natura… zog es mich hin.‘), Feuerbachsche Phase (Gott und Dämon als Bilder des ,falschen Bewußtseins‘, ,Denn sie sind in uns, die Ungeheuer‘).“ (Ingrid Hähnel)
Von Mitte der vierziger bis zur Mitte der fünfziger Jahre (wir vergröbern damit natürlich die Widersprüchlichkeit des komplexen Prozesses) eignet sich Maurer zunächst die materialistische Betrachtungsweise an. Sie ermöglichte es ihm, die vom Menschen nach außen, an Gott, Dämon, Teufel delegierte Verantwortung für menschliches Geschehen, diesem selbst zu überantworten („Hymnen“), Gottes Zentralstellung durch die des Schaffenden, des Arbeiters zu ersetzen („Sonette“), falsches, weil aus der Menschenwelt hinausführendes, Bewußtsein abzubauen. Der Zyklus „Bewußtsein“ ist nach Maurers Äußerung so komponiert, „daß das Thema Bewußtsein in seiner tyrannischen Form der Selbstgefälligkeit und Eingebildetheit zurückgedrängt wird von dem Thema Leben, das immer fröhlicher und mutwilliger hervortritt“. Im nicht enden wollenden Strom der „Dreistrophenkalender“-Gedichte wird die nun mögliche, weil nicht über einen Schöpfer vermittelte, Zwiesprache mit der Natur gefeiert. Die Natur, als selbständige Wesenheit erkannt und empfunden, wetteifert in diesen Versen in ihrer Produktivität mit der des Menschen. Die Zyklen „Die Elemente“ und „Hochzeit der Meere“ führen dann auf poetisch originelle Weise natürliches und menschliches Dasein zusammen: Indem der Mensch die Natur bearbeitet, verändert er zugleich seine eigene Natur und die der zwischenmenschlichen Beziehungen. Jahre später entdeckt Maurer jenen Gedanken von Karl Marx, der ihm wie eine Interpretation der Dichtungen jener Phase erscheint:

Indem die Wesenhaftigkeit des Menschen und der Natur, indem der Mensch für den Menschen als Dasein der Natur und die Natur für den Menschen als Dasein des Menschen praktisch sinnlich anschaubar geworden ist, ist die Frage nach einem fremden Wesen, nach einem Wesen über der Natur und dem Menschen – eine Frage, welche das Geständnis von der Unwesentlichkeit der Natur und des Menschen einschließt – praktisch unmöglich geworden.

Seit Mitte der fünfziger Jahre wird die im Werk Maurers eingenommene materialistische Sicht um die historische erweitert. Der Dichter fragt nun, da er Arbeit als neues „Kompositionsprinzip“ der Menschheit und Liebe als dem Menschen gemäßes Weltverhältnis verstanden hatte, dem geschichtlich veränderten Charakter der Arbeit, den spezifischen „Verkehrsformen“ des Menschen nach. Indem sich Maurer selbst als historisches Wesen begreift, das eigene Leben in seinen Phasen durchschaut, vermag er auch den Gang der Menschheitsgeschichte nachzuvollziehen: Dem „Selbstbildnis“ von 1956 folgen die Zyklen „Geschichtsbilder“ (die sich aus dem Versuch entwickeln, eine „Geschichte der Arbeit“ zu schreiben) und „Gestalten der Liebe“ (die als eine damit korrespondierende Retrospektive der Liebesbeziehungen gelesen werden können). Der geistige Ertrag, den diese künstlerischen Untersuchungen einbringen, ist für den Lyriker weniger als Zuwachs historischen Wissens zu verbuchen, eher als „Übung“ im Gebrauch der historischen Methode, für den Leser mehr als Einblick in die Menschen-Geschichte denn als Einsicht in historische Gesetzmäßigkeiten. Indem Maurer im Marxschen Sinne, „die ganze Bewegung der Geschichte“ als die „begriffene und gewußte Bewegungs menschlichen Werdens aufschließt, kann er im Rückgriff zugleich das entdecken, „was auf uns vorausgreift“. (Ernst Bloch)
Die Dichtungen „Gedanken der Liebe“ und „Das Unsere“ führen dann Anfang der sechziger Jahre die Stränge des bisherigen Schaffens zusammen. Ihr Zentrum finden die rhapsodisch gefügten Gedichte in einem Grundgefühl, das Maurer Kommunikation nennt, in jener produktiven, Beziehung zwischen Subjekt und Objekt in allen Bereichen menschlicher Existenz. Was die Zuneigung der Geschlechter charakterisiert – Verständnis und Freude, Güte und Erfüllung, Lust und Schöpferkraft, Bewegung und Verwandlung bestimmt grundsätzlich auch die Beziehung von Ich und Welt. So will diese von Liebe erfüllte Kommunikation bedeuten, daß die Naturkräfte ins Menschliche anverwandelt, ihre gesetzhafte Wirkungsweise erkannt, „liebend“ respektiert und dann zu menschlichen Zwecken nutzbar gemacht werden. Sie bedeutet, daß die Menschen untereinander den ihnen gemäßen natürlichen Kontakt herstellen, die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung begreifen und durch die Erkenntnis unter ihre Herrschaft und Kontrolle bringen. Sie erfüllt sich schließlich darin, daß über die noch möglichen und vorhandenen Anfechtungen und Gefährdungen, die zufälligen Unglücksfälle und unglücklichen Zufälle hinweg „liebend“ vermittelt werden kann, das Elegische und das Hymnische einander nicht ausschließen.
In den Essays „Die Natur in der Lyrik von Brockes bis Schiller“ und „Die Natur in der Lyrik Friedrich Hölderlins“ (ein Essay, der hier erstmals veröffentlicht wird) – Studien, die bislang zu eingeschränkt als selbständige, eher wissenschaftliche Arbeiten gelesen wurden – bemächtigt sich Maurer einer neuen Dimension seines Welt-Verhältnisses: der Dialektik. In Hölderlins Dichtung scheint ihm der Umschlag „des objektiven Idealismus in Realismus“ vollzogen: Die Entwicklung der Menschheit wird in ihr als realer Prozeß erkundet, in ihrer Einheit vom Kampf der gegensätzlichen Kräfte bewegt. Die Folgen dieser Selbstverständigung für die künstlerische Produktion Maurers sind unübersehbar. Hoffnung auf eine Gesundung der Menschheit wird nun nicht mehr wie in den Dichtungen der endvierziger und fünfziger Jahre aus einem „Prinzip Hoffnung“, aus einer Heilsgewißheit bezogen, sondern entschiedener aus der Widersprüchlichkeit der „Menschheitsbewegung“ gewonnen, „die Zeit braucht, um sich aufzuheben. So ist einerseits naive Hymnik nicht möglich, andererseits verdammt sich Weltenttäuschung und -abkehr, wenn sie konsequent ist, zum Schweigen. Will sich heute die Lyrik nicht selbst zur Wirkungslosigkeit verdammen durch bloßes rühmendes Ansingen oder verbitterten Abgesang, so muß sie sich von der realen Bewegung der Welt bewegen lassen.“ Reichtum, Fülle gemeinschaftlichen Lebens erscheinen dem Lyriker nun nicht mehr im Zustand der Erfüllung, sondern im Begehren, das den Mangel mit reflektiert:

Mangel! Fehlte uns nichts,
fehlte uns alles.
Nicht Freude, nicht Schönheit wär.
Wären wir alles,
wären wir sprachlos.

Verwirklichung des Menschen reduziert Maurer nicht auf den Vorgang der Selbstbefragung, der Identitätsfindung; er sieht diese eher im Austausch, in der Begegnung realisierbar:

Bewahr dich, du bewahrst dich nicht.
Bewahr dich nicht, bewahrst du dich.

Gewißheit ist für ihn nicht aus Feststehendem, eher aus dem Prozeß zu beziehen:

Das Gewisseste ist gewiß, wenn es sich bewegt,
als sei es ungewiß. So geschieht Zeit.

Die Struktur der Dichtungen – die der „Gespräche“ ist besonders auffällig – übermittelt den neuen Denk- und Schreibimpuls: dialektische Paarungen, Geist und Leib, Mensch und Welt, Dichter und Dichtung, werden zunächst über Rede und Gegenrede auseinandergerissen, in ihren Bedingtheiten ausgelotet, ehe schließlich ihre widerspruchsvolle Einheit erfahren werden kann. Alle Beziehungen des Menschen zur Welt werden nun von Maurer als ständig neu herzustellende gefaßt, die Welt nicht als feststehende Einheit, sondern als bewegliches Zusammenspiel sich bedingender, dadurch wechselseitig mobilisierender Kräfte erkundet. Leben behauptet sich gegen gedankliche Verkürzungen. Insofern wird Maurer nun die Übermächtigkeit des Bewußtseins gegenüber dem Leben überhaupt fraglich. Dem Zyklus mit dem bezeichnenden, auffälligen Titel „Laufen“ fügt Maurer auf dem Typoskript handschriftlich die Notiz hinzu:

Ich schrieb dieses Gedicht aus der seit Jahren in mir wachsenden Allergie gegen das Wort Geist. In der üblichen Vorstellung ist dieser Begriff für mich nicht mehr greifbar/faßbar. Wird die Kybernetik ihn faßbar/greifbar machen?

Die offenen Strukturen dieser späten letzten Texte legen den Schluß nahe, daß der Dichter nun Verfahren problematisiert, die allein durch den Geist die Welt zusammendenken wollen.
Georg Maurer denkt mit dem Gedicht das Ganze. Vergegenständlicht das gesamte Werk die Genesis und die charakterisierte Eigenart solch künstlerischen Denkens, der einzelne Zyklus die erreichte Stufe der Welt-Aneignung, so wird im einzelnen Gedicht die je unterschiedliche Art der „radikalen Erhebung des Besonderen ins Allgemeine“ sichtbar. In einem „poeto-philosophischen“ Denken freilich sind die logischen Schritte nicht bündig auszumachen, ist das einzelne Gedicht schwerlich auf einen Bewußtseinsakt zu reduzieren, wohl aber kann aus dem qualitativ je unterschiedlichen Erkenntnisstand auf Kompositionsprinzipien geschlossen werden. Vor allem aus umfangreichen Studien zur bildenden Kunst gewinnt Maurer die kunsttheoretische Ansicht, Gegenstände als Form zu erkennen, sei die eigentliche Intention des Künstlers. Jede Epoche, jede Weltanschauung setze die Gegenstände in ganz bestimmte Beziehung, die man Form nenne, diese aber konstituiere sich erst durch „Beseelung“ und „Vergeistigung“ der Dinge. Solche künstlerischen Formierungsweisen mußten den Lyriker deshalb besonders interessieren, weil er von der philosophischen Motivation her bewußt Elemente zur Ganzheit ins Gefüge setzen wollte. Innerhalb der Werk-Entfaltung ist insofern von einer diskontinuierlichen Kontinuität zu sprechen, als bei Maurer immer das Ganze gedacht, aber jeweils unterschiedlich aus Teilen zusammengefügt wird.
Das zyklische Verfahren kam Maurers Denken und Dichten entgegen, ist doch der Zyklus vorzüglich geeignet, aus der Fülle miteinander und gegeneinander wirkender Erscheinungen, die geistig und emotional intensiv erfahren und bedacht werden, wesentliche Zusammenhänge des Daseins zu erschließen. Da in Maurers Verständnis letztlich Kompositionsgesetze der Kunst Gesellschaftsgesetzen zuzuordnen sind, verändert sich in seiner Dichtung das Zentrum letzter Instanz, um das die Gedichte kreisen: Die Zuordnung der Welt zu Gott wird zur Zuordnung der Welt zum arbeitenden Menschen. Die lyrische Subjektivität, die sich uns im Werkspektrum mitteilt, die die Geschehnisse und Dinge „beseelt“ und „vergeistigt“, ist von nachdenklich-grüblerischem wie von naiv-staunendem Charakter. Franz Fühmann hat die Eigentümlichkeit der Weltbegegnung, die sich in diesem Werk manifestiert, benannt:

Was ist das – ein Stein? Was ist das – ein Baum? Was ist – das – die Erde? Was ist das – die Kunst? Was ist das – der Mensch? Es ist die Frage, mit der alles Bewußtsein beginnt, die Frage am Anfang jeder Philosophie und auch jeder Arbeit, die Frage des staunenden Begreifenwollens und die Frage des staunend-begreifenden Verändernwollens, und als dies alles ist sie bei Georg Maurer auch die Frage, mit der er all seine Dichtung anfängt, ehe sie anhebt…

Über Frage und Antwort „unterhält“ sich der Sprecher in Maurers Gedicht mit der Welt. Die selbst gemachten oder übernommenen Erfahrungen veranlassen den Dichter zu reagieren, sich mit Dingen und Geschehnissen ins Gespräch zu begeben – die häufig eingesetzte Anrede (Dingen, Menschen, sich selbst gegenüber), die nicht selten dialogische (also auch dramatische) Struktur des Gedichts, sind Zeichen dieser gesuchten Weltbegegnung. Zwischen der durch die Erfahrungen angesprochenen Frage und der durch geistige Anstrengungen beförderten Antwort arbeiten Argumentation oder Widerlegung. Diese holen im Gedächtnis gespeicherte eigene Lebenssituationen, historische Konstellationen der Völker, Geschlechter, Klassen oder Generationen, vorgeprägte literarische, künstlerische, mythologische Figuren und Figurationen herbei – zum Vergleich, zur Metapher, zur Demonstration oder Variation. „Auch Gedankendichtung entsteht“, schreibt Maurer, „wächst, fängt unvorhergesehne Erlebnisse ein, für die es aber aus dem Wesen des verfolgten Gedankens empfänglich ist“. Es entsteht weder Bildungs- noch Erlebnisdichtung im traditionellen Sinne: Erlebter Gedanke und gedankliches Erlebnis gehen eine fruchtbare Synthese ein, so daß wir gemäß der Hegelschen, von Maurer zitierten Vorstellung „ungetrennt – den Begriff der Sache wie deren Dasein als ein und dieselbe Totalität im Innern der Vorstellung vor uns haben“. Die „Totalität“ kann sich im Gedicht Maurers herstellen, weil der Lyriker Welt in solcher Verknüpfung sieht und erspürt. Alles ist für ihn, wie für die Klassiker, ewig und wird immer erst:

Die Schwalben segeln, und ich seh sie so,
als wenn sie eine ewige Zeichnung wiederholen.
Doch sind’s die Schwalben und die Kinder sind’s
im blauen Kleid am Frühstückstisch…

Wesenheiten müssen für ihn im Besonderen erscheinen:

Die Menschheit ist konkret in jedem Menschenleib,
abstrakt für Schwärmer und Tyrannen…

Der Lyriker macht mit Bedacht auf Goethes Maxime aufmerksam: „Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit gesondert und verknüpft“, und er ergänzt:

Jede Regung des Menschen findet irgendwo eine Entsprechung – und der Poet verknüpft sie. Im Gedicht singt die Urverwandtschaft der Welt.

Der Dichter geht der Frage nach:

Kann uns das Gleiche nur locken
immer im Anderen? Was ist das für ein Zauber,
daß eins sich nur im andern ertragen kann!

Und er begreift jede Konstellation als Treffpunkt des Weltzusammenhangs:

… Ich sitz im Weltall
auf einer Bank im Rosental…

In Gedichten Maurers, die in solcher Weise dimensioniert und strukturiert sind, dringt das „mythische Element“, wie es auch Franz Fühmann verstand, in die Reflexion des Alltags ein.
Sowohl die Intention, jene Totalität im Gedicht selbst zu modellieren, als auch jene, den Adressaten zum Begehren ganzheitlichen Erlebens zu veranlassen, so daß dieser an eine „Kräftigung der menschlichen Möglichkeiten“ glauben kann, sind in der Lyrik, dessen war sich der Dichter bewußt, nur durch das Pathos zu vermitteln oder (nach Marx) „durch die nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft des Menschen“. Die hohe Sprachgestalt, die klassische Redeweise leicht integrieren kann, ist vor allem jenen Dichtungen eigen, in denen sich der Lyriker der zu beachtenden Zusammenhänge erst einmal vergewissert. Sind Einblicke erworben, Einsichten verinnerlicht, dann überträgt sich die so gewonnene Souveränität auf den Vers – er wird heiter. Auch der Wechsel von strengen, mitunter angestrengten Formen zu kleineren, luftigeren Gebilden ist charakteristisch für Maurers schrittweise Weltaneignung.
Insofern ist Maurers Gedicht schwerlich auf einen Typ festzulegen; zumal im Gesamtwerk ein durchdringender Wandel in den Strukturen zu beobachten ist: vom streng gebauten Zyklus zu beweglichen Gruppierungen, in denen sich auch das Einzelgedicht selbständig behaupten kann; von der zentrierenden, konzentrierten Zusammenziehung der Teile zu ihrer dramatisch intendierten Konfrontation, zum prosanahen Sprechen in den Dichtungen der letzten Jahre. Parallel dazu vollziehen sich Veränderungen in der Bildwelt: werden in den Dichtungen der ersten Nachkriegszeit häufig Szenen, Figuren und Symbole der Bibel aufgerufen, wird in den Zyklen der fünfziger Jahre nicht selten die Vorstellungsart der Antike genutzt, so kombinieren die Dichtungen der sechziger Jahre Bildelemente aus sehr heterogenen Bereichen, weil nicht mehr vorrangig eine Beziehungsqualität gekennzeichnet, sondern deren Wechsel und deren Unbegrenztheit erhellt werden wollten. In jenen Gedichten wirkt eine Sprache, die ohne Gewißheiten, konventionelle Übereinkunft und Normen arbeitend, im „Laufen“ sich bilden will. –
Heutiger Begegnung mit dem Werk Georg Maurers hat die Zeit zugearbeitet, gegenwärtige Dichtung womöglich gegengearbeitet. Maurers Dichtung denkt aus ihrer Zeit über sie hinaus. Man würde dem Werk heute eine ausschließlich pragmatische Aufgabe zusprechen, wenn man es nur unter jener, von Maurer selbst gesehenen Funktion versteht, am „Muster zu einem Weltfrieden“ zu arbeiten. Des Dichters Friedensbegriff ist aber reich an Bezüglichkeiten: Im Begehren und Herstellen ungebrochener, unvermittelter, nicht-reduzierter Weltbeziehungen erkannte Maurer die reale Chance, die bisherige Menschheitsgeschichte mit ihren destruktiven wie konstruktiven Erfahrungen aufzuheben. Aus diesem individuell eigentümlich entwickelten, aber historisch-repräsentativen Bedürfnis des Dichters, die Welt in ihrer Ganzheit anzuschauen und durch solche Anschauung ihre Einheit zu befördern, konnten kurz schlüssige Bezüge und Bedingtheit übersehende Entwürfe hervorgehen; heute könnte manche Zusammenschau als zu schnell erworbenes Einverständnis, zu unbedacht empfundene Harmonie erscheinen. Zeitgenössische Literatur mußte inzwischen stärker die Kämpfe der Gegensätze, das Fortbestehen alter Konstellationen, die Mühsal der Veränderungen betonen. Gegenwärtig aber, da sich auch durch die Literatur „herumgesprochen“ hat, wie schwer, selbst unter den gegebenen, dafür notwendigen gesellschaftlichen Voraussetzungen, Leben sich wirklich in der individuellen Erfahrung ändert, scheint die Dichtung Maurers auf neue Art gebraucht zu werden und wirken zu können. Auf der Suche nach lebbaren Werten könnte uns im Zeichen immer noch erfahrbarer Antinomien die Dichtung Maurers Orientierung geben, zumal die Intention des Dichters und Essayisten, sich mit aller Vergangenheit zusammenzuschließen, einer historischen Ortung der Gegenwart zuträglich sein kann.
Im Kunst-Produkt greift die Dichtung Maurers immer weiter, als ihr der philosophische Begriff vorschreibt. Für die Veröffentlichung der Dichtung „Erfahrene Welt“ ließ er das letzte Gedicht „Ankunft“ mit den Versen schließen:

Schlaf, wie wir ihn verstanden hatten,
so daß man ihn morden könnte, ist nicht mehr in der Welt
.

In einer Rundfunksendung las er:

Schlaf ist nicht mehr in der Welt
wie wir ihn verstanden
so, daß man ihn morden könnte. Die Toten wachen.

Im Manuskript aber können wir lesen:

Schlaf ist nicht mehr in der Welt, wie wir ihn verstanden
so, daß man ihn morden könnte. Die Toten wachen.
Der Wahn löst sich, es könnte je sterben
der Leib und zu sprechen aufhören über begangenen Mord.

Walfried Hartinger, Nachwort, November 1986

 

Auf über tausend Seiten

wird das poetische und essayistische Lebenswerk Georg Maurers in einer umfassenden Auswahl dargeboten. Es ist das Ziel der Herausgeber, den 1907 geborenen Dichter in seinem Werden und Reifen, seinen Widersprüchen und Wandlungen über vier Schaffensjahrzehnte vorzustellen.
Die chronologische Anordnung nach Schaffensphasen, die durch Dichtungen und poetologische Zeugnisse, Briefe und weiterführende Anmerkungen repräsentiert werden, ermöglicht zum ersten Mal den Einblick in die Werkentfaltung.
Einer sparsamen Auswahl aus dem Frühwerk der 20er Jahre folgen Erst- und Nachdrucke aus den 30er und 40er Jahren. die von Maurer autorisierte Dichtungen, im Mitteldeutschen Verlag 1964 bis 1972 in fünf Bänden erschienen, sind aufgenommen worden, ebenfalls die Bände Essay 1 und 2. Die Ausgabe wird vervollständigt durch späte, bisher unveröffentlichte Dichtungen und Schriften. Sie enthält über 70 Texte aus dem Nachlaß, darunter zwei umfangreiche Arbeiten: einen Ausschnitt aus einer größeren Erzählung und den Essay „Die Natur in der Lyrik von Friedrich Hölderlin“…
Das Nachwort gibt Aufschlüsse über den Platz Georg Maurers im literaturgeschichtlichen Prozeß.
Mit seiner poetischen Leistung stellt sich Maurer neben Becher und Brecht. Sein Werk ist von hoher Aktualität. Maurers poetische Gespräche mit der Welt erfassen den Menschen in seinen Widersprüchen und regen an in der heutigen Selbstverständigung.
Sinnenfreude und Leuchtkraft des Gedankens faszinieren in der Bildsprache großer Liebes- und Menschheitsdichtung.

Mitteldeutscher Verlag, Klappentext, 1987

 

 

Beitrag zu diesem Buch:

Erika Rüdenauer: Maurer, Menckestraße 18, 100 Stufen
Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 12/1987 

 

Wo beginnt die Welt, wo ich?

– Im Osten vergessen im Westen nie bekannt: der Lyriker und Essayist Georg Maurer. –

Zu Unrecht in Deutschland-Ost halb vergessen, zu Unrecht in Deutschland-West nie bekannt: der Lyriker und Essayist Georg Maurer, dem der Mitteldeutsche Verlag Halle/Leipzig jetzt eine zwar drucktechnisch scheußliche, aber inhaltlich sorgsam konzipierte Werkauswahl in zwei Bänden widmet. Es gibt kaum einen in den fünfziger Jahren jungen, heute renommierten DDR-Autor, der ihm nicht viel zu danken hätte; nicht zuletzt seit seiner 1955 begonnenen Lehrtätigkeit am Institut für Literatur Johannes R. Becher in Leipzig. Doch bis dahin war es ein weiter Weg.
Der 1907 in Siebenbürgen geborene Lehrersohn bewegte sich zwar früh in der Literatur; doch die ersten lyrischen Versuche bewegten sich gleichsam in geliehenen Schuhen – zwischen Expressionismus-Brocken und Rilke-Pfaden stolperte er umher. „Tat schreit nackt und aufgeworfenen Haars“, schreit er mit Worten, oder es schluchzt:

… Ich aber sank bei jedem neuen Schlag wie ein Gebäude von Karten ein – und alle Himmel brachen zusammen – und ich weinte still in mich.

Rigoros summierte Maurer das in einem Brief des Jahres 1930 selber:

Sie haben deutlich gesehen, was mir noch fehlt, vielleicht das Wesentlichste: nämlich der Mut zu meiner Sprache.

Tatsächlich bleibt er bis weit in die vierziger Jahre im Banne Rilkes, dessen sechzigsten Geburtstag er mit weihevollen Worten feiert:

… daß sein Werk als ein unerhört kostbares Gewand um eine innere religiöse Gestalt geschlagen war.

Auch zu derlei konventionellem Denken und Fühlen gibt es einen lapidaren Selbstkommentar:

Wenn Sie mich fragen: Wie war eine so wenig erfreuliche Entwicklung möglich?, so ist die Antwort einfach: aus Unkenntnis des Marxismus.

Das schrieb er wesentlich später; da hatten Krieg, Kriegsgefangenschaft und der Versuch zum Sozialismus im zweiten Deutschland ihre Spuren gezogen. Das spezifische Merkmal der Veränderung von Georg Maurers Weltgefühl, Weltbild ist: Er war nie Revolutionär gewesen wie Johannes R. Becher, Brecht oder auch Erich Arendt. Bei Maurer vollzog sich eine „angelesene Revolution“ – sie fand im Kopf statt; im Umstülpen tradierten Bildungsguts. Auch hier zeigt die Ablösung von Rilke – dem er nun huldigte, indem er sich ihm entgegensetzte – Maurers Veränderung am klarsten. Schon 1956 beginnt er in einer großen Rede „Zur deutschen Lyrik der Gegenwart“ die Auseinandersetzung. Sie ist noch essayistisch. 1962 erscheint dann das Poem „Das Unsere“: Analyse und Gegenentwurf in einem. In der zweiten der Duineser Elegien heißt es:

… wie Tau von dem Frühlingsgras hebt sich das Unsere von uns, wie die Hitze von einem heißen Gericht…

Als dann die Zeitschrift Neue Deutsche Literatur, weitgehend unbeachtet, Georg Maurers Poem „Das Unsere“ veröffentlichte, sah man nicht auf Anhieb die große Auseinandersetzung, den großen Wurf. Gleich der Beginn seines Gedichts liest sich wie eine Replik auf Tau und Frühgras:

Wo beginnt die Welt, wo ich?
Wer ist aufgelöst in wem?
Aber meine Stimme hör ich. Welche Mischung
von Sinn und Luft?
Wie ist das Wort ein Zusammenprall,
eine Berührung von Brust und Brust?
ein Getöse vergangener Schlacht!
… Fest ist unser Fleisch und zerreißbar,
schwer sind unsere Knochen und leicht zu zerbrechen.
… Unsere Augen sind verzaubert wie bei Liebenden,
die sich gegenseitig nennen: Mein Leben!
Und das ist das Unsere! Und das lassen wir uns nicht nehmen,
nicht vom Unglück und nicht von den Mördern.

Georg Maurers trotziges „Und das ist das Unsere“ – eine hochkomplizierte Synthese aus Liebe und Arbeit – ist sein Bekenntnis zu einem neuen, sozialistischen Deutschland. In dem arbeitet er bis zu seinem Tode, 1971, inzwischen nicht nur hochgeehrt, sondern geliebt als einer der wichtigen Anreger einer jungen Schriftstellergeneration. Ob seine Essays über Picasso, Majakowski und Hölderlin oder seine Dichtung, die Klassik beerbend: Für die jüngere Schriftstellergeneration war er der poeta doctus.

Fritz J. Raddatz, Die Zeit, 19.5.1989

 

Es hatte sich herumgesprochen, daß hier einer wirkte, dem es um die Sache der Lyrik insgesamt ging, um die Mehrung der poetischen Potenz seiner Gesellschaft.

Franz Fühmann

Laudatio auf Georg Maurer1

Diese eine Geste: Er steht von einem Anblick überwältigt ein wenig vornübergeneigt, den Kopf vorgeschoben, den Mund im Ansatz einer Frage langsam auseinanderziehend, die Rechte in Brusthöhe zum Zupacken gekrümmt und das Auge unter den hochgestemmten Brauen so angestrengt in den Gegenstand seines Überraschtseins vertieft, als wolle der Blick ihn frei in den Raum erheben, um ihn von allen Seiten erfassen zu können, und während die Hand mehrmals federnd zum Vorstoßen ansetzt und sogleich, als sei dazu die Zeit noch nicht reif, wieder zurückzuckt, ertönt, ganz kindhaft naiv und im Rhythmus der Handbewegung nach jedem Wort stockend, die Frage: „Was – ist – das?“ Man ist begierig, den Auslöser solchen Verwundertseins zu erblicken, und sucht eine niegeschaute Blüte oder einen verirrten tropischen Schmetterling, doch dann benennt die Frage ihr Objekt, und siehe, da ist es zumeist das Gewöhnlichste, das alltäglich geschaute Ding, das alltäglich gebrauchte Wort:

Was ist das – ein Stein? Was ist das – ein Baum? Was ist das – die Erde? Was ist das – die Kunst? Was ist das – der Mensch?

Es ist die Frage, mit der alles Bewußtsein beginnt, die Frage am Anfang jeder Philosophie und auch jeder Arbeit, die Frage des Staunens und die Frage des staunenden Begreifenwollens und die Frage des staunend-begreifenden Verändernwollens, und als dies alles ist sie bei Georg Maurer auch die Frage, mit der er all seine Dichtung anfängt, ehe sie anhebt, denn dichten heißt nach seinem ästhetischen Credo:

nicht Gefühle über Dinge sagen, sondern die Dinge so
sagen, daß sie gefühlt werden können,

und das verlangt, so fügen wir dem Zitat hinzu, daß die Dinge vorher begriffen werden – was nicht jedes Dichters Sache sein muß –, die Dinge außen und die Dinge innen, die Dinge der Realität und die Bilder der Dinge im Bewußtsein, die wieder  um Realität werden im menschlichen Handeln und als solche gesellschaftliche Realität abermals Bild des individuellen Bewußtseins, das als Wort erneut auf die Wirklichkeit einwirkt, denn, und nun hören wir wieder seine Worte:

Die Welt muß ausgeleuchtet werden, daß der Mensch
in sich gehen lerne, sonst stößt er seine Stirn blutig
an den Felsen, die in ihm sind, und an den rissigen Stämmen.

So lesen wir im Manuskript eines seiner letzten großen Zyklen, dem Hauptstück seines nachgelassenen Bandes „Erfahrene Welt“. Der Schlußstein dieses poeto-philosophischen Lebenswerkes könnte keinen glücklicheren Titel tragen, denn im Begriff der Erfahrung treffen die Grundfragen zusammen, zu denen sich die Vielfalt seines Staunens verallgemeinern läßt:

Was ist das – Welt? Was ist das – Bewußtsein?

Und:

Was ist beider Zusammenhang?

Maurer hat immer wieder seine geistige Entwicklung und das Fortschreiten seiner Poesie als Entwicklung und Fortschreiten seiner Antworten auf diese Fragen darzustellen verstanden, einen mühsam mäanderhaften Anstieg mit solchen Etappen wie: „Die Welt, so sei sie ein Kampfplatz für Tiger und Schlangen!“ – „Die Welt ist das Unsere, und das lassen wir uns nicht mehr nehmen!“ Solche Aussagen klingen unvereinbar, aber sie sind beide erfahrene Welt eines deutschen Dichters unsres Jahrhunderts, und die Artikulation dieses erfahrenen Widerspruchs zweier Menschheitsepochen ist sein Werk, von den Christussonetten bis zum Neuentwurf eines Till Eulenspiegel, und immer stand am Anfang die kindhafte Frage:

Was ist das?

Sie klingt mir mit einer besonderen Tönung im Ohr – es war die Frage, mit der mich Maurer bei unserer letzten Begegnung empfing; er saß mit kompressenumwickelten Beinen auf der Chaise seines Arbeitszimmers, dessen Boden wie immer mit Stapeln aufgeschlagener Bücher, Zeitschriften und Manuskripten übersät war; es hatte sieben Uhr geschlagen, sieben Uhr abends, es war der Beginn seiner Arbeitszeit, ich kam durch die Tür des Eßzimmers, und er versuchte sich zu einer Begrüßung zu erheben und fiel sofort ächzend wieder zurück und saß so, breitbeinig, den linken Unterarm auf beide Knie gestützt, die rechte Hand halb geöffnet in Brusthöhe, und er nickte mir wehmütig zu und sah seine Beine hinab und begann zu mir wie zu ihnen fragend zu reden: „Was ist das, was mich so zugerichtet hat? Was hat mich da angefallen, was hat da zugeschlagen?“, und er redete stockend und murmelnd und raunend zur Antwort weiter, und aus dem Murmeln und Raunen erstand das Bild einer bösen Alten mit einer Krücke, die jedem, der ihren Weg kreuzt, das schwere Holz auf den Schädel schmettert; es war das Bild einer Frau aus dem rumänischen Dorf seiner Jugend und das Bild einer Sprache, darin der Tod weiblich ist wie übrigens auch der Krieg, moartea, kein Sensenmann, eine Hexe, weiß und wie Sonnenglut böse, und mitten auf den Scheitel hinab habe sie geschlagen, murmelte er, doch er habe sich noch einmal schnell weggedreht, da habe ihr Schlag nur seine Hüfte gestreift, das Hüftgelenk, und er sagte: „Wie Jakobs Hüfte“, und er saß da und rieb mit der breiten Hand die taube Stelle und dabei lachte er, stoßweise und stockend, und es war ein dreifaches Lachen, das er da ausstieß, ein grimmiges Lachen über die eigene Hilflosigkeit, ein spöttisch-auftrumpfendes Lachen wider die Alte, der er ein Schnippchen geschlagen, und das Lachen einer geradezu jungenhaften Freude über das gefundene Bild, und er sah auf mich wie einer, der eine Kritik für eine literarische Leistung, auf keinen Fall aber ein Wort des Mitleids erwartet. „Die böse Alte mit der Krücke“, wiederholte er, nach der streng verbotenen Zigarre und dem streng verbotenen Gläschen Kognak angelnd, selbstmörderisch beides, doch was wollte das heißen, da der Tod in eine Gestalt gebannt und also im Bild bewältigt war.
Die poetische Gestalt, das war die schließliche Antwort auf die kindhafte Frage, und die poetische Gestalt des Abstrakten, der sinnenhaft gewordene Begriff, die zur Anschaulichkeit gebrachte philosophische Kategorie war die Quintessenz seines lyrischen wie der stete Gegenstand seines essayistischen Mühens. Maurer war der Ansicht, daß ein Begriff nie erschöpfend definiert, wohl aber gültig in einer Gestalt gefaßt werden könne, und die Genauigkeit dieser Gestalt war für ihn der Maßstab für die Größe der Kunst. Ich vergesse nie, wie wir einmal durch die Leipziger Galerie flanierten und er ein Seestück Caspar David Friedrichs im Selbstgespräch mit anderen Leinwänden im Saal verglich; er stand lange vor den ins Fahlblau und Orange des Abendhimmels entgleitenden Seglern und zog schließlich murmelnd das Fazit, Friedrich sei von allen ringsum der Größte, weil er der Genaueste sei. Zwar begann er, wie es seine Art war, diese Formulierungen dann wieder als zu apodiktisch und allzu eng in Frage zu stellen; schließlich schien er sie doch zu akzeptieren, und auf jeden Fall war Genauigkeit des Ausdrucks die Elle, mit der er die eigenen Zeilen und die seiner Schüler bis zur Erschöpfung erbarmungslos maß. Ich entsinne mich eines Seminars, ich glaube in Wiepersdorf, wo er, um eine von uns allen als recht belanglos empfundene stumpfe Floskel in der Arbeit eines Schülers zu schärfen, das im Nebenzimmer schon aufgetragene Abendessen kalt werden ließ, was uns damals alle sehr bange machte, denn wir schrieben das Jahr vierundfünfzig, und es gab Wellfleisch mit Sauerkraut. Die Kartoffeln dampften, das Sauerkraut strahlte Kümmel und Thymian aus, und Maurer hielt den Bogen Papier in der Hand und murrte, die Aussage sei ungenau, und auf den verzweifelten Einwand eines Hungrigen, man wisse doch, wie es gemeint sei, murmelte er ehrlich verwundert und ehrlich verlegen, er wisse es nicht, der Textsatz solle, das sei doch seine Funktion, genau auf einen Drehpunkt des Gedankens zeigen, aber hier schlage er wie eine Fliegenklatsche zu und haue nur den Putz von der Wand. Es war, wie gesagt, eine von uns allen als belanglos empfundene Stelle, belangloser jedenfalls als Wellfleisch mit Sauerkraut im Jahr vierundfünfzig, allein wenn es um Sprachpräzision ging, kannte er keine Graduierung, und wenn es um einen seiner Schüler ging, hat er so oft mehr als nur das eigene Magenknurren überhört.
Denn Maurer war Lehrer aus Leidenschaft. Es war nicht seine Professur, die ihn dazu machte; sie weitete seinen Wirkungskreis, das gewiß, aber hier handelt es sich um den seltenen Glücksfall, daß eine vom Leben geschaffene Position ihre nachträgliche Institutionalisierung fand. Hier war einer schon das, wozu er ernannt wurde: Lehrer, und er brachte das mit, was kein Amt geben kann: Vertrauen stiftende Autorität. Die Schüler liefen ihm zu: Es hatte sich herumgesprochen, daß hier einer wirkte, dem es um die Sache der Lyrik insgesamt ging, um die Mehrung der poetischen Potenz seiner Gesellschaft, auch hier um das Unsre und nicht bloß das Seine. Er nahm die eigenen Worte ernst:

Tausend Gefährdungen helfen einander
wie neigende Bögen
die sich gegenseitig stützen.
Und die Wölbungen tragen.

Im Lehren von Poesie sah er die Vollendung des Schaffens von Poesie. Darum lehrte er auch kein abstraktes System, keine Kathederästhetik, er lehrte begriffene Praxis von Homer bis Brecht. Wenn je ein Seminar die Bezeichnung „schöpferisch“ verdient hat, so war es das seine. Er hatte seine Theorie nicht in der Kladde parat, er lehrte das jeweils Notwendige, und das war immer wieder zu konkretisieren nach Maßgabe des Tags wie des Hörerkreises. Dem Teil meiner Generation, der, wie ich, bildungs- und maßstabslos ganz aus dem Rohen einer heute schon unvorstellbaren faschistischen Verwilderung kam, uns gab er das Bewußtsein, ohne den Anschluß ans Erbe und dessen Maßstäbe, ohne Kommunikation mit der Weltkunst, ohne Kenntnis der literaturmethodischen Fragestellungen und Antwortversuche nichts oder nur sehr Mangelhaftes leisten zu können – er tat das natürlich nicht allein, aber er tat es doch, glaube ich, mit einer besonderen Hartnäckigkeit, Geduld und Intensität, jedenfalls wirkten seine großen Reden, in denen er das Gedicht unsrer Tage in den lyrischen Weltzusammenhang stellte, auf uns wie Offenbarungen. Die nächste Generation wieder lehrte er vor allem das Finden der eigenen Sprache, das Verschmähen von vorgegebenen Attributen und Tropen, das Überwinden des Traditionellen da, wo es Fessel wurde, und seine Verwerfung, wo es von Anfang nichts als Fessel war. Immer aber, ob zum Jahrgang zwanzig oder zum Jahrgang vierzig gewandt, forderte er vom Schüler die eigene Bewältigung der Welt durch die eigene Antwort auf die eigene Frage des eignen Beginnens: „Was – ist – das?“ Er lehrte die Frage, aber keine Formel der Antwort; er zeigte Muster und keine Schemas; er war ein Lehrer, der keine Schule begründen wollte, sondern das Beispiel seiner Art gab, auf daß der Schüler die eigne entwickle. Was er lehrte, waren Grundhaltungen, die für ihn zu einem Dichter heute und hier gehörten: Traditionsbewußtsein, Staatsbürgergefühl, Verantwortlichkeit, Präzision des Gedankens und Ausdrucks, Ehrfurcht vor geistiger Leistung und stete Mehrung des Wissens.
Die intensive Auseinandersetzung mit Shakespeare, der deutschen Klassik, Hegel und Marx sah er als unabdingbar für jedes geistige Fortschreiten an, aber er forderte sie nicht als Voraussetzung eines Anfangs, der mochte erst einmal auftrumpfend und lärmend ein lyrisches Ich in die Welt brüllen, und wenn es ein Ich war, das der Welt nicht auswich, nahm er auch Derbes und Obszönes in Kauf. „Weltverlust“, so rief er seinen Hörern zu, „Weltverlust zieht immer Ich-Verlust nach sich. Darum ist mir das großgeschriebene Ich der jüngsten Lyrik, das sich nicht durch Phrasen und Losungen sichert, sondern ziemlich splitternackt auftritt, zunächst lieb. Denn ich bin sicher, daß dieser Ich-Gewinn Weltgewinn nach sich ziehen wird!“ Und weiter:

Kraftausdrücke in der jungen Lyrik stören mich nicht. Es hat sich oft genug gezeigt in der Literatur- und Kunstgeschichte, daß nach einem Überangebot an Kraftaus  drücken bei den Talentierten die wirkliche Kraft sich einstellt, besser noch herausstellt, die des Kraftworts nicht mehr bedarf, mit dem sie sich ankündigt.

Hier sprach, ich bitte das zu bedenken, einer überhaupt nicht in eigener Sache, denn Maurer selbst formulierte immer mit wacher Scham und gerade in erotischen Passagen zurückhaltend, ja mitunter schüchtern. Doch er zwang seine Mittel Andern nicht auf; er riet zum richtigen Wort am richtigen Platz, und dies Wort war aus dem gesamten Sprachschatz zu wählen, nicht nur aus einem ausgewählten, als „rein“ oder „sauber“, eben als „gewählt“ etikettierten Bereich. Ich möchte daher auch in seinem Sinn zur Überlegung anregen, ob das Statut unseres F.-C.-Weiskopf-Preises wirklich seiner Sache gerecht wird, wenn es von „besonderen Verdiensten um die Reinerhaltung und schöpferische Weiterentwicklung der deutschen Sprache“ spricht. Je länger ich über diese Formulierung grüble, um so fragwürdiger wird sie mir. Man müßte erörtern, ob es tatsächlich im Vermögen eines einzelnen oder eines Kollektivs liegt, Sprache nicht nur in ihren Möglichkeiten auszuschöpfen, sondern sie weiterzuentwickeln, also über Goethes Pandora, über den Hyperion, das Abendlied des Matthias Claudius, die Feuerbachthesen, den Josephsroman und das Lied von den Kranichen hinaus. Dazu hat schon Karl Kraus sein grimmiges Wort geknurrt:

Die Herren Dichter brauche eine bessere Sprache? Ich werd ihnen was malen; besser dichten sollen sie, dann wird’s schon gehen!

Der, dem heute unser Preis verliehen wird, hat eben besser gedichtet als manche ringsum, aber er hat doch nicht Sprache weiterentwickelt, er hat gesprochen, in exemplarischer Weise gesprochen, und was den einer Definition dringend bedürftigen Begriff der Reinerhaltung anlangt, so war ihm Sprache ein Werkzeug, dessen beste Pflege das Brauchen ist. Dies Wort freilich ist doppeldeutig, und sein aktiver Sinn hängt von den Anforderungen ab, die eine Gesellschaft ans Denken ihrer Bürger stellt. Wie die Sprache gebraucht wird, so wird sie gebraucht werden; die Notwendigkeit, präzis und differenzierend zu denken, er  zwingt auch einen präzisen und differenzierenden Ausdruck, und wenn sich der Gedanke ehrlich und mutig den Fragen seiner Zeit stellt, wird das Resultat seines Mühens auch sprachästhetisch befriedigen.
Denn dies können wir alle, jung wie alt, von Maurer lernen: das geistige Bewältigen der drängenden Fragen der Zeit. Seine großen Zyklen wie „Erfahrene Welt“, „Dichter und Materie“, „Selbstbildnis“,  „Das Unsere“, „Schönheit“, „Aggression“, „Zweiundvierzig Sonette“, und vor allem „Das Bewußtsein“, aber auch viele seiner kleinen lyrischen Gebilde, dieser bald vogelhaft leichten, bald vogelhaft tapsenden Kalendergedichte sind ja eminent aktuelle Antwortversuche auf Kardinalprobleme des Heute und Hier. Mit seinem Wagnis, die materielle Wirkung immaterieller Gewalten wie eben die des Bewußtseins, und dabei wieder solche spröden Kategorien wie „richtiges“, „falsches“, „gestörtes“, „gestocktes Bewußtsein“, sinnenhaft faßbar zu machen, hat Maurer einen neuen Zug in die sozialistische Lyrik gebracht, und wenn er von seinem Leib als von Jakobs Hüfte sprach, so war der Engel, mit dem er bis zu seinem Tod gerungen, eben die poetische Fassung des Begriffs. In diesem so eiskalt und antilyrisch klingenden Denkabstraktum sah er einen, ja geradezu den Hebel, die Lyrik dieser Jahrzehnte aus festgeblockten Stellungen herauszubringen. In seiner Becher-Rede hier in diesem Akademiesaal hat er sein Zutrauen zur Leistungsfähigkeit dieses Instruments bewußt und mit ernstem Respekt als Gegenposition zum berühmten Lord-Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthals gesetzt, und die letzten Sätze aus seiner Hand, bleistiftgekritzelte Randnotizen zum Entwurf des „Till Eulenspiegel“, lauten:

Ich schrieb dies Gedicht aus dem seit Jahren in mir wachsenden Unbehagen gegen das Wort ,Geist‘. In der üblichen Vorstellung ist dieser Begriff für mich nicht mehr greifbar/faßbar. Wird ihn die Dynamik faßbarer/greifbarer machen?

Maurer hielt sich an das Marxwort, daß erst die begriffene Welt die Wirklichkeit sei, und er hielt weiter mit Marx nicht die bloße Anschauung, sondern erst ihre Bestätigung durch die auf Veränderung zielende Praxis für das Wesen sinnlichen Begreifens. Von hier aus kam er zu der ihm eigentümlichen komplexen Antwort auf seine Frage:

Was ist das?

Die naturwissenschaftliche Definition konnte hier nicht genügen, und ein bloßer Gefühlsausdruck ebensowenig. In jedem Ding steckte seiner Meinung nach menschliche Substanz, inkarnierte Arbeit, und im Sichtbarmachen eben dieses Wesenskerns sah er die große Chance sozialistischer Lyrik. Ein Baum war ihm nicht nur ein botanisch definierbares Wesen von Wurzeln, Stamm, Ästen, Krone, Laub, Früchten, und nicht nur eine Wolke aus Duft und Blütenschaum, über die man jauchzt; im Netzwerk jedes Blatts sah er auch die erschöpften Muskeln des Gärtners, und ein Baum war auch jenes Ding, dessen Verwurzeltsein in der Erde zu zeigen der bettelarme Teufel van Gogh Farbtuben um Farbtuben verschwenden mußte und dessen Stürzen zu schildern Rilke die Melancholie verzögerter Daktylen brauchte. Dieses Bemühen um menschliche Bezogenheit führte zu seiner oft parodierten und ja auch leicht parodierbaren Methode, Naturlandschaften durch Literaturlandschaften auszudrücken, Menschen unserer Umwelt durch Geschöpfe Dantes, Shakespeares, Rembrandts, der Märchen, der Bibel, die ja insgesamt wieder Gestaltungen objektiver Wirklichkeit, und Maurer hätte vielleicht gesagt: die genauer als die Wirklichkeit sind. Das ist gewiß kompliziert und mitunter auch mühsam, doch es handelt sich ja auch um eine komplizierte Materie, um nichts Geringeres als um Ansätze zu einer lyrischen Phänomenologie des Bewußtseins, zu einer lyrischen Bewältigung des Denkens von Kant über Hegel und Marx bis hin, so will es mir scheinen, zu einer großangelegten Auseinandersetzung mit Nietzsche, eine Auseinandersetzung, die sich auch in der Landschaft des Zarathustra, im eisigen Hochgebirge, abspielt. Solche Gedichte sind notwendig schwierig, und ihr Schöpfer hat für ihre Eigenart den Namen „lyrisches Essay“ ins Spiel gebracht, eine glückliche Beziehung, die auch der eigentümlichen Schönheit dieser Gedichte, ihrer Form als Form einer Gedankenführung nämlich, gerecht werden kann. Diese lyrische Philosophie bedarf mehrfachen Lesens, manchmal sogar eines Kommentars, aber sie ist nie unverständlich, und Maurer hat sich gegen einen solchen Vorwurf leidenschaftlich, ja erregt gewehrt. Mit Recht, denn die geistige Bewegung geschieht bei ihm nicht, wie oft in der Moderne, vor allem der mäßig begabten, von einem unkontrollierbaren Innen über ein unbegreifliches Außen wieder in die esoterische Hermetik eines Innen hinein, sondern von einer zu begreifenden Umwelt mit Hilfe begriffener Vorwelt zu einer begreifbar gemachten Umwelt, zur Welt für uns, zur wirklichen Welt, zum Unseren.
Der Dichter kann den Preis nicht mehr entgegennehmen; das Kuratorium legt ihn in die Hände von Eva Maurer, der guten, getreuen Gefährtin seines schwierigen Lebens wie seiner schwierigen Arbeit. Die Spanne an Lebenszeit, die ihr aufopferndes Sorgen diesem Wüstling an Arbeit und Selbstverschwendung von der gnadenlosen Natur noch ertrotzt hat, ist nicht meßbar, aber sie ist lebendig in jeder Zeile des Werks, das unser Besitz geworden ist. Und daß in diesem Augenblick auch Georg bei uns sei, möchte ich mit seinen Worten schließen, mit denen er sich unter den Augen der Nachwelt sieht:

An einem runden Tisch schreib’ ich dies auf
in einer den Musen bitteren Stadt Leipzig
und sage: Mein Urenkel wird sagen:
„Das schrieb mein Ahn in einer den Musen bittern Stadt auf.“
Und mein Urenkel sagt: „Das schrieb mein Ahn auf
in einer den Musen bittern Stadt Leipzig“,
und wird sich den runden Tisch vorstellen im Bilde,
wie ich verschwommen mit klopfendem Gewissen mir vorstelle den Enkel.
Also gehen die Bilder durcheinander
und kreuzen sich in den Zeiten.

Franz Fühmann, Sinn und Form, Heft 4, 1972

 

 

DER UNSERE
(……….)

Ohne Last, war er voraus
über dem Gewimmel, unfähig
zu den kleinen Schritten der Stunde
ungeduldig für einen Tag aus Teig
Für die stur rollenden Steine
unruhig. Dort wo die Lasten abfalln
Zum Damm auf, steht er, wo es klappt
Und sagt: hier ist es
Wofür alles geschieht!
Den treibt’s aus dem Tag fort
ungeduldig, den heiteren Fremdling
Der ist einer von uns.

Volker Braun

 

FRÖHLICHE TRAUER
(Für Georg Maurer)

Er ist tot, der voll Leben war, er ist tot
Und mein Fleisch blüht und brennt unter der Haut.

Er liegt, der Koloß, wie ers beschrieb, im Sarg
Und meine Glieder strecken sich in diese Küste aus
Mit Schulterblättern und Sohlen, in die Küste voll Atemzügen.

Er sinkt hinweg, und wirklich, es ist nur ein Schnitt
In dem beharrlichen Film, und mein Leib ist heil und gefüllt
Gefüllt mit Gedächtnis, abgründig, mit seinem Gedröhn.

Nichts bleibt mehr von ihm zu finden, es sei denn in uns
Und mein Gaumen springt von möglichen Worten
Und Aberworten, in meinem Schädel, und losgelassenen Sätzen.

Ich sitz, steh, lauf, lieg besessen wie ein üblicher Mensch
Und an seiner Wand der Schatten: auch das bin nur ich
Und der Schatten am Boden: auch das bin nur ich und sonst keiner.

Er ist fort, der alles offen ließ, und sein Lächeln gelöscht
Und meine Brust schreit vor Schmerz
Und lacht, lacht über die Schnitte der Welt.

Volker Braun

 

APHRODITE UND DER KLEMPNER
Nach Georg Maurer

In meiner Badewanne weißem Marmor
entspringt das Meer. O Griechenland!
Die Quelle tönt, als gurgle Aphrodite
am Rand der Karies, während, ach,
der Klempner sich nach Warnemünde träumt.

Er liegt auf einem Regenbogen schwarz-rot-gold,
bis Aphrodite ihm, die Göttliche,
den Traum beschneidet mit der Kneifzange.
Da stürzt der Klempner, stürzt und löst sich auf
wie Badesalz in der antiken Strömung.

Kurt Bartsch

 

 

Hermann Kähler: „Aber unter den Menschen ist nichts gewaltiger als die Sehnsucht“
Sinn und Form, Heft 5, 1967

Zum 50. Geburtstag des Autors:

Franz Fühmann: Lob des Menschen
National-Zeitung“, 12.3.1957

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Rainer Kirsch: Georg Maurer zum 60. Geburtstag

Martin Reso: Sein Thema: Der Mensch
Berliner Zeitung, 10.3.1967

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Heinz Czechowski: Maurers Selbstbildnisse
Sinn und Form, Heft 4, Juli/August 1977

Uwe Berger: Er erhob den Alltag zur Poesie
Neues Deutschland, 12.3.1977

Horst Haase: … daß nichts verlorengeht
Sonntag“, Nr. 11, 1977

Zum 71. Geburtstag des Autors:

Rulo Melchert: Unverbesserlich in seinem Glauben an das Bessere
Junge Welt, 11.3.1978

Hanna-Heide Kraze: Der Dichter ohne Schreibtisch
Der Morgen, 15./16.4.1978

Zum 10. Todestag des Autors:

Hans Brauneis: Im poetischen Torbogen
Der Morgen, 4.8.1981

Das Buch des Lebens weiterführen
Sonntag, Nr. 31, 1981

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Dietmar Felden: Die Perspektive sind wir selbst
National-Zeitung, 11.3.1982

Klaus Hennig: Wirkliche Welt
Berliner Zeitung, 11.3.1982

Zum 15. Todestag des Autors:

Sabine Karradt: Poesie auch im Alltag
Der Morgen, 2./3.8.1986

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Ingrid Hähnel: Lob der Poesie
Wochenpost, Nr. 9/1987

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Heinz Czechowski: „Was bleibt?“
Sinn und Form, Heft 2, März/April 1992

Zum 110. Geburtstag des Autors:

Franka Köpp: Arbeit – die große Selbstbegegnung
junge Welt, 11.3.2017

Zum 50. Todestag des Autors:

Michael Mäde: Wider den Nebel des Vergessens
junge Welt, 5.8.2021

Nachrufe auf Georg Maurer:

Horst Buder: Seine Verse galten dem Leben
Neue Zeit, 8.8.1971

Heinz Czechowski: Georg Maurer
Sonntag, Nr. 33, 1971

Jürgen Engler: Welt und Mensch
ich schreibe, 1/1971

Karl Mickel: Georg Maurer / Karl Mickel und Sarah Kirsch
Weltbühne, 33/1971

Fritz J. Raddatz: Liebe und Arbeit oder Das große Weltanschauungsgedicht
Süddeutsche Zeitung, 19.8.1971

Erhard Scherner: Dichtung mit Zukunft
Berliner Zeitung, 6.8.1971

Max Walter Schulz: Dichter und Lehrer des Wirklichen
Neues Deutschland, 6.8.1971

Wieland Herzfelde: Worte des Gedenkens für Georg Maurer
Sinn und Form, Heft 1, 1972

Fakten und Vermutungen zum Autor + Kalliope + KLG
Porträtgalerie: deutsche FOTOTHEK

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